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Pandemie Spezial
Impfen, impfen, impfen
Warum Omikron keine Überraschung und die Booster-Impfung dringend geboten ist
Die gute Nachricht ist, dass Wissenschaftler weltweit sehr aufmerksam die Infektionen mit SARS-CoV-2 beobachten und in ausreichendem Maße auch exemplarisch das Genom einzelner Virusisolate sequenzieren. Natürlich ist gerade bei RNA-Viren zu erwarten und auch zu beobachten, dass Mutationen im Genom auftreten – das liegt in der Natur der Sache: Für die Replikation ihres Genoms benötigen RNA-Viren ein spezielles Enzym, das in ihren Wirtszellen nicht vorkommt. Dieses Enzym arbeitet nur bedingt sorgfältig. Von HI- und Influenza-Viren kennt man seit Langem die sehr fehlerhaft arbeitende Reverse Transkriptase beziehungsweise RNA-abhängige RNA-Polymerase.
In den frühen Analysen des frisch aufgetretenen SARS-CoV-2 im Jahr 2020 wurde postuliert, dass das Coronavirus nur halb so häufig mutiert wie Influenzaviren und im Vergleich zu HIV sogar nur ein Viertel der Mutationsfrequenz zeigt. Aber: Je mehr Infektionen auftreten und je mehr Replikationszyklen in einem Infizierten möglich sind, desto mehr Gelegenheiten bieten sich auch für ein relativ mutationsfaules Virus, sich zu verändern.
Die Vielzahl der Mutationen
Natürlich erfolgen diese Mutationen nicht zielgerichtet, um beispielsweise das Spike-Protein an einer bestimmten Stelle so zu verändern, dass es noch besser an ACE2 binden kann. Vielmehr passieren die Fehler ganz zufällig, und nur diejenigen Veränderungen werden sichtbar und setzen sich durch, die einen Vorteil im Infektionsgeschehen bringen, sei es durch eine verbesserte Übertragbarkeit oder einen besseren Schutz vor dem Immunsystem des Wirtsorganismus. Mittlerweile kann man sich auf diversen Internetseiten einen Überblick über die verschiedenen bereits identifizierten Varianten verschaffen, beispielsweise auf https://nextstrain.org, https://covariants.org, https://covdb.stanford.edu etc. Wer bis dahin noch geglaubt hat, es handele sich um „das eine“ SARS-CoV-2, wird sehr schnell eines Besseren belehrt. Vielmehr wundert man sich, dass so viele Varianten schon nicht mehr vorhanden sind und sich nicht weltweit durchsetzen konnten.
Die schockierende Omikron-Variante
Wahrscheinlich wollten etliche Wissenschaftler ihren Augen nicht trauen, als sie die Sequenz dieses neuen Virus-Isolats aus Südafrika mit den bisher bekannten RNA-Genomen verglichen: Es waren derart viele Mutationen vorhanden, dass diese Variante kein direkter Nachfahre von einem bis dahin bekannten Virus sein konnte. Deshalb wird mittlerweile wild spekuliert, ob vielleicht erneut eine Übertragung von einem Tier stattgefunden hat oder aber ein immunsupprimierter HIV-positiver Mensch als „Brutstätte“ für diese Virus-Variante diente. Letztlich ist es aber nur bedingt wichtig, woher das Virus stammt. Das hilft vielleicht, zukünftig irgendwie derartige Virus-Übertragungen zu vermeiden.
Viel wichtiger ist vielmehr, was das neue Omikron-Virus kann. Und da schockieren die insgesamt mehr als 50 Mutationen und vor allem die 32 Mutationen im Spike-Protein, von denen einige bereits von anderen Virus-Varianten bekannt sind. Etliche dieser Mutationen betreffen auch die Rezeptorbindestelle, so dass sich dadurch die Übertragbarkeit und Vermehrungsfähigkeit verändern kann.
Aus diesen Beobachtungen und den Vergleichen mit bisherigen Virus-Varianten stufte die WHO Omikron berechtigterweise als „Variant of Concern“ ein. Das bedeutet, dass zum einen alle Genomsequenzen und weitere Metadaten zu diesem Virus an eine öffentlich verfügbare Datenbank wie z. B. GISAID übermittelt werden, eine weltweite Wissenschaftsinitiative, die freien Zugang zu Genomdaten von Influenza- und SARS-CoV-2-Viren fördert. Außerdem müssen erste Infektionsfälle und Clusterausbrüche aus den Ländern an die WHO gemeldet werden, und es werden überall – soweit möglich – Beobachtungsstudien und Laborexperimente durchgeführt, um die Auswirkungen der neuen Variante auf das epidemiologische Geschehen zu erforschen.
Die WHO ist also in höchster Alarmbereitschaft ob der neuen Virus-Variante, die möglicherweise die COVID-19-Pandemie in eine neue dramatische Runde treibt. Und natürlich sind wir alle etwas beunruhigt, wie es mit Omikron weitergeht.
Wie gut ist unser Impfschutz gegen Omikron?
Die Fakten zu den Mutationen der neuen Virus-Variante sind mittlerweile bekannt. Noch wenig ist allerdings darüber bekannt, wie sehr Omikron überhandnehmen wird, wie schlimm die Krankheitsverläufe sein werden und wie gut die Impfung schützen wird. Auf all diese Fragen werden die kommenden Untersuchungen versuchen, Antworten zu geben. Ob diese Antworten allerdings einheitlich und beruhigend sein werden, ist fraglich.
Fakt ist auf jeden Fall, dass sich das Omikron-Spike-Protein von den Spike-Proteinen der bisherigen Virus-Varianten und Impfstoffe unterscheidet – egal, ob mRNA-, DNA- oder Protein-Vakzine. Das heißt, dass Antikörper, die infolge einer Infektion oder Impfung gegen das Spike-Protein gebildet wurden, wahrscheinlich nicht mehr so gut binden und das Omikron-Virus eventuell nicht mehr neutralisieren. Allerdings bilden wir immer einen ganzen Pool von unterschiedlichen Antikörpern, die an verschiedenen Stellen des Spike-Proteins binden, so dass immer die Möglichkeit besteht, dass Antikörper dabei sind, die sogar Omikron abwehren. Wie gut die Neutralisierung durch das Antikörper-Repertoire von Genesenen oder Geimpften wirklich ist, muss natürlich experimentell ermittelt werden. Erste In-vitro-Ergebnisse sind bereits verfügbar und deuten leider darauf hin, dass die Neutralisationskapazität deutlich reduziert ist. Hier kursieren Zahlen aus verschiedenen Quellen, dass die Neutralisationskapazität im Vergleich zu Delta um das bis zu 37-Fache oder bis zu 40-Fache reduziert ist. Biontech/Pfizer selbst geben eine Reduktion um mehr als das 25-Fache an. Das klingt alles dramatisch, ist es natürlich auch, war aber bei einem derart umfangreich mutierten Virus mehr oder weniger zu erwarten.
Durch die Booster-Impfung wird die Bildung noch weiterer Antikörper angeregt, die das Repertoire noch mal erweitern. Zwar ist es beunruhigend, dass die Rezeptorbindestelle bei Omikron ebenfalls mutiert ist, allerdings scheint das Virus nach wie vor über ACE2 in die Zelle einzudringen. Also kann die Oberfläche der Rezeptorbindestelle im Spike-Protein nicht so dramatisch mutiert sein, dass nicht der ein oder andere neutralisierende Antikörper, der quasi ACE2 als Bindepartner imitiert, nicht doch noch funktionieren würde.
Fazit: Wahrscheinlich sind wir Geimpfte oder Genesene gegen Omikron also deutlich schlechter geschützt als gegen die bisherigen Virus-Varianten, aber wir sind nicht völlig schutzlos. Die interindividuellen Unterschiede können jedoch recht groß sein.
Was die Booster-Impfung bringt
Werden wir geimpft, bilden B-Zellen spezifische Antikörper gegen das applizierte Antigen. Zunächst haben diese Antikörper eine geringe Affinität, die sich bei einer zweiten Impfung jedoch im Rahmen der sogenannten Affinitätsreifung deutlich steigern lässt. Dafür wird die erneute Impfung nach wenigen Wochen appliziert. Ziel ist, dass von den B-Zellen, die nun derartig effiziente Antikörper produzieren, auch Gedächtniszellen gebildet werden, die bei einer realen Infektion reaktiviert werden können.
Nach der Impfung verschwinden – wie auch nach einer Infektion – allmählich die Antikörper aus unserer Zirkulation. Schließlich brauchen wir nicht ständig hohe Titer, wenn die akute Abwehrsituation vorbei ist. Wahrscheinlich wären wir überrascht darüber, wie wenig Antikörper wir beispielsweise gegen das Tetanus-Toxoid in unserem Blut haben.
Durch eine weitere, dritte Impfung bzw. Antigenexposition können einerseits die Gedächtniszellen reaktiviert werden, zum anderen werden noch weitere B-Zellen mobilisiert, die bis dahin noch nicht stimuliert wurden, so dass sich das Repertoire an Antikörpern verbreitert. Wichtig ist, dass bei dieser erneuten Antigenexposition nicht mehr viele Antikörper zirkulieren: Sie würden direkt das Antigen abfangen, das dann nicht mehr zur B-Zell-Stimulation zur Verfügung stünde. Es ist also sinnvoll, ein paar Monate zwischen den Impfungen verstreichen zu lassen. Das wird beispielsweise durch das Immunisierungsschema der Kinderimpfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis und Co. realisiert. Wie viele Monate das bei der COVID-19-Vakzinierung optimalerweise sind, hängt von vielen immunologischen Faktoren ab, vor allem dem Alter und der Immunseneszenz. In einer Pandemie-Lage müssen aber auch noch andere Faktoren, wie Impfstoffverfügbarkeit und Impflogistik, berücksichtigt werden.
Bei der intramuskulären Antigenapplikation werden überwiegend IgG-Moleküle als Antikörper gebildet, die im Körper patrouillieren. Die Primärinfektion mir SARS-CoV-2 findet an den Schleimhäuten im Nasen-/Rachenraum statt, wo vor allem IgA-Moleküle zur Abwehr eingesetzt werden. Diese Antikörper werden aber nur in geringem Maße und auch nur für kurze Zeit bei der intramuskulären Impfung induziert, weshalb sich auch Geimpfte infizieren können und dann Viruspartikel im Nasenbereich zu finden sind. Wie stark sich die Viren dort vermehren können, ist interindividuell sehr unterschiedlich und kann den Organismus auch unterschiedlich stark belasten. Durch die IgG-Moleküle sind jedoch systemische Infektionen und schwere Erkrankungen eher selten.
Monoklonale Antikörper wirkungslos?
Anders kann es allerdings mit den inzwischen zur Therapie zugelassenen monoklonalen Antikörpern aussehen. Hier handelt es sich tatsächlich um Moleküle, die alle ein einziges Epitop des Spike-Proteins binden. Ist just dieser Bereich massiv von den Mutationen bei Omikron betroffen, ist der spezielle monoklonale Antikörper wirkungslos. Genau das scheint jetzt bei den beiden Wirkstoffen Casirivimab und Imdevimab (Ronapreve®) der Fall zu sein.
Hoffnungsträger T-Zellen
Völlig außen vor bleiben bei der Betrachtung des Immunschutzes meistens die T-Zellen. Es ist auch deutlich schwieriger, beispielsweise bei einem Impfling zu untersuchen, wie gut eigentlich die T-Zellen auf die Vakzinierung angesprochen haben. Gerade bei SARS-CoV-2 weiß man aber, dass die T-Zellen und vor allem die zytotoxischen T-Zellen eine wichtige Rolle in der Immunabwehr spielen. Und man geht zudem davon aus, dass die Immunantwort der T-Zellen etwas toleranter gegenüber Mutationen des Pathogens ist. Eine In-silico-Studie, die also rein auf bioinformatischen Berechnungen basiert, hat ergeben, dass die Mutationen in der Omikron-Variante etwa 30% aller B- und auch T-Zell-Epitope betreffen. Bei Delta liegen die Werte bei circa 10% – alles im Vergleich zur ursprünglichen Wildtyp-Variante. Für das Immunsystem stehen also – zumindest in der Theorie – weniger, aber immer noch relativ viele Aminosäure-Erkennungssequenzen für T-Zell- und B-Zell-Rezeptoren (Antikörper) bereit. Man muss also nicht gleich in Panik vor der aufziehenden Omikron-Pandemie verfallen, auch wenn manche Journalistinnen und Journalisten bereits dramatische Szenarien heraufbeschwören.
Wie schlimm wird die Omikron-Pandemie?
Die eine Sache ist, zu schauen, welche Mutationen in einem Virus vorkommen und wie sich im Labor Infektionen einer Zellkultur beispielsweise durch Blutplasma verhindern lassen. Die andere Sache ist, die Infektionen in der Bevölkerung zu beobachten: Wer erkrankt eigentlich wie schwer nach einer Infektion mit Omikron?
Bisher wurden – vor allem aus Südafrika – relativ milde Krankheitsverläufe berichtet. Allerdings kann man aus den dortigen Beobachtungen nicht unmittelbar auf die zukünftige Situation in Deutschland schließen, da in Südafrika in den allermeisten Fällen Omikron die Zweit- oder vielleicht sogar Drittinfektion ist. Das macht immunologisch einen riesigen Unterschied: Hatte man schon einmal Kontakt mit SARS-CoV-2, gibt es natürlich einen gewissen Grundschutz. Trifft das Virus auf immunologisch völlig naive Personen, können sich die Krankheitsverläufe ganz anders darstellen. Das betrifft dann zum Beispiel kleine Kinder, aber auch ungeimpfte Erwachsene (Stichwort: Impflücke!). Wie dramatisch sich so etwas entwickeln kann, sieht man derzeit in Deutschland beim respiratorischen Synzytialvirus (RSV).
Man muss jetzt natürlich sehr sorgfältig registrieren, mit welcher Coronavirus-Variante Patienten im Krankenhaus und auf Intensivstationen landen und wie sich die weltweite Ausbreitung entwickelt. Klar ist auf jeden Fall, dass Omikron schon in verschiedenen Ländern eingetroffen ist und sich dort bereits munter ausbreitet. In Südafrika und Großbritannien verdoppelt sich derzeit die Zahl der Omikron-Neuinfektionen alle drei Tage. Damit scheint Omikron die bisher ansteckendste Virus-Variante zu sein. Bald werden wir wahrscheinlich belastbarere Daten erhalten, wie schlimm die Erkrankungen in welchen Altersstufen verlaufen werden – bis dahin bleibt alles mehr oder weniger spekulativ. Mit Booster-Impfung, Maske und Abstand sind wir auch vor Omikron und allen weiteren Varianten geschützt – einen besseren Schutz haben wir derzeit nicht.
Brauchen wir einen neuen Impfstoff?
Eigentlich könnten die zugelassenen Impfstoffe relativ schnell an die neue Virus-Variante angepasst werden. Dadurch stünde für einen weiteren Boost – beispielsweise in einem halben Jahr – idealerweise bereits ein angepasster Impfstoff zur Verfügung. Die EMA hat sich bereits Anfang 2021 Gedanken darüber gemacht, welche regulatorischen Anforderungen an eine Anpassung zugelassener Impfstoffe zu stellen sind. Aber selbst das beschleunigte Zulassungsverfahren könnte wahrscheinlich nicht verhindern, dass die Bereitstellung ausreichender Impfdosen gegen die neue Variante mehrere Monate dauert. Bis dahin könnten schon wieder neue Mutationen aufgetreten sein, die den neuen Impfstoff ebenfalls wieder „alt“ aussehen lassen würden.
Wir brauchen also nicht zwingend sofort einen neuen Impfstoff. Was wir aber dringend brauchen, ist – auf nationaler Ebene – ein rasches Schließen der Impflücken und die Boosterung und – auf globaler Ebene – eine möglichst gerechte Verteilung der vorhandenen Impfstoffe! Nur so können weltweit genügend Geimpfte die Vermehrung der Viren unterbinden und damit die Anzahl der Mutationen und das Auftreten immer neuer Varianten reduzieren. |
Literatur
Bernasconi A et al. Report on Omicron Spike mutations on epitopes and immunological/epidemiological/kinetics effects from literature. https://virological.org
Procedural guidance for variant strain(s) update to vaccines intended for protection against Human coronavirus – Regulatory and procedural requirements. Human Medicines Division, EMA/175959/2021
Reflection paper on the regulatory requirements for vaccines intended to provide protection against variant strain(s) of SARS-CoV-2. CHMP, EMA/117973/2021
Sandile Cele et al. SARS-CoV-2 Omicron has extensive but incomplete escape of Pfizer BNT162b2 elicited neutralization and requires ACE2 for infection, MEDRXIV-2021-267417v1-Sigal.pdf
Wilhelm A et al. Reduced Neutralization of SARS-CoV-2 Omicron Variant by Vaccine Sera and monoclonal antibodies, medRXiv https://doi.org/10.1101/2021.12.07.21267432
Nick Andrews et al. Effectiveness of COVID-19 vaccines against the Omicron (B.1.1.529) variant of concern. https://khub.net
Eskild Petersen et al. Emergence of new SARS-CoV-2 Variant of Concern Omicron (B.1.1.529) - highlights Africa‘s research capabilities, but exposes major knowledge gaps, inequities of vaccine distribution, inadequacies in global COVID-19 response and control efforts. Int J Infect Dis 114 (2021), 268-272.
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