Phytotherapie

Rätsel um das „Gekrönte-Scharte-Kraut“

Eine (unbekannte) neue Droge im Europäischen Arzneibuch – ein Meinungsbeitrag

Wenn Sie als Apothekerin oder Apotheker den Drogennamen im Titel lesen und meinen, davon habe ich ja noch nie etwas gehört, so geht es Ihnen wie mir und Sie haben weder vom Studium oder von der Weiterbildung etwas vergessen.

Die Droge Serratulae coronatae herba Ph.Eur. besteht aus den während der Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Serratula coronata L., der Gekrönten Scharte, einer Asteraceae, die von Osteuropa bis China und Japan verbreitet ist. Sie gehört nicht zur traditionellen Phytotherapie, deren Drogen bisher in europäischen Arzneibüchern monografiert wurden.

Foto: pisotckii/AdobeStock
Die Gekrönte Scharte (Serratula coronata L.) gehört zur Familie der Korbblütler.

Serratula coronatadie große Unbekannte

Als ich unter der Nr. 01/2020:2754 in der 4. Ergänzung zur 10. Ausgabe der Ph.Eur. zum ersten Mal den Namen der Droge gelesen habe, war ich überrascht und recherchierte sogleich in den gängigen Nachschlagewerken. Allerdings waren kaum Informationen zu dieser Droge verfügbar, für die es in Deutschland keine zugelassenen Arzneimittel gibt, auch keine homöopathischen. In der Literatur sind keine Hinweise zu finden, dass diese Droge in der Chinesischen oder Asiatischen Traditionellen Medizin verwendet wurde. Auch eine Rückfrage beim Vorsitzenden der Gruppe 13B des Europäischen Arzneibuchs, verantwortlich für die Mono­grafie-Erarbeitung, brachte keinen Aufschluss darüber, warum die Droge für das Arzneibuch bearbeitet wurde. Man findet bei Internetrecherchen allerdings Hinweise, dass die Droge in der Sibirischen Volksheilkunde eine Rolle als Adaptogen spielt, und daher sind in der russischen Literatur phytochemische und pharmakologische Arbeiten zur Droge publiziert [1]. Sie ist in Russland als Nahrungsergänzungsmittel zugelassen, nicht aber im Russischen Arzneibuch monografiert.

Die Pflanze ähnelt im Habitus der einheimischen Färberscharte, Serratula tinctoria L., die – wie es der Name suggeriert – früher Bedeutung als Färberpflanze für Gelbtöne hatte [2]. Phytochemische Untersuchungen an der Gekrönten Scharte Serratula coronata L. durch osteuropäische Forscher identifizierten als einen der Hauptinhaltsstoffe das Steroid β-Ecdysteron (syn. 20-Hydroxyecdyson), dessen Gehalt in der offizinellen Ph.Eur.-Droge mit mindestens 5,0%, bezogen auf die getrocknete Droge, festgelegt wurde. Eine Menge, die allerdings kaum glaubhaft sein kann, zumal sie den publizierten Mengen mit maximal 2,3% widerspricht [3, 4]. Nach Rücksprache mit dem zuständigen Kollegen für Drogenmonografien beim Europäischen Arzneibuch ist dies tatsächlich ein Fehler, der auf 0,5% in der kommenden Ergänzungslieferung der Ph.Eur. korrigiert wird.

β-Ecdysteron als Dopingmittel?

Das Steroid β-Ecdysteron wurde 1954 von Adolf Butenandt und Peter Karlson aus den Puppen des Seidenspinners isoliert und löst als Steroidhormon bei Insekten, Spinnen und Krebsen die für diese Tiere wichtigen Häutungsprozesse aus [5]. β-Ecdysteron ist aber auch in Pflanzen nachgewiesen worden, unter anderem im Spinat als Abwehrreaktion auf den Befall mit Insekten [6] und eben mit hohem Anteil in den Scharten, zu der auch die Gekrönte Scharte gehört [3]. β-Ecdysteron ist kein Arzneistoff, wird aber vielseitig in Nahrungsergänzungsmitteln mit anaboler Wirkung beworben, wie z. B. mit einem verbesserten Muskelaufbau. Tatsächlich konnte eine Leistungssteigerung durch im Spinat enthaltenes β-Ecdysteron in Verbindung mit Training nachgewiesen werden. In der Studie wurde Sportlern während eines zehnwöchigen Krafttrainings β-Ecdysteron verabreicht. Dabei wurde ein dreimal so hoher Kraftzuwachs im Vergleich zur Placebogruppe festgestellt [7]. Daher wird eine Aufnahme von β-Ecdysteron bzw. β-Ecdysteron-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln in die Doping-Liste diskutiert [8], obwohl β-Ecdysteron (20-Hydroxy­ecdyson) in den USA als pflanzliches Nahrungsergänzungsmittel zugelassen ist.

Auf der Grundlage mehrerer russischer Patente wurde ein Spezialextrakt aus der Droge unter der Bezeichnung „Serpisten“ mit den Hauptkomponenten 20-Hydroxyecdyson und 25S-Inokosteron entwickelt, der in Nahrungsergänzungsmitteln mit adaptogener, antidiabetischer und kardiotroper Aktivität im Internet von einer chinesisch-russischen Firma (Astcrc.com) beworben und in Russland auch offiziell angeboten wird. Serpisten ist ebenso in Dermatika enthalten und soll die Hautregeneration unterstützen sowie Entzündungen hemmen [9].

Informationen zur Anwendung der Droge bzw. Zubereitungen daraus gibt es auch aus der Ukraine, wo die dort heimische Pflanze in der Landwirtschaft und in der Komplementär­medizin vielfältig verwendet wird [4].

Pharmakologische Untersuchungen zum Einsatz von Zubereitungen aus Serratula coronata findet man bisher eher selten. Eine tierexperimentelle Studie zur Verwendung der Droge als Adaptogen bei Stressstörungen wurde 2018 publiziert. Dabei zeigten ein Einzelextrakt aus der Droge und auch ein Mischextrakt zusammen mit Extrakten aus dem Johanniskraut und der Baldrian-Wurzel sowohl antidepressive Wirkungen als auch eine Verbesserung der Gedächtnisleistung [10].

Zum therapeutischen Einsatz der Droge gibt es meines Erachtens nur eine klinische Studie, die bei PubMed recherchierbar ist und wissenschaft­lichen Ansprüchen genügt. In der Anwendungsstudie aus Polen wurde die Wirksamkeit eines Drogenextraktes aus Serratula coronata bei seborrhoischer Dermatitis untersucht. Dabei wird auf die entzündungshemmende Aktivität der im Extrakt enthaltenen natürlichen Steroide verwiesen. Hierzu wurden nach einer dermatologischen Beratung 36 Patienten (17 Frauen und 19 Männer) im Alter von 18 bis 65 Jahren mit seborrhoischer Dermatitis in eine Studie aufgenommen. Alle Studienteilnehmer klagten über Erytheme und Hautabschälungen sowie Juckreiz. Die Hautveränderungen wurden als leichte bis mittelschwere Formen der seborrhoischen Dermatitis diagnostiziert und bestanden im Durchschnitt seit sieben Jahren. Behandelt wurden die Probandinnen und Probanden mit einer kommerziell erhältlichen Hautcreme mit physiologischem pH-Wert (Lekobaza® Pharma Cosmetic base; Fagron, Kraków, Polen), die in der Verumgruppe einen ethanolischen Trockenextrakt aus dem Gekrönte-Scharte-Kraut mit ca. 2% Ecdysteroiden, vor allem Ajugasteron C, 20-Hydroxyecdyson und Polypodin B, enthielt. Während der sechswöchigen Anwendung der Creme verbesserte sich die Lebensqualität in der Verumgruppe deutlich, und in ca. 97% der Fälle wurde der Zustand der Epidermis von einem Dermatologen als wieder physiologisch normal beurteilt. Es kam insbesondere zu einer statistisch signifikanten Linderung der Symptome (p < 0,05) wie Juckreiz, Schmerzen oder brennende Empfindungen in den betroffenen Bereichen. Die Studienautoren weisen im Ergebnis der Studien auf die vielversprechende Entwicklung eines entsprechenden Arzneimittels mit pflanzenbasierten Ecdystero­iden bei seborrhoischer Dermatitis mit Juckreiz hin [11].

Eine veterinärmedizinisch orientierte Anwendungsstudie gibt es zur anabolen Wirkung der Droge. So führte eine an Phytoecdysteroiden angereicherte Zubereitung aus Serratula coronata zur Optimierung der Fütterungsbedingungen und Verbesserung der Fleischproduktion bei der Aufzucht von Entenküken [12].

Fasst man all diese relativ wenigen Informationen zusammen, so ist schon erstaunlich, wie es ohne nachweisbare therapeutische Tradition in einem der Länder der EU bzw. Staaten, die sich an der Erarbeitung der Ph.Eur. betei­ligen, zur Aufnahme von Serratulae coronatae herba, dem Gekrönte-Scharte-Kraut, ins Europäische Arzneibuch gekommen ist. Ganz davon abgesehen, dass die Droge über den pharmazeutischen Großhandel nicht beschaffbar ist, verwundert auch die Tatsache, dass selbst über das Internet außer einem Homöopathikum (Serratula coronata C12 Globuli) kein Produkt angeboten wird. Eine Übersichtsarbeit aus dem letzten Jahr weist auf die gesundheitsfördernden Aspekte von pflanzlichem 20-Hydroxyecdyson bei verschiedenen Zivilisationskrankheiten, wie metabolischem Syndrom, Osteo­porose, chronischen Entzündungen oder Atemwegserkrankungen hin und propagiert die Nutzung dieses Steroids bzw. entsprechender Drogen zur Prophylaxe und Therapie [13]. Allerdings ohne eine gesicherte wissenschaftliche Basis, die Grundlage für die Entwicklung und Anwendung traditioneller oder rationaler Phyto­therapeutika ist, schwebt diese neue Ph.Eur.-Monografie quasi im luftleeren Raum, und einmal mehr fragt man sich, wozu der Aufwand? Als reiche Quelle für Ecdysteroide könnte die Droge natürlich für Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln interessant sein – aber muss es deswegen gleich eine Ph.Eur.-Monografie sein? |

 

Literatur

 [1] Punegov VV, Sychov RL, Zainullin VG et al. Extraction of ecdysteron 80 from Serratula coronata L. and assessment of its pharmacological action. Part I. Adaptogenic, gastroprotective, thermoprotective, and antihypoxic activity. Pharmaceutical Chemistry J 2008;42:446-451

 [2] Tschirch A. Handbuch der Pharmako­gnosie. Band 3, Zweite Abteilung. Verlag Chr. Herm. Tauchnitz; 1925:929, Leipzig

 [3] Báthori M, Kalász H, Csikkelné SA, Máthé I. Components of Serratula species; screening for ecdysteroid and inorganic constituents of some Serratula plants Acta Pharm Hung 1999;69:72-76

 [4] Kholodova Y. Phytoecdysteroids: biological effects, application in agriculture and complementary medicine. Presented at the 14-th Ecdysone Workshop, Juli 2000, Rapperswil, Switzerland. Ukr Biokhim Zh 2001;73:21-29

 [5] Fugmann B (Hrgb). Römpp Lexikon Naturstoffe. Stuttgart, New York: Thieme Verlag 1997:194-195

 [6] Schmelz EA, Grebenok RJ, Ohnmeiss TE, Bowers WS. Interactions between Spinacia oleracea and Bradysia impatiens: a role for phytoecdysteroids. Arch Insect Biochem Physiol 2002;51:204-221

 [7] Isenmann E, Ambrosio G, Joseph JF et al. Ecdysteroids as non-conventional anabolic agent: performance enhancement by ecdysterone supplementation in humans. Arch Toxicol 2019;93:1807-1816

 [8] Parr MK, Botrè F, Naß A et al. Ecdysteroids: A novel class of anabolic agents? Biol Sport 2015;32:169-173

 [9] Molokhova EI, Sorokina YV, Lipin DE. Optimization of the composition of the ointment with phytoecdysteroids Serpisten. Drug Dev Regist 2021;10:89-95

[10] Kandilarov IK, Zlatanova HI, Georgieva-Kotetarova MT et al. Antidepressant Effect and Recognition Memory Improvement of Two Novel Plant Extract Combinations - Antistress I and Antistress II on Rats Subjected to a Model of Mild Chronic Stress. Folia Med (Plovdiv) 2018;60:110-116

[11] Napierała M, Nawrot J, Gornowicz-Porowska J et al. Separation and HPLC Characterization of Active Natural Steroids in a Standardized Extract from the Serratula coronata Herb with Antiseborrheic Dermatitis Activity. Int J Environ Res Public Health 2020;17:6453

[12] Khaziev D, Galina C, Gadiev R et al. Phytoecdysteroids from Serratula coronata when growing ducklings. Res Vet Sci 2020;128:170-176

[13] Dinan L, Dioh W, Veillet S, Lafont R. 20-Hydroxyecdysone, from Plant Extracts to Clinical Use: Therapeutic Potential for the Treatment of Neuromuscular. Cardio-Metabolic and Respiratory Diseases. Biomedicines 2021;9:492

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Matthias F. MelzigFreie Universität BerlinInstitut für Pharmazie

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