- DAZ.online
- DAZ / AZ
- DAZ 40/2022
- Arzneimittel für die ...
Aus den Ländern
Arzneimittel für die Zukunft mit großen Herausforderungen
Genetische Therapien im Fokus des Fortbildungskongresses der Kammer Schleswig-Holstein
Der Organisator und Moderator des Kongresses, Prof. Dr. Walter Raasch, Lübeck, betonte, dass die Genetik mittlerweile zum Thema von Kinderbüchern geworden ist und in der Pharmakologie praktisch keine wissenschaftliche Publikation ohne genetische Aspekte mehr möglich ist. Raasch erwartet, dass die Arzneimittel der Zukunft daraufhin ganz anders und viel individueller werden.
Genomische Medizin - die Idee
Prof. Dr. Malte Spielmann, Lübeck, erläuterte das Konzept der genomischen Medizin, bei der der genetische Code gezielt verändert wird, um Krankheiten zu behandeln. Während dies früher aufwendig mit Adenoviren versucht wurde, gelingt es mit der 2013 beschriebenen „Genschere“ CRISPR/Cas9 erstaunlich einfach. Mittlerweile kann damit nicht nur DNA zerstört, sondern gezielt verändert werden. Gene können ein- oder ausgeschaltet oder ihre Methylierung kann verändert werden und vieles mehr. Das wesentliche Problem dabei ist, die veränderte DNA in die Zelle zu bringen. CRISPR/Cas9 kann in Zellkulturen leicht angewendet und auch direkt in Zellen gespritzt werden. So kann durch die Injektion in Netzhautzellen genetische Blindheit geheilt werden. Wenn die Zielzellen so nicht zugänglich sind, steigt der Aufwand jedoch erheblich. Dann bieten aufwendige CAR-T-Zell-Therapien eine Option.
Als Beispiele für bereits praktizierte Anwendungen der genomischen Medizin hob Spielmann die Sichelzellkrankheit und die Transthyretin-Amyloidose hervor. Doch es gebe Potenzial für häufige Indikationen, beispielsweise die Hypercholesterinämie. Während eine ungünstige PCSK9-Mutation zu einer schweren familiären Hypercholesterinämie führt, schützt eine günstige Mutation vor Hypercholesterinämie – praktisch unabhängig von der Ernährung. Daher wird eine solche genetische Veränderung entwickelt, die eine Alternative zur regelmäßigen Einnahme von Statinen wäre. Allerdings ergeben sich bei einer Anwendung an weitgehend gesunden Personen ganz andere Herausforderungen als bei der letzten Option gegen eine tödliche Erkrankung. Die größte Sorge galt zunächst den Off-Target-Effekten, also dem Einbau von DNA in andere als die Zielzellen. Spielmann betrachtet hingegen derzeit die verwendeten Vektoren als größte mögliche Ursache unerwünschter Effekte.
Nukleinsäuren - COVID-19-Impfung und mehr
Prof. Dr. Mark Helm, Mainz, erwartet nicht, dass „kleine Moleküle“ schnell aus der pharmazeutischen Praxis verschwinden werden. Denn die genetischen Verfahren seien sehr teuer und kompliziert. Thema seines Vortrags war der therapeutische Einsatz von Nukleinsäuren. Dieser begann schon vor der Jahrtausendwende mit Antisense-Nukleinsäuren. Der nächste Schritt war die siRNA (small interfering RNA) – dies sind kurze doppelsträngige RNA-Fragmente. Dabei geht es bisher um Anwendungen für kleine Patientenzahlen, aber künftig könnte siRNA bei einer nasalen COVID-19-Impfung zum Einsatz kommen. Außerdem könnten daraus Arzneimittel entstehen, die einen Mittelweg bei der Wahl zwischen einmaliger genetischer Veränderung und täglicher Tabletteneinnahme bieten, erwartet Helm. Das wären dann gelegentliche Anwendungen einer siRNA.
Der dritte Schritt für den Einsatz von Nukleinsäuren kam unerwartet zur Massenanwendung – die mRNA in der COVID-19-Impfung. Beim Einsatz von mRNA sieht Helm aus der Sicht eines Nukleinsäureforschers eine wesentliche Aufgabe in der Modifizierung der mRNA, wodurch die Immunantwort modelliert wird. Doch die größte Hürde ist das Einbringen in die Zielzelle, betonte Helm ebenso wie zuvor Spielmann. Darum ist die angestrebte Anwendung von mRNA in der Tumortherapie so schwierig. Für jedes Organ muss ein passender Weg gefunden werden. Nur bei einer Impfung ist das ausnahmsweise mit der Injektion in den Oberarm ganz einfach. Helm betonte, dass Fieber und die Schwellung an der Einstichstelle keine „Nebenwirkung“ sind, sondern die erwartbare Folge der Zytokinausschüttung nach der Erkennung der fremden RNA durch das angeborene Immunsystem. Diese Zytokinantwort ist für die Immunisierung nötig. Aus Sicht von Helm ist es wesentlich, die mRNA so zu modifizieren, dass sie einen hinreichenden, aber nicht zu großen Reiz für das Immunsystem gibt - so wie ein Adjuvanz bei anderen Impfstoffen.
Chancen der Gentherapie
Prof. Dr. Axel Schambach, Hannover, gab einen Überblick über die klinischen Möglichkeiten der Gentherapie und führte damit zurück zu hoch spezialisierten Anwendungen. Eine Gentherapie hat typischerweise den gleichen Effekt wie eine autologe Transplantation. Die wesentlichen Technologien sind CRISPR/Cas9 und die CAR-T-Zell-Therapie. Prinzipiell kommt eine Gentherapie in Betracht, wenn die genetische Ursache für ein Problem genau bekannt und dieses durch Behebung eines einzelnen Gendefektes zu lösen ist. Dies betrifft insbesondere immuntherapeutische Ansätze in der Tumortherapie. Durch die Möglichkeit, Blutzellen ex vivo zu behandeln und sie danach wieder dem Patienten zu verabreichen, ist die Hämatologie das bevorzugte Einsatzgebiet. Weitere denkbare Anwendungen sind Morbus Parkinson, Retinadegeneration, Hämophilie, schwere genetisch bedingte blasenbildende Erkrankungen der Haut, Immundefekte und die Sichelzellkrankheit. Außerdem kann der Eintrittsrezeptor für HIV aus Zellen entfernt werden, so dass die Personen sich nicht mit HIV infizieren können. Derzeit haben bereits mindestens 14 Gentherapien eine Marktzulassung. Großes Potenzial sieht Schambach darin, Knochenmarktransplantationen durch Gentherapien zu ersetzen. Langfristig könnten gezielt Teile von Organen gebildet werden, beispielsweise Teile der Leber. Während solche Therapien bisher bei einzelnen Patienten angewendet werden, könnten es in absehbarer Zeit Hunderte oder Tausende sein, erwartet Schambach.
Enttäuschung bei der Herzinsuffizienz
Vergleichsweise häufige Anwendungsmöglichkeiten für Gentherapien könnten sich bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen bieten, auf die Prof. Dr. Oliver Müller, Kiel, einging. Doch die Applikation ist auch dort die wesentliche Hürde. Großes Augenmerk liegt dabei auf der Wahl des Vektors. Müller räumte ein, dass nach einer Studie zur Herzinsuffizienz an über 200 Patienten viel Ernüchterung eingetreten ist, weil der beabsichtigte Gentransfer nicht ausreichend stattgefunden hat. Experimentell wird an Schweinaorten gearbeitet, an denen der Vektor an der äußeren Gefäßwand mit Alginaten aufgetragen wird.
„Living drugs“ mit Potenzial
Prof. Dr. Claudia Baldus, Kiel, vertiefte die Möglichkeiten der CAR-T-Zell-Therapie. Mit Kymriah® gegen spezielle Formen des B-Zell-Lymphoms wurde erstmals 2017 in den USA und 2018 in Europa ein solches Arzneimittel zugelassen. Die bearbeiteten individuellen T-Zellen stellen „living drugs“ dar. Dabei geht es bisher um den Einsatz als letzte Option in einer einmaligen Anwendung. Nun sei zu untersuchen, ob frühere Anwendungen, beispielsweise nach einem ersten Rezidiv, und der Einsatz bei anderen Tumoren vorteilhaft sind. „Wir müssen noch besser lernen, welche Patienten wann und wie davon profitieren“, erklärte Baldus. Sie erwartet, dass dieses Verfahren zu einem festen Bestandteil der Therapie wird. Innovationen würden sich durch neue Zielstrukturen ergeben.
Was machen die Gene mit der Therapie?
Mit der Pharmakogenetik vermittelte Prof. Dr. Ingolf Cascorbi, Kiel, eine ganz andere Perspektive. Sie betrifft die Frage, wie die Gene des Patienten die Therapie beeinflussen. Doch muss stets gefragt werden, ob die genetischen Varianten von Enzymen für die Biotransformation und von Transportern klinisch relevant sind, betonte Cascorbi. Denn vielfach kann ihr Effekt kompensiert werden, insbesondere bei Dauermedikationen. Dazu empfahl er die Guidelines des Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium (CPIC, siehe cpicpgx.org), die 26 klinische Empfehlungen mit unterschiedlicher Evidenz enthalten. In der Praxis würden solche Erkenntnisse meist erst ankommen, wenn der jeweilige Test erstattungsfähig sei. Doch dies habe bisher teilweise Jahrzehnte gedauert, beklagte Cascorbi.
Zwischen Frau und Mann
Das Thema Genetik reicht noch viel weiter. Dies zeigte der Vortrag von Diplom-Psychologin Louise Marshall zur Intersexualität. Sie ist in einem interdisziplinären Team in der Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Lübeck tätig. Dort geht es um Varianten der Geschlechtsentwicklung mit einem breiten Kontinuum von ungewohnten Zwischenformen zwischen Frau und Mann. Ursachen können insbesondere ungewöhnliche Chromosomensätze, andere genetische Besonderheiten oder die fehlende Wirkung von Hormonen sein, beispielsweise bei einem 5-α-Reduktase-Mangel. Marshall machte die Herausforderung deutlich, ein Mädchen zu begleiten, das sich in der Pubertät unerwartet zu einem Jungen entwickelt. Es stelle sich jeweils individuell die Frage, in welcher Richtung die Entwicklung beeinflusst werden kann oder soll und wann ein Kind dies entscheiden kann. Zudem betonte Marshall die Abgrenzung zum Begriff Transgender. Letzteres bezeichnet Menschen, die biologisch eindeutig Frau oder Mann sind, aber eine Identität des anderen Geschlechts empfinden.
Damit bot der Kongress wie die vielen früheren Veranstaltungen in Damp einen umfassenden und anspruchsvollen Überblick über ein spannendes Thema. Außerdem gehörten Workshops für PTA zu Augenerkrankungen und zur Anwendung von Arzneimitteln am Auge sowie Praxisfortbildungen für PKA über Sonnenschutz und gute Ernährung zum Fortbildungswochenende in Kiel. |
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.