Arzneimittel und Therapie

Schutz über die komplette RSV-Saison

Säuglinge profitieren von einmaliger passiver Immunisierung mit Nirsevimab

Die einmalige Gabe des Antikörpers Nirsevimab führte in einer Studie zu einem hohen Schutz gesunder Säuglinge vor einer RSV(Respiratory Syncytial Virus)-Infektion. Die passive Immunisierung war während einer ganzen RSV-Saison wirksam und führte zu einer rund 75%igen Risikoreduktion. Sollte eine Zulassung erfolgen, wäre eine potenzielle Immunisierung gegen RSV für alle Säuglinge möglich.

Infektionen der Atemwege mit humanen respiratorischen Synzytial-Viren (RSV) sind bei älteren Säuglingen und Kleinkindern eine der häufigsten Ursachen von Erkrankungen des unteren Respirationstraktes und von damit verbundenen Krankenhauseinweisungen. Da es keine kausalen Therapien gibt, steht die symptomatische Behandlung mit ausreichender Flüssigkeitszufuhr zur Sekretmobilisation und das Freihalten des Nasopharynx mit Koch­salz-Nasenspülungen oder -tropfen im ­Vordergrund [1]. Bei pädiatrischen ­Risikopatienten (z. B. Frühgeborenen, Kindern unter zwei Jahren mit angeborenen Herzfehlern) kann eine passive Immunisierung mit dem gegen das ­Fusionsprotein des RSV-Virus gerichteten monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis®, AstraZeneca) erwogen werden. Dieser muss einmal monatlich während der RSV-Saison (in den Wintermonaten von November bis März) intramuskulär appliziert werden [2]. Nun wurde mit Nirsevimab ein weiterer monoklonaler Antikörper ent­wickelt, der nur einmal appliziert werden muss und dessen Anwendung nicht auf Risikopatienten begrenzt ist und somit allen Säuglingen und Kleinkindern zur Verfügung stehen soll.

Foto: zilvergolf/AdobeStock

Jungen sind etwa doppelt so häufig von einer mit Krankenhausaufenthalt verbundenen RSV-bedingten Erkrankung betroffen wie Mädchen.

Lange Halbwertszeit ermöglicht einmalige Gabe

Nirsevimab (MEDI8897) ist ein rekombinanter humaner IgG1-kappa-mono­klonaler Antikörper. Er bindet an Untereinheiten des Fusionsproteins des RS-Virus und verhindert dadurch den Eintritt des Virus in die Zelle und somit eine Infektion. Seine Halbwertszeit beträgt rund 80 bis 100 Tage. In der Zellkultur und im Tierversuch ist Nirsevimab vielfach potenter als Palivizumab [3]. Nirsevimab wurde von Sanofi und AstraZeneca entwickelt und wird intramuskulär appliziert. Im Februar 2022 sprach sich die EMA für ein beschleunigtes Bewertungsverfahren (accelerated assessment) des Antikörpers aus [4]. Die erforderlichen Daten beruhen unter anderem auf den positiven Ergebnissen der MELODY-Studie (s. Kasten) [5].

Die MELODY-Studie

  • Studientyp: Randomisierte, placebokontrollierte, multizentrische Phase-III-Studie; Verum zu Placebo im Verhältnis 2 : 1
  • Teilnehmer: 1490 reifgeborene Säuglinge (Mindestgestationsalter von 35 Wochen), medianes Alter 2,6 Monate
  • Interventionen:Verum-Gruppe: 994 Säuglinge einmalig Nirsevimab i.m. (50 mg für Säuglinge < 5 kg und 100 mg für Säuglinge ≥ 5 kg) Placebo-Gruppe: 496 Säuglinge ­einmalig eine 0,9%NaCl-Gabe i.m.
  • Primärer Endpunkt: RSV-Infektionen innerhalb von 150 Tagen nach der Impfung
  • Sekundärer Endpunkt: Krankenhauseinweisung aufgrund einer RSV-Infektion innerhalb von 150 ­Tagen nach der Impfung
  • Eintrag im US-amerikanischen Studienregister: NCT03979313
  • Sponsor: AstraZeneca [6]

Weniger Infektionen, weniger Krankenhauseinweisungen

Insgesamt nahmen knapp 1500 Säuglinge an der MELODY-Studie teil. Eine einmalige Impfung mit Nirsevimab erzielte eine Wirksamkeit von 74,5%: So traten bei 1,2% der Säuglinge in der Nirsevimab-Gruppe und bei 5% der Säuglinge in der Placebo-Gruppe RSV-Infektionen auf. In der Nirsevimab-Gruppe mussten 0,6% der Säuglinge hospitalisiert werden, in der Placebo-Gruppe 1,6%. Die Wirksamkeit im Hinblick auf eine Vermeidung einer Hospitalisierung lag bei 62,1%. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten bei 6,8% der Nirsevimab-Gruppe und bei 7,3% der Placebo-Gruppe auf. Bis knapp ein Jahr nach der In­jektion traten drei Todesfälle in der Nirsevimab-Gruppe auf. Keines dieser unerwünschten Ereignisse, einschließlich der Todesfälle, wurde von den Prüfärzten mit Nirsevimab oder dem Placebo in Verbindung gebracht.

Künftig Schutz für alle Säuglinge?

Diese Ergebnisse werden sowohl von den Studienautoren als auch von weiteren Experten eingeschätzt. Sie heben die Wirksamkeit einer Prophylaxe mit Nirsevimab gegen RSV-Atemwegsinfektionen hervor. Dies ist insofern ein Novum, da derzeit für gesunde, reifgeborene Säuglinge keine effektive Prophylaxe oder Therapie zugelassen ist. Palivizumab wird aufgrund der begrenzten Wirksamkeit und der hohen Kosten vor allem für sehr kleine Frühgeborene und andere Hochrisikopatienten empfohlen und muss zudem mehrmals appliziert werden. Da es keine aktive Immunisierung gegen ­respiratorische Synzytial-Viren gibt und die derzeit zugelassene passive Immunisierung mit Palivizumab nur bei Hochrisikosäuglingen erfolgen darf, könnte eine Zulassung von Nirsevimab das therapeutische Arsenal vergrößern [7]. Auch ein Mitautor der MELODY-Studie sieht in Nirsevimab das Potenzial, allen Säuglingen einen Schutz vor RSV-Infektionen anzubieten, und spricht von einem möglichen Paradigmenwechsel, falls sich die ­Studienergebnisse bestätigen [8].

Einschätzungen von Experten

Auf die Frage, wie das Risiko der Nebenwirkungen von Nirsevimab im Vergleich zum Risiko von RSV-Infektionen zu bewerten ist, antwortete Prof. Dr. Johannes Liese, Leiter der pädiatrischen Infektiologie und Immunologie, Kinderklinik und Poliklinik, Universitätsklinikum Würzburg, gegenüber dem Science Media Center: „Für eine validierte Bewertung ist es noch zu früh, die vorliegenden Daten reichen hierfür nicht aus. Letztlich ist die Studie zu klein, um die aufgetretenen Todesfälle in einen kausalen Zusammenhang mit der Behandlung mit Nirsevimab zu bringen, das heißt, es könnte auch Zufall gewesen sein. Hier sind im nächsten Schritt deutlich größere Studien erforderlich. Insgesamt verlaufen die Erkrankungen der meisten der mit RSV ins Krankenhaus aufgenommenen Säuglinge ohne schwere Komplikationen. Relativ häufig muss Sauerstoff für einige Tage gegeben werden, ein kleiner Teil der Säuglinge benötigt eine Unterstützung bei der Atmung. Todesfälle kommen bei gesunden Säuglingen extrem selten vor. [….] Die vorliegende Studie kann die Verhinderung schwerer letaler oder beatmungspflichtiger RSV-Erkrankungen nicht belegen, da sie als Studie hierfür zu wenig ­Probanden aufgenommen hat. Damit kann die Wirksamkeit gegenüber seltenen beziehungsweise extrem seltenen Erkrankungen hier nicht belegt werden. Es werden hierzu wesentlich größere Studien benötigt, um sicher zu belegen, dass auch diese Erkrankungen verhindert werden können, und wie hoch dann der Aufwand hierfür ist [9].“ |

Literatur

[1] RSV-Infektionen, RKI-Ratgeber. Informationen des Robert-Koch Instituts, www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_RSV.html, Abruf am 29. März 2022

[2] Liese J et al. Prophylaxe von schweren Erkrankungen durch Respiratory Syncytial Virus (RSV) bei Risikokindern. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), AWMF-Register-Nr. 048-012, Stand: Oktober 2018

[3] Zhu Q et al. A highly potent extended half-life antibody as a potential RSV vaccine surrogate for all infants. Sci Transl Med. 2017;9(388):eaaj1928. doi: 10.1126/scitranslmed.aaj1928

[4] Medicines for human use under evaluation. Informationen der European Medicine Agency EMA, www.ema.europa.eu/en/medicines/medicines-human-use-under-evaluation, Abruf am 29. März 2022

[5] Hammitt LL et al. Nirsevimab for Prevention of RSV in Healthy Late-Preterm and Term Infants. N Engl J Med. 2022;386(9):837-846. doi: 10.1056/NEJMoa2110275

[6] A Study to Evaluate the Safety and Efficacy of MEDI8897 for the Prevention of Medically Attended Lower Respiratory Tract Infection Due to Respiratory Syncytial Virus in Healthy Late Preterm and Term Infants (MELODY) (MELODY). https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03979313, Stand: 24. Februar 2022

[7] Bergeron HC et al. Breakthrough therapy designation of nirsevimab for the prevention of lower respiratory tract illness caused by respiratory syncytial virus infections (RSV). Expert Opin Investig Drugs. 2022;31(1):23-29. doi:10.1080/13543784.2022.2020248

[8] First potential immunization against RSV for healthy infants found highly effective in phase 3 trial; Informationen des ScienceDaily LLC, www.sciencedaily.com/releases/2022/03/220303095654.htm, Abruf am 29. März 2022

[9] Potenzielle Immunisierung gegen RSV für gesunde Säuglinge, Informationen des Science Media Center Germany vom 2. März 2022.

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.