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E-Rezept

Irrungen und Wirrungen

Wie sich das E-Rezept 2022 entwickelte – oder auch nicht

Die flächendeckende Einführung der digitalen Verordnungen in Deutschland erinnert ein wenig an den Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg: Die Umsetzung hapert an technischen Herausforderungen. Termine werden verschoben und Partner springen ab. Der ursprünglich geplante Start zum 1. Januar 2022 ist längst passé und der von vielen Hin- und Hers be­gleitete Leidensweg des E-Rezeptes noch nicht zu Ende – Ausgang offen. Ein Rückblick. | ts

Die Region Berlin-Brandenburg scheint für Großprojekte in Deutschland aktuell kein gutes Omen zu sein, das zeigte sich schon beim Bau des Flughafens im Süden Berlins. Offenbar hat die Region auch keine positive Wirkung auf das E-Rezept, dessen Praxistauglichkeit dort ab Juli 2021 getestet worden war. Anfang 2022 sollte es flächendeckend in Deutschland eingeführt werden. Doch dann kam alles ganz anders, und viele fragen sich seitdem: Kommt es noch? Oder doch nicht? Und wenn es kommt, wie und wann?

Zum Jahresende 2021 verfügte das neu formierte Bundesgesundheitsministerium, die eigentlich für 1. Januar 2022 vorgesehene Einführung des E-Rezepts auf unbestimmte Zeit zu verschieben und stattdessen weiterzutesten (DAZ 2021, Nr. 51, S. 9). Grund: Die technischen Voraussetzungen seien nicht überall gegeben. Das überrascht viele, auch so manchen Arzneimittelversender, dessen geschäftliche Erwartungen stark auf diesen Stichtag und die damit pro­gnostizierten steigenden Rx-Verkäufe ausgerichtet sind. Die Aktien der Zur Rose Group und von Shop Apotheke gehen jedenfalls in einen monatelangen Sinkflug über.

Doch die Verschiebung hat offenbar ihre Gründe: Mitte Januar 2022 stellt sich heraus, dass längst nicht alle im ambulanten Bereich tätigen Ärzte in der Lage gewesen wären, E-Rezepte auszustellen. Laut Bundesärztekammer verfügen mit Stand 5. Januar nur etwa zwei Drittel über einen Heilberufs­ausweis (HBA), eine Grundlage zur Verwendung des E-Rezeptes. Ohne HBA lässt sich keine qualifizierte elektronische Signatur erstellen, die wiederum zum Ablegen eines E-Rezepts auf dem Server unerlässlich ist.

Apotheker atmen auf

Unter Apothekern herrscht nach einer wenig später durchgeführten Apokix-Umfrage (AZ 5, S. 1) weitgehend Erleichterung über die Verschiebung, denn der erwartete Marktdruck durch die großen Arzneimittelversender dürfte sie damit später als befürchtet treffen.

Doch erst mal ist Ende Januar die Gematik am Zuge, jene Gesellschaft, die maßgeblich für die technische Umsetzung und Einführung des E-Rezeptes zuständig ist. Deren Gesellschafter, darunter das Bundesgesundheitsministerium (BMG), legen sich fest, dass die Testphase intensiviert werden soll. Dazu definiert das Unternehmen Qualitätskriterien. Eines lautet: Vor der flächendeckenden Einführung sollen mindestens 30.000 E-Rezepte erfolgreich abgerechnet werden (AZ 5, S. 8).

Die erste, wenn auch kleine, Erfolgsmeldung kommuniziert die Gematik am 10. Februar: 1000 E-Rezepte sind geschafft! Einige Wochen später folgt dann die Nachricht, dass man Ärzten das E-Rezept in einer Testversion näherbringen wolle: Mit einem Test-E-Rezept könnten die Verordner die Abläufe üben – wenn sie wollen, auch zusammen mit einer Apotheke.

Mitte März lädt der Softwareanbieter Pharmatechnik zur Pressekonferenz. Thema: das E-Rezept. Laut Entwicklungsleiter Lars Polap sind bis dato 6000 bis 7000 Apotheken in der Lage, elektronische Verordnungen zu beliefern. Er hält es für realistisch, dass die Zielmarke von 30.000 im Sommer 2022 erreicht wird (DAZ 12, S. 15).

Wenig später rechnet das Management von Zur Rose, Muttergesellschaft von DocMorris, „nun fest“ im laufenden Jahr 2022 mit der Einführung des digitalen Rezeptes. Zur Bewältigung der damit erwarteten Bestell-Volumina will Zur Rose im zweiten Quartal 2022 seine Logistik erweitern und die Kapazität mehr als verdoppeln (AZ 13, S. 4).

Gematik-Manager Hartge: „Sehr hoher Entwicklungsgrad“

In einem Interview mit der DAZ äußert sich Gematik-Manager Florian Hartge zur Zukunft des E-Rezeptes. Rund 6000 digitale Arzneimittelverordnungen, die bis dahin bundesweit in Arztpraxen ausgestellt und in Apotheken eingelöst worden sind, sprechen aus seiner Sicht eine deutliche Sprache. „Wir sind inzwischen bei einem regulären Betrieb in vielen Praxen und Apotheken angekommen. Technisch reden wir also über einen sehr hohen Entwicklungsgrad“, so Hartge (DAZ 13, S. 14).

Allerdings werden im April technische Probleme bekannt. Viele Versicherte können die meisten Funktionen der Gematik-App nicht nutzen und darüber keine E-Rezepte in der Apotheke einlösen. Zur Authentifizierung sind eine NFC-fähige Versichertenkarte und eine PIN notwendig – beides haben bislang aber nur wenige. Die Gematik will daher für die Übergangszeit eine Möglichkeit schaffen, auch ohne Authentifizierung E-Rezepte mit der Gematik-App zu­zuweisen (DAZ 16, S. 12).

Kurz darauf verkündet die Gematik, dass das E-Rezept die 10.000er-Schwelle an eingelösten Verordnungen geknackt hat. Ein „wichtiger Meilenstein auf dem Weg in die flächendeckende Versorgung“ sei geschafft. Allerdings sind noch immer nicht alle Apotheken in der Lage, E-Rezepte zu be­liefern. Bei zwei Software-Anbietern fehlen zudem noch notwendige Updates (AZ 17, S. 1).

Welche Apotheken bereit für das E-Rezept sind, zeigt ab Mitte Mai eine neue digitale Deutschlandkarte der Gematik. Zur gleichen Zeit gründet sich ein Verein von E-Rezept-Befürwortern, die selbst ernannten E-Rezept-Enthusiasten. Deren Ziel ist es, bei der Einführung der elektronischen Verordnungen aufs Tempo zu drücken. Mit dabei sind der Apotheker und ehemalige Spahn-Berater Ralf König sowie Christian Klose, seinerzeit im BMG zuständig für die Digi­talisierung. Auf der Liste der Mitglieder finden sich aber auch die Shop Apotheke, Zava und die Zur-Rose-Tochter eHealth-Tec (AZ 20, S. 2).

Mittlerweile wird bekannt, wie sich das BMG die schritt­weise Einführung des E-Rezepts vorstellt: Demnach soll es zunächst ab September für die Apotheken zur Pflichtanwendung werden. Für Ärzte und Zahnärzte sind regionale Stufen vorgesehen:

  • Ab dem 1. September 2022 für die Bundesländer Schleswig-Holstein und Bayern.
  • Ab dem 1. Dezember 2022 Ausweitung auf sechs weitere Bundesländer.
  • Ab dem 1. Februar 2023 folgen alle restlichen Bundesländer.

Widerstand in Bayern und Schleswig-Holstein

Doch in Bayern und Schleswig-Holstein rührt sich Widerstand. Die betroffenen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) halten den Plan für nicht umsetzbar: „In beiden Bundesländern sind die technischen Voraussetzungen weder in allen Praxen noch in allen Apotheken und Kliniken gegeben“, heißt es. Das Vorgehen von Ministerium und Gematik nennen die KVs „politische Erpressung“ (AZ 20, S. 8).

Derweil publiziert die Unternehmensberatung McKinsey eine Untersuchung zur Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen. Demnach könnten damit jährlich 42 Milliarden Euro eingespart werden, entsprechend 12 Prozent der gesamten jährlichen Gesundheits- und Versorgungs­kosten. Das größte Potenzial sollen die elektronische Patientenakte, Telekonsultationen sowie die Fernüberwachung von chronisch Erkrankten bieten (AZ 22, S. 5).

Anfang Juni fassen die Gematik-Gesellschafter einen Beschluss zum Zeitplan der E-Rezept-Einführung. Dabei setzt das Bundesgesundheitsministerium seine bereits bekannten Pläne mit Blick auf die Apotheken durch: Für sie bleibt es beim 1. September 2022 als Stichtag für die E-Rezept-Pflicht. Den Ärzten kommen die Gesellschafter ein Stück weit entgegen (DAZ 23, S. 9).

Mitte Juni 2022: Während in Deutschland die bundesweite Einführung des elektronischen Rezepts noch auf sich warten lässt, ist unser Nachbarland Österreich bereits einen Schritt weiter: Seit dem 1. Juli 2022 wird dort das E-Rezept offiziell per Gesetz flächendeckend angewendet. Allerdings gibt es vonseiten der Apothekerkammer wie auch der niedergelassenen Ärzteschaft Kritik an fehlenden Karten­lesegeräten sowie weiteren offenen Fragen.

Gematik: Qualitätskriterium erfüllt

Einen Monat später verkündet die Gematik mehr als 33.000 abgerechnete E-Rezepte. Damit sei ein entscheidendes Qualitätskriterium erfüllt – dem Start der Testphase in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe stehe nichts mehr im Weg. Gleichzeitig ruft die Organisation zusammen mit ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening die Apotheken „nochmals“ dazu auf, letzte Vorbereitungen für den E-Rezept-Start zu treffen. Bisher hätten sich erst knapp 7800 Apotheken als E-Rezept-ready gekennzeichnet, dabei sind nach Gematik-Schätzungen schon etwa 90 Prozent der Offizinen technisch bereit für die elektronischen Verordnungen (AZ 29, S. 8).

Anfang August veröffentlicht der niederländische Arzneimittelversender Shop Apotheke Europe seine Halbjahreszahlen. Vorstandschef Stefan Feltens zeigt sich zuversichtlich, dass das Unternehmen von der Einführung des elektro­nischen Rezepts in Deutschland profitieren werde.

Der neue Starttermin 1. September rückt näher. In Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Derweil zeigt sich in Österreich, dass in Apotheken tatsächlich rund 5000 Kartenlesegeräte fehlen. Aktuell ist das in Deutschland kein Thema, könnte es Experten zufolge aber werden, wenn der Abruf der E-Rezepte per eGK startet.

Schleswig-Holstein schert aus

Rolle rückwärts am 22. August 2022. Nur wenige Tage vor dem Start informiert die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein, dass sie sich aus dem E-Rezept-Roll-out zurückzieht (DAZ 34, S. 9). Hintergrund ist, dass die Landesdatenschutzbeauftragte das Weiterleiten des Tokens per E-Mail an die Versicherten für unzulässig erklärt hat. Dagegen heißt es aus Westfalen-Lippe, dass der Start des E-Rezept-Roll-outs ab 1. September wie geplant stattfinden soll. Dabei setzt die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe vor allem auf das Einlösen der Verordnungen über die elektronische Gesundheitskarte (eGK).

Am 2. September, einen Tag nach dem offiziellen Start des E-Rezeptes, beschließt das Bundeskabinett die Digital­strategie der Regierung. Diese sieht vor, dass das E-Rezept bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2025 der Standard in der Arzneimittelversorgung sein soll. Vier von fünf Versicherten sollen zu dem Zeitpunkt die elektronische Patientenakte nutzen (DAZ 36, S. 16).

Eine erste Befragung der DAZ Mitte September zu den bisherigen Erfahrungen mit dem E-Rezept zeigt: Die Zahl der eingelösten E-Rezepte wächst. Es ist aber noch viel Luft nach oben, von reibungslosen Abläufen ist man weit entfernt.

Parallel teilt das von Phoenix und Noventi ins Leben gerufene Portal Gesund.de die Ergebnisse einer eigenen Umfrage mit. Demnach gehen die Befragten davon aus, dass 2023 noch 87 Prozent aller Rezepte als Muster 16 ausgestellt werden, die übrigen 13 Prozent als E-Rezepte. In absoluten Zahlen wären das 79 Millionen E-Rezepte.

Mitte Oktober 2022 ist vorbei, und Kassenärzte-Chef Gassen stellt in einem Interview eine grundsätzliche Frage: Ginge es nach ihm, sollten E-Patientenakte und E-Rezept noch einmal ganz neu entwickelt werden. Derweil dümpelt der E-Rezept-Roll-out vor sich hin. Insbesondere die Transportwege für den Token kristallisieren sich als zentrale Hürde heraus: Was erlaubt ist, gilt als zu kompliziert. Was in der Praxis funktioniert oder funktionieren könnte, ist aus datenschutzrechtlicher Sicht problematisch (DAZ 42, S. 16).

Neuen Schwung könnte dem Vorhaben der Abruf der E-Rezepte via eGK verleihen – doch dieser Übermittlungsweg gerät ins Visier der Datenschützer. Der Ball liegt nun insbesondere beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: Ob es von seinem Vetorecht Gebrauch macht oder die Übermittlung per Karte duldet, könnte für das Projekt von zentraler Bedeutung sein.

Für Ärzte ist es bislang nur wenig reizvoll, auf den E-Rezept-Zug aufzuspringen. Das lässt sich auch an den Zahlen der Gematik ablesen: Stand 25. Oktober 2022 wurden 478.595 elektronische Verordnungen eingelöst. Für einen echten Schub hat der Roll-out damit bislang nicht gesorgt.

Westfalen-Lippe setzt Einführung aus

Anfang November 2022 folgt der nächste Nackenschlag für das digitale Rezept: Nun setzt auch die Kassenärztliche Vereinigung in Westfalen-Lippe die Einführung aus (AZ 45, S. 1). Damit gibt es keine Pilotregion mehr. Hintergrund ist das Veto des Bundesdatenschutzbeauftragten gegen die Gematik-Pläne zum Abruf der E-Rezepte mittels Gesundheits­karte. Die KV hatte dies zur Bedingung gemacht, sich weiterhin aktiv am Projekt zu beteiligen.

Ungeachtet dessen beschließt die Gematik, dass die E-Rezept-Einlösung künftig auch ohne App-Anmeldung möglich ist. Hintergrund ist, dass die Anmeldung in der E-Rezept-App nach wie vor kompliziert ist. Die meisten E-Rezepte landen immer noch in Papierform in den Apotheken.

Derweil harren die Arzneimittelversender und andere Marktteilnehmer ungeduldig der flächendeckenden Verbreitung der digitalen Technologie. Als Erster seiner Branche teilt der Lieferdienst Mayd mit, nun auch digitale Rezepte verarbeiten zu können. Allerdings ist rechtlich unklar, ob derar­tige Plattformen überhaupt E-Rezepte weitergeben dürfen.

Datenschützer legt Veto ein

Mitte November 2022: Der oberste Bundesdatenschützer Ulrich Kelber versetzt dem Projekt einen weiteren Schlag: So wie das Konzept der Gematik zur E-Rezept-Einlösung mit der elektronischen Gesundheitskarte angelegt sei, sei es nicht sicher. Die Nutzung der eGK ohne jeden weiteren Schutz wäre über kurz oder lang ein Desaster. Kelber legt ein Veto ein, will auch keine Zwischenlösung dulden und vergleicht die vorliegende Lösung mit einem Fahrrad ohne Bremse. Konsequenz: Die Gematik muss nachbessern – wieder einmal in dieser schier endlosen Geschichte (DAZ 46, S. 12).

Immerhin, der Glaube an die Technologie geht trotz aller Anlaufschwierigkeiten nicht verloren: Michael Kuck, Vorstandsvorsitzender des Pharmagroß­händlers Noweda, bezeichnet die Einführung des elektronischen Rezepts zwar als „eine scheinbar unendliche Geschichte des Missvergnügens“. Gleichzeitig warnt er davor, es angesichts der technischen und organisatorischen Hürden abzuschreiben. Tatsächlich biete es ein großes Einsparpotenzial und manchen Vorteil für die Patienten. Im Übrigen lasse sich die Politik trotz aller Rückschläge nicht davon abhalten, die Einführung des E-Rezepts voranzutreiben. Kuck: „Die eine oder andere Atempause mag möglich sein. Aber kommen wird das E-Rezept.“ (DAZ 47, S. 16) |

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