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Management

ICH und meine Grenze

Wie Sie sich mit „gewaltfreier Kommunikation“ vor (vermeintlichen) Übergriffen schützen können

Wie schnell es doch manchmal geht. Schönes Wetter, eine Gartenparty, nette Leute und ein erfrischendes Getränk, der Tag könnte kaum besser laufen – und auf einmal tritt Ihnen jemand gewaltig auf die Füße. Gemeint ist der Fuß im übertragenen Sinne. Ein körperlicher Treffer lässt sich mit einem Kühlpack, einer Entschuldigung und einem gemeinsamen Lachen wieder heilen. Im Gegensatz dazu leidet der „seelische“ Fuß meist still und leise, dafür aber lange und schmerzvoll. Kein Wunder, alles, was zur Heilung führt, fehlt – das Gespräch, das Lachen und nicht zu vergessen der mentale Kühlpack. Die „gewaltfreie Kommunikation“ ist eine Methode, Ihre eigene ICH-Grenze zu schützen, ob unter Kollegen, vor Kunden oder vor dem familiären Aufrührer Nummer 1.

Wenn unsere ICH-Grenze – dazu gehören unsere Ehre, Werte, Gefühle und die Selbstachtung – verletzt wird, verspüren wir oft Wut, Trauer, Schmerz, sind überrascht oder fühlen uns angegriffen. Im Gespräch verknüpfen wie jedoch selten diese Gefühle mit unserer inneren Grenze. Oft fehlt das Bewusstsein dafür. Vielmehr entsteht der Eindruck, vor allem bei Menschen, die wir gerade erst kennengelernt haben, dass es sich um unsensible Rüpel handelt. Ein Stück weit keimt Hilflosigkeit auf, da man Opfer einer persönlichen Attacke geworden ist.

Ein Coaching-Kollege befand sich letztens in einem Gespräch mit einer Klientin, die sich darüber beschwerte, wie gemein ihr Kollege immer zu ihr ist. Die Antwort des Coaches war: „Und du hast ihn gelassen.“ Ich fand die Aussage im ersten Moment herzlos. Die arme Frau. Was hinter dieser Antwort steckt, wird allerdings schnell klar. Wir haben vielleicht keinen direkten Einfluss darauf, was andere tun, aber wir haben einen Einfluss auf unser eigenes Ver­halten und auf die Stärkung und Verteidigung unserer persönlichen Grenze. Wir sind also weder wehrlos noch ausgeliefert.

Den „inneren Garten“ pflegen

Ziel ist es, die ICH-Grenze zu stärken und gleichzeitig im Kontakt mit anderen zu bleiben. Zu diesem Zweck arbeitet Dr. Klaus Blaser, Psychiater, Psychotherapeut und Bewusstseinsforscher, mit der Vorstellung des „inneren Gartens“. Es ist eine Übung des achtwöchigen Self-Boundary Awareness Trainings. Der „innere Garten“ ist für die Teilnehmer ein Sinnbild des schützenswerten inneren Ichs. Blaser lässt die Teilnehmer ihr Garteninneres durchforsten: Welche Pflanzen stehen hier, die ich gar nicht selbst gesät habe? Kann ich etwas zurückgeben? Wovon darf es mehr sein? Was gehört mal in Form gebracht?

Es kann gepflanzt werden, was gut tut (z. B. Entspannung, Gelassenheit) und gestutzt werden, was nicht mehr recht ist (z. B. die selbst gemachte Hektik). Vor allem soll nicht jeder Außenstehende den Garten mit seinem Frust, seiner Meinung oder seinem Kummer zumüllen. Genauso wenig ist es erlaubt, die Früchte vom Baum zu stibitzen und damit Energie zu klauen. Es braucht einen Zaun und ein Gartentor. Wer den Eindruck hat, er werde von anderen gelebt oder energetisch ausgesaugt, stellt häufig fest, dass es überhaupt keine Begrenzung gibt oder das Tor immer sperrangelweit offen steht. Mentale bauliche Maßnahmen und die Übersetzung dieser Handlungen in der realen Welt führen zur Bewusstheit der eigenen Grenzen. Wenn wir die Verknüpfung, dass unsere unguten Gefühle mit der überschrittenen oder fast überschrittenen ICH-Grenze zu tun haben, besser erkennen, können wir viel gezielter gegen den Hausfriedensbruch oder den Vandalismus vorgehen.

Vier Schritte zu einem empathischen Dialog

Haben wir es mit einem vermeintlich rücksichtslosen, unverschämten oder übergriffigen Menschen zu tun, ist – durch die Empörung getrieben – häufig ein Gegen­angriff das Mittel der ersten Wahl oder der Rückzug. Beides kann zur Eskalation führen, entweder mit dem Gegenüber oder im Fall des Rückzugs im späteren Streitgespräch mit uns selbst.

Wir ärgern uns, weil wir nichts gesagt haben oder die Situation nicht mehr auflösen können. In Gedanken beschäftigen wir uns immer wieder mit der Person, werden handlungsunfähig und kriegen sie gar nicht mehr aus dem Kopf. Achtung: Energieraub. In der aktuellen Situation etwas zu sagen, wäre also schon hilfreich.

Um einen Ausweg aus diesem inneren oder äußeren Konflikt zu bekommen, bietet sich ein Ansatz aus der gewaltfreien Kommunikation an. Die Forschung zu diesem Fachgebiet geht auf den amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg zurück. Als Kind war er selbst Opfer von Gewalt.

Rosenberg geht davon aus, dass jede Form der Gewalt ein „tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse“ ist, was aggressive Kommunikation mit einschließt. Es braucht die Fähigkeit, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen und beschreiben zu können. „Urteile, Kritik, Diagnosen und Interpretationen des Verhaltens anderer Menschen sind alles entfremdete Äußerungen unserer eigenen Bedürfnisse…“, erklärt Rosenberg. Aus dieser indirekten Äußerung unserer Bedürfnisse hört der andere Kritik heraus, was wiederum zur Verteidigung oder zum Gegenangriff führt. Es ent­wickelt sich eine Negativspirale, die jede Menge Energie auf beiden Seiten kosten kann.

Einem empathischen Dialog kann durch vier Schritte der Weg ge­ebnet werden:

1. Beobachtung: Wir beobachten genau, welche Handlung unsere Gefühle negativ beeinflusst. Auf Interpretationen wird verzichtet.

2. Gefühl: Wir nehmen wahr, wie wir uns in Bezug auf das fühlen, was wir beobachten.

3. Bedürfnis: Wir bestimmen die Ziele, Werte und Wünsche, die hinter unserem Gefühl stecken.

4. Bitte: Mit der Bitte um eine konkrete Handlung geben wir dem Gegenüber die Möglichkeit, unsere Lebensqualität zu verbessern.

Wir bleiben mit der Aufmerksamkeit nicht beim Gegenüber, sondern richten die Aufmerksamkeit auf uns, auf unsere Gefühle und Bedürfnisse und sprechen aus der ICH-Perspektive, anstatt dem anderen negative Eigenschaften zuzuweisen.

Gute Vorbereitung ist ein Gewinn

So ein Vorgehen lässt sich nicht einfach aus dem Hut zaubern, besonders dann nicht, wenn wir gerade einen mentalen Schlag eingesteckt haben. Anhand von Beispielen, bei denen wiederholt Ihre Bedürfnisse verletzt wurden, lässt sich diese Art der Kommunikation vorbereiten.

Welche Situationen rauben Ihnen immer wieder den letzten Nerv? Denken Sie an die Kommunikation mit Kunden, Kollegen, dem Partner oder den Kindern.

Was beobachten Sie? Sobald Sie die Handlung erkennen, benennen Sie so klar wie möglich Ihr Gefühl und das dahinterliegende Bedürfnis. Formulieren Sie eine ehrliche gewaltfreie Aussage.

Sie könnte dieser Struktur folgen: Wenn Sie (hier sachliche Beobachtung einsetzen), empfinde ich (hier Gefühl einsetzen). Ich brauche …/Mein Bedürfnis ist … (Satz ver­vollständigen). Würden Sie bitte (hier konkreten Handlungswunsch einsetzen).

Am Anfang hört sich die Aussage vielleicht ungewöhnlich oder gestellt an. Sie müssen sie unter Umständen noch einmal umformulieren und ein wenig Ihrem eigenen Stil, dem späteren Empfänger oder der Situation anpassen. Gönnen Sie sich ein paar Wiederholungen und sprechen Sie die Sätze zur Probe laut aus.

Beim nächsten Vorfall überbringen Sie Ihre Bitte im Stil der gewaltfreien Kommunikation. Auch für den anderen wird es ungewohnt sein. Versuchen Sie, dem sich anschließenden Dialog empathisch zu folgen. Was nimmt der Gesprächspartner wahr? Was fühlt er wohl? Was hat er für Bedürfnisse?

Um eine Änderung im Gespräch zu erwirken, reicht es, wenn eine Partei das Konzept der gewalt­freien Kommunikation kennt und anwendet. Im alltäglichen Kundenkontakt lässt sich davon unfassbar profitieren. Manchmal gibt es Gespräche mit Kunden, die sonderbar verlaufen. In Kommunikations­trainings oder durch unsere Berufserfahrung wissen wir, wie hilfreich es sein kann, die Gefühle des Gegenübers zu verbalisieren: „Ich sehe, Sie sind sehr aufgebracht.“ Dann noch einen Schritt weiterzugehen und zu überlegen, welches Bedürfnis der Kunde wohl gerade hat, bringt uns meist zu einer zufriedenstellenden Lösung.

Zurück zum Fuß

Für unseren mentalen Fuß gibt es also auch ein Erste-Hilfe-Set. Vielleicht weiß der andere gar nicht, dass er uns auf den Fuß getreten hat. Das Gespräch gibt ihm erst die Möglichkeit, sich zu entschuldigen. Es kann auch ein Miss­verständnis gewesen sein, die ­Aufdeckung ist manchmal etwas peinlich, das lässt sich jedoch mit einem befreienden Lachen weg­wischen. Gewaltfreie Kommunikation ist kein Allheilmittel, aber die gewaltfreie Bitte kann als Kühlpack dienen, was bei hochkochenden Emotionen für eine angenehme Temperatur sorgt. |

Anja Keck ist Fachapothekerin für Allgemeinpharmazie, Master-Coach (DGfC) und Systemische Beraterin, www.anjakeck.de

Literaturtipps

Klaus Blaser
Sag Ja zum Nein sagen – Das Trainingsprogramm zur Stärkung der eigenen Grenze
mit Audio-CD, 2. Aufl. 2020, 240 S., 155 × 24 mm, Gebunden, Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98324-1

 

Marshall B. Rosenberg
Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens
Übersetzt von Ingrid Holler
12. Aufl. 2016, 224 S., 173 × 241 mm, Kartoniert, Junfermann
ISBN 978-3-95571-572-4
 

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