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Feuilleton

Die da oben

Wie Forschung im Weltraum Patienten auf der Erde hilft

Die Internationale Raumstation (International Space Station, ISS) befindet sich seit nunmehr 22 Jahren rund 400 km über unseren Köpfen. Fünf Raumfahrtagenturen, darunter auch die europäische ESA, schicken jedes Jahr Astronautinnen und Astro­nauten auf den größten Satelliten, den Menschen erbaut haben. Einige Experimente aus den Weltraumlaboren haben bereits zu Anwendungen auf der Erde geführt, von denen Patienten profitieren. Wir stellen einige Projekte vor, die im medizinischen Alltag angekommen oder auf dem besten Weg dorthin sind. | Von Juliane Russ

Die Aufgabe der Astronauten auf der ISS besteht unter anderem darin, wissenschaftliche Versuche in der Schwerelosigkeit durchzuführen. Ziel ist es zum Beispiel, Arzneistoffe und Therapieverfahren zu entdecken. Neue Erkenntnisse zur Osteoporose, eine innovative Technologie für die Verlaufskontrolle bei Asthma, die Herstellung hochwertiger Proteinkristalle und Mikrokapseln sind nur eine Auswahl von Forschungsprojekten, die es vom All zum Patienten geschafft haben.

Starke Knochen im All und auf der Erde

Die Knochenmasse nimmt während eines sechsmonatigen Aufenthalts in der Schwerelosigkeit um 10% ab. Durch die fehlende Gravitation und damit einhergehende geringe physikalische Belastung werden Osteoklasten aktiviert, die den Abbau von Knochenmaterial vermitteln. Der proximale Femurknochen verliert 1,5% seiner Substanz pro Monat. Um die Knochendichte wiederherzustellen, benötigen Raum­fahrer ungefähr die drei- bis vierfache Dauer ihres Weltraum-Trips, das heißt bei sechsmonatigem ISS-Einsatz circa drei Jahre auf der Erde. Die Zerstörung der Mikroarchitektur des Knochens ähnelt hierbei der Osteoporose älterer Menschen. Nur dass Astronauten viel schneller geringe Knochendichten entwickeln. Um den Verlust möglichst gering zu halten, trainieren die Besatzungsmitglieder zweieinhalb Stunden an sechs Tagen die Woche mit speziellen Trainingsgeräten mit Zug­seilen, um trotz Mikrogravitation eine Gegenkraft aufbringen zu müssen. Auch auf die Calcium- und Calcitriol-Aufnahme wird geachtet. Zusätzlich dazu konnte durch einmal wöchentliche Bisphosphonat-Einnahme die Demineralisierung signifikant vermindert werden. 17 Astronautinnen und Astronauten nahmen während einer circa halbjährlichen ISS-Forschungstätigkeit täglich 70 mg Alendronat ein und trainierten zusätzlich (sieben Personen) oder machten nur Sport ohne Bisphosphonat-Einnahme (Kontrollgruppe). Der Knochenabbau lief bei der Kontrollgruppe verstärkt ab, was durch relativ hohe Spiegel an Knochenresorptionsmarker im Urin festgestellt wurde. Die Knochendichte konnte in der Verum-Gruppe besser erhalten werden. Bisphosphonate sind heute etabliert in der Behandlung von Osteoporose. Dass sie auch präventiv wirken können, zeigte die kleine Studie im All.

Durch die fehlende Gravitation werden aus der Knochenmatrix Calcium-Ionen freigesetzt. Dadurch leiden Raumfahrer häufig an Calciumoxalat- und Calciumphosphat-Steinen. Durch die prophylaktische Bisphosphonat-Gabe konnte die Zahl der Nierensteine gesenkt werden [1].

In einer anderen Untersuchung wurde eine hohe Natrium-Aufnahme mit gesteigerter Demineralisierung des Skeletts in Verbindung gebracht. Sechs Mitglieder einer ISS-Mission ernährten sich entweder natriumreich oder natriumarm (nicht mehr als 180 Milliäquivalente pro Tag). Die Teil­nehmer, die natrium­reich aßen, hatten einen höheren Knochenmassenverlust durch einen niedrigeren pH-Wert im Körper bzw. am Knochen. Durch den sauren pH-Wert wird Calcium aus dem Knochen gelöst. Astronauten ernähren sich heutzutage natriumarm. Auch Patienten mit Osteoporose­-Risiko wird eine salzarme Diät empfohlen. Durch die schnelle Zer­störung der Mikroarchitektur des Knochens in der Schwerelosigkeit und die sehr gute Compliance von Astronauten können im All Effekte beobachtet werden, zu deren Erforschung auf der Erde längere Zeiträume nötig wären [8, 9].

Durchatmen für die Wissenschaft

Asthmatiker profitieren bereits von einer Technologie, die für den Einsatz im Weltraum entwickelt wurde, um die Gesundheit der Raumfahrer zu überwachen. In der Schwerelosigkeit können durch schwebende Staubteilchen in der Luft Inflammationen der Lunge oder von Gefäßen leichter auftreten. Stickstoffmonoxid ist ein Atemgas, das bei Entzündungsvorgängen in der Lunge vermehrt ausgeatmet wird. Die National Aeronautics and Space Act (NASA) entwickelte in Zusammenarbeit mit Merck ein Gerät, das den Stickoxid-Gehalt (FeNO) in der Ausatemluft von Astronauten misst. Ziel war es, pathologische Vorgänge zu erkennen, bevor sich Gesundheits­probleme bemerkbar machen. In der Verlaufsüberwachung und Diagnose von Asthma könnte diese Technologie eine wichtige Rolle einnehmen. Die Möglichkeit, den Patienten besser auf Arzneimittel einzustellen und Entzündungen des Lungengewebes früh zu erkennen, kann zu mehr Lebensqualität führen. In klinischen Studien konnte durch diese Inflammometrie eine Verringerung der akuten Asthma-Episoden nachgewiesen werden. Entsprechende Messgeräte werden bereits seit circa zehn Jahren in Arztpraxen benutzt, um das Ansprechen auf inhalative Corticosteroide oder die Adhärenz des Asthmatikers zu überprüfen [2].

Spot the station

Seit dem 2. November 2000 wird die ISS durchgehend von Menschen bewohnt. Europa, die USA, Kanada, Japan und Russland haben die Weltraumstation zusammen auf­gebaut und betreiben sie. Insgesamt sind 16 Staaten involviert – eine Meisterleistung der internationalen Zusammenarbeit.

Die Raumstation kann von der Erde aus mit bloßem Auge gesehen werden. Mittels Teleskop können, je nach Vergrößerung, die Solarpaneele, die die Station mit Energie versorgen, erkannt werden. Unter https://spotthestation.nasa.gov/tracking_map.cfm wird angezeigt, wo sich die Raumstation gerade befindet. Auch kann der eigene Wohnort gesucht und berechnet werden, wann in der nächsten Zeit die ISS zu sehen sein wird. Eine Erdumrundung benötigt 93 Minuten, daher kann sie bei guter Sicht unter Umständen mehrmals nächtlich betrachtet werden. Übrigens, die Schwerelosigkeit auf der Raumstation ist nicht etwa durch fehlende irdische Gravitation zu erklären. Mit 400 km Höhe befindet sich die Forschungsstation noch im Schwerkraftfeld der Erde. Die vorhandene Mikrogravitation kommt vom Fallen, ähnlich wie bei einem Parabelflug. Zentrifugalkraft und Gravitationskraft heben sich beim Hinabstürzen gegenseitig auf und dies führt zur Mikrogravitation. Da das Weltraum-Labor um die Erde fällt, von dieser also auch konstant ein bisschen angezogen wird, muss sie auch regelmäßig wieder ein Stück nach oben geschossen werden, um nicht abzustürzen. Trotz 73 m Länge und 108,5 m Breite benötigt das relativ wenig Treibstoff, da der Luftwiderstand fehlt.

Stabile und reine Proteinkristalle

Einer der größten Forschungszweige auf der ISS ist die Herstellung und Analyse von kristallinen Proteinstrukturen. Filigrane Proteine sollen durch Kristallisation stabiler werden und sich so einfacher untersuchen lassen. Neue Wirkstoffe sollen auf diese Weise ermittelt werden. In der Mikrogravitation der Raumstation bilden sich Proteinkristalle mit höherer Qualität als auf der Erde, da der Druck der Luft und der Petrischale fehlt. Auch Bakterien- und tierische Zellen wachsen besser im Weltraum.

Monoklonale Antikörper sind in der Anwendung sehr teuer, da die Herstellung kompliziert ist, die Haltbarkeit relativ kurz und die Lagerbedingungen spezifisch. Die Kristallisation des Proteins, welche die physikalische Beständigkeit des Moleküls erhöht, würde hier Abhilfe schaffen. Die Haltbarkeit würde verlängert und die Lagerung vereinfacht. Durch Versuche auf der Raumstation wurde ein Verfahren entwickelt, das eine kristalline, stabile Suspension aus Antikörpern mit homogener Partikelgrößenverteilung (1 bis 5 μm) in hoher Ausbeute erzeugen kann. Die Partikelgröße in Versuchen auf der Erde betrug 13 bis 102 µm. Auf der Erde laufen nun bereits Experimente mit Rotationsmixern, um die perfekten Weltraum-Eiweißkristalle nachbilden zu können. Der monoklonale Antikörper Pembrolizumab, der z. B. gegen Melanome eingesetzt wird, muss den Patienten auf der Erde via Infusion im Krankenhaus verabreicht werden. Durch eine Kristallisation könnte die Proteinstruktur des monoklonalen Antikörpers stabiler werden, sodass Patienten sich das Arzneimittel dann zu Hause selbst injizieren könnten. Das macht es für die Betroffenen einfacher und angenehmer in der Anwendung, was die Adhärenz und Lebens­qualität fördert, außerdem sinken die Kosten [3].

Die stabilen, kristallinen Proteinformen lassen sich mittels Röntgenkristallisation analysieren. Die Strukturaufklärung von Eiweißstoffen, die an Krankheitsgeschehen beteiligt sind, kann zu neuen Wirkstoffen führen. Ein Beispiel hierfür ist ein potenzielles Arzneimittel zur Behandlung der Muskel­dystrophie Typ Duchenne. Diese unheilbare und sehr seltene Erbkrankheit betrifft einen männlichen Säugling von 3500. Das Protein Dystrophin, das bei der Muskel­kontraktion eine Rolle spielt, wird als Folge einer oder mehrerer Mutationen des entsprechenden Gens nicht synthetisiert. Nekrotische Veränderungen und Inflammation des Muskelgewebes sind die Folgen, die Patienten leiden an einer voranschreitenden Muskelschwäche. Die hämatopoetische Prostaglandin-D2-Synthase ist über die Bildung des Entzündungsmediators PGD2 an dieser Entzündungs­reaktion beteiligt. Das Enzym wurde daher zum Zielprotein für einen neuen Wirkstoff, der den Verlauf der Muskeldystrophie verlangsamen soll. In einem Labor auf der Raumstation wurde die Struktur des Proteins mittels Röntgenkristallographie aufgeklärt. Auf dieser Forschung basiert die Entwicklung des selektiven Prosta­glandin-D2-Synthase-Inhibitors TAS-205. Er verhindert die PGD2-Bildung und soll so das Fortschreiten der Duchenne Muskeldystrophie verlangsamen. Die Sicherheit und Wirksamkeit wurden bereits in klinischen Studien bestätigt. Seit Dezember 2020 bis 2027 soll in einer Phase-III-Studie mit 80 Probanden die Effektivität von TAS-205 überprüft werden [3, 4].

Die Zeit fliegt

Nicht nur der Knochenabbau läuft in der Schwerelosigkeit beschleunigt ab. Auch die Funktion des Immun­systems nimmt auf der höchsten Forschungsstation ähnlich ab wie bei alten Personen auf der Erde. Da der Thymus unter Mikrogravitation weniger T-Zellen bereitstellt, sinkt deren Zahl im Blut von Astronauten. Die Zahl der natürliche Killerzellen, Granulozyten, Mono­zyten und die Zytokin-Spiegel im Plasma sinken und machen Raumfahrer anfällig für Krankheiten. Die genauen Mechanismen sind weitestgehend unklar.

Bei Aufenthalten im Weltraum können „schlafende“ Viren reaktiviert werden, z. B. das Herpes-zoster- oder Eppstein-Barr-Virus. Studien mit Raumfahrern könnten Menschen auf der Erde helfen, die mit Immunschwäche zu kämpfen haben. Auch für die Entwicklung Pathogen-abweisender Oberflächen, von Desinfektionsmitteln und Impfstoffen eignet sich das Weltraumlabor, da dort aufgrund der Mikrogravitation Bakterien schneller wachsen. Durch die hohe Wachstumsrate mutieren die Mikroorganismen schneller, was zur Entwicklung von stabilen Impfstoffen führen kann. Es wird an Schutzimpfungen gegen Staphylococcus aureus oder Salmonella enterica auf der Weltraumstation geforscht [6, 7].

Liefern im All

Nicht nur Proteinkristalle lassen sich besser in der Schwerelosigkeit formen, auch Mikrokapseln als Drug-Delivery-Systeme können aufgrund veränderter physikalischer Eigenschaften einfacher hergestellt werden. Solche Drug-Delivery-Systeme sind biologisch abbaubare kleine Ballons, die Wirkstoffe enthalten und gezielt unter anderem gegen Tumore eingesetzt werden sollen. Die Flüssigkeitsmechanik und das Grenzflächenverhalten der Arzneistoffe in den Mikrokapseln verändern sich in der Schwerelosigkeit. Durch den verminderten Luftdruck können die filigranen Gebilde einfacher hergestellt werden. Es wurden bereits fünf Patente angemeldet, die auf Mikrokapsel-Forschung auf der ISS zurückgehen. In einer kleinen Pilotstudie wurden Patienten mit Prostata- oder Lungenkarzinom dreimal wöchentlich in einem Monat Mikrokapseln injiziert. Die enthaltenen Chemotherapeutika wurden zeitlich versetzt aus der Kapsel freigesetzt. Das Tumorwachstum konnte teilweise reduziert werden. Bei einzelnen Patienten konnte der Status der Regression erreicht werden. Das MD Anderson Cancer Center in Houston und das Mayo Cancer Center in Scottsdale, USA, bereiten gerade umfangreichere Studien vor [5]. |

 

Literatur

[1] Okada A et al. Bisphosphonate Use May Reduce the Risk of Urolithiasis in Astronauts on Long-Term Spaceflights. JBMR Plus 2022;6(1):e10550

[2] Science Forum Benefits for Humanity 2022. International Space Station Program, CSA, ESA, JAXA, NASA ,ROSCOSMOS, ASI, www.nasa.gov/sites/default/files/atoms/files/iss_benefits_for_humanity_2022_book.pdf

[3] A Phase 3 Study of TAS-205 in Patients With Duchenne Muscular Dystrophy. U.S National Library of Medicine, Taiho Pharmaceutical co. Ltd., https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04587908

[4] Reichert P et al. Pembrolizumab microgravity crystallization experimentation. nature partner journals Microgravity 2019;5:28, doi: 10.1038/s41526-019-0090-3

[5] Ruttley T. Cancer Treatment Delivery. NASA, 3. Dezember 2012, www.nasa.gov/mission_pages/station/research/benefits/cancer_treatment.html

[6] Akyiama T et al. How does spaceflight affect the acquired immune system? npj Microgravity 2020;6:14, doi: 10.1038/s41526-020-0104-1

[7] Ruttley T. International Space Station Plays Role in Vaccine Development. NASA, 29. Februar 2012, www.nasa.gov/mission_pages/station/research/benefits/vaccine_development.html

[8] Heer M et al. Nutritional Interventions Related to Bone Turnover in European Space Missions and Simulation Models. Nutrition 2002;18:853–856

[9] Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose. Dachverband der deutschsprachigen wissenschaftlichen osteologischen Gesellschaften 2017, S3-Leitlinie, AWMF-Register-Nr.: 183/001

Autorin

Juliane Russ hat Ernährungswissenschaft an der Universität Hohenheim studiert. Seit April 2022 absolviert sie ein Volontariat bei der DAZ.

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