Gesundheitspolitik

Der Apotheken-Ökonom: Politik im Sommer

Zeitenwende

Prof. Dr. Andreas Kaapke

Die Mehrheit der Leser wird mir sicher recht geben, dass der Begriff der Zeitenwende ein gewisses Maß an Konjunktur erfährt. Gibt man „Zeitenwende“ bei einschlägigen Internetanbietern für Bücher ein, sieht man, dass vor allem Politiker diesen Begriff gerne als Titel für ihre Erkenntnisse nutzen. Auch Reden und andere Wortmeldungen von Prominenten deuten darauf hin, dass wir uns in einer solchen Zeitenwende befinden. Der Begriff definiert sich als Beginn einer neuen Ära, gar Zeitrechnung, oder demnach im Umkehrschluss als Ende einer bisherigen Epoche. Lässt man diese Deutung auf sich wirken, ergeben sich vergleichsweise hohe Anforderungen an eine Zeitenwende und entsprechend selten dürfte eine solche vollzogen werden, denn Epochen haben sicher nicht die Laufzeit von wenigen Jahren.

Die neue Außenministerin hat nach Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges sogleich eine Zeitenwende ausgerufen, als sie in einem ersten Statement deklarierte, man sei in einer neuen Welt aufgewacht. Auch ihr grüner Ministerkollege Habeck bemüht das Historische der gegenwärtigen Entwicklungen gerne unter dem Begriff der Zeitenwende oder vergleichbarer Vokabeln. Dabei sind vielfach zwar miteinander verwobene, aber durchaus eigenständige Phänomene gemeint, sodass wir offensichtlich nicht nur in einer, sondern in mehreren Zeitenwenden zu leben scheinen.

Sprache ist nicht immer präzise, Dramatisierungen gehören zum Geschäft und drastische Formu­lierungen sollen ja die Bewegungsfähigkeit von Systemen eher anspornen als zurücksetzen. Beim Russland-Ukraine-Krieg von einer Zeitenwende zu sprechen, ist aus mehreren Gründen verfehlt. Putin hat schon davor durch unterschiedlichste Aktionen angedeutet, was von ihm zu erwarten ist. Der Umgang mit Oppositionellen im Land selbst, die Inhaftierung von Alexei Nawalny, die Giftanschläge auf vermeintliche Systemgegner in London, der Tschetschenien-Konflikt oder die Annektierung der Krim kann man ja nicht gerade als im üblichen Rahmen befindlich ­bezeichnen. Von daher mag der Angriffskrieg auf die Ukraine als neue, absolut unangemessene Eskalation wahrgenommen werden, aber mit Voransage und mit vielen keineswegs schwachen Signalen. Auch würde Zeitenwende bedeuten, dass Kriege derzeit kein Mittel der Politik wären, was bei Sichtung der gegenwärtigen weltweiten Kriege ebenfalls nicht zutrifft.

In der Betriebswirtschaftslehre bezeichnet man derartige abrupte Umweltveränderungen als Diskontinuität und die sich daraus ergebende Schlussfolgerung lautet, dass man mit dieser neuen Entwicklung nicht genauso umgehen kann wie bislang. Der eine oder andere Leser wird anmerken, dass ihm dies zu schwach anmutet, rein formal ist es aber korrekt, denn es ist ja nicht festgelegt, mit welcher Intensität und mit welcher Änderungsbereitschaft man darauf reagiert.

Wenn man ehrlich ist, schockiert einen der Krieg in der Ukraine, seine Bedeutsamkeit erhöht sich aber genau dort, wo wir selbst betroffen sind – wenn Lieferengpässe eintreten, beispielsweise bei Getreide wie Weizen aus der Ukraine, wo Absatzmöglichkeiten aus moralischen Gründen weg­brechen, weil Unternehmen sich entscheiden, nun doch nicht mehr nach Russland zu liefern, oder wo wir in den moralischen Konflikt geraten, ob russisches Gas eben doch opportun sein sollte, wenn es uns frieren könnte oder aber die Produktion vieler Betriebe nicht mehr gesichert wäre und in mitt­lerer Folge auch Arbeitsplätze gefährdet sein könnten. Das wäre aber immer noch keine Zeiten­wende, sondern eine Krise im bestehenden geopolitischen System. Wie sensibel Märkte reagieren, zeigt sich am Verhältnis vom Euro zum Dollar. Der an sich wenig stabile Dollar hat sich von jeher als Krisenwährung bewährt, da aufgrund der – leider vermeintlichen – Stärke der USA die dortige Währung am Ende eben doch als resilienter bewertet wird als die von heterogenen Interessen geprägte Währung im Euroraum. Ein Biden vermag dann doch mehr Sicherheit auszustrahlen als zig Regierungschefs im Spannungsfeld zwischen Orban und Macron.

Der Begriff der Zeitenwende wird wohl auch deshalb gerne bemüht, weil uns nach der Flüchtlingskrise (komisch, darüber scheint man gar nicht mehr zu sprechen) und Corona (auch hier herrscht eine ­irritierende Sorglosigkeit) jetzt durch Klimawandel, Energiekrise, Versorgungsengpässe und Infla­tion die Situation hinreichend fragil erscheint. Das stimmt, aber vielleicht war alles zuvor an einem dünnen seidenen Faden, der Sicherheit suggerierte, wo Diskontinuität schon lange lauerte. In einer Welt der Erdogans, der Trumps, der Johnsons, der Kim Jong-uns, der Bolsonaros reichen ein wieder­gewählter Macron, ein paralysiert anmutender und zugleich paralysierender Kanzler und halbwegs stabil anmutende Vereinigte Staaten nicht aus, um eben nicht in den inflationären Gebrauch des Begriffs Zeitenwende einzustimmen. Waren das noch Zeiten, so ganz ohne Zeitenwende. |

Andreas Kaapke ist Professor für Handelsmanagement und Handelsmarketing an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), Standort Stuttgart, und Inhaber des Beratungsunternehmens Prof. Kaapke Projekte. E-Mail: a.kaapke@kaapke-projekte.de

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