ApothekenRechtTag online

Diagnose Digital-Desaster?

Alte und neue Hürden für die Digitalisierung

tmb | Das E-Rezept sollte nach den ersten Plänen der damaligen Regierungskoalition bereits 2006 eingeführt sein, aber bis heute gibt es keine flächendeckende Anwendung der Telematikinfrastruktur (TI). Nicht nur deshalb stellte Peter Schaar, heute unter anderem Vor­sitzender der Schlichtungsstelle der Gematik, in seinem Vortrag der Digitalisierung im Gesundheits­wesen in Deutschland ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis aus. Aber damit nicht genug: Die nächste Regelungswelle im Gesundheits­bereich rollt auf Unionsebene unter dem Stichwort „Europäischer Gesundheits­datenraum“ bereits an.

Peter Schaar war von 2003 bis 2013 Bundesdatenschutzbeauftragter, heute ist er neben seiner Tätigkeit in der Gematik-Schlichtungsstelle Vorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz, Lehrbeauftragter der Universität Hamburg und Autor des soeben erschienenen Buchs „Diagnose Digital-Desaster – Ist das Gesundheitswesen noch zu retten?“

Foto: DAZ/Moritz Hahn

Peter Schaar „Die TI noch einmal neu denken.“

In seinem Vortrag beim ApothekenRechtTag stand zunächst im Vordergrund, welche Gründe die schleppende Digitalisierung im Gesundheitswesens hat. Hier hinkt Deutschland den europäischen Entwicklungen hinterher. Allerdings räumte Schaar ein, dass Deutschland nicht mit Estland, das als Spitzenreiter bei der Digitalisierung gilt, vergleichbar sei. In dem kleinen Land konnte nach der Unabhängigkeit die Verwaltung nämlich „auf einen Schlag“ komplett neu aufgebaut werden – und dies geschah konsequent digital.

Unklare Ziele, fehlender Nutzen

Dagegen hat es Deutschland mit seinen föderalen Strukturen und einem komplexen Selbstverwaltungssystem nicht geschafft, seine Digitalisierungsziele auch nur annähernd zu erreichen. Dafür sieht Schaar neben objektiven auch „hausgemachte“ Gründe. Schon das Ziel sei unklar. Erst in der Pandemie sei deutlich geworden, dass grundlegende Daten und Strukturen fehlen. Die Politik konzentriere sich auf große Projekte wie den Aufbau der Telematikinfrastruktur, die aber bis heute kaum erkennbaren Nutzen stifte. Außerdem werde meist versucht, analoge Prozesse digital umzusetzen, anstatt sie neu zu denken. Beispielsweise werde die elektronische Patienten„akte“ (ePA) bisher wie eine Papierakte angelegt. Weitere Hindernisse sieht Schaar in inkonsistenten und parallelen Strukturen sowie ganz besonders in den Gegensätzen innerhalb der Selbstverwaltung. Die unterschiedlichen Interessen von Krankenkassen und Leistungserbringern würden zu Blockadesituationen führen, die nur sehr langsam aufzulösen seien. Doch auch die Ministerialverwaltung könne die Digitalisierung nicht einfach durchsetzen, weil sie zu weit von der Praxis entfernt sei. Zudem werde viel zu wenig an die Nutzer gedacht. Wer mit den digitalen Instrumenten um­gehen solle, müsse einen Mehrwert haben – „qualitativ in der Arbeit oder wirtschaftlich“, forderte Schaar.

Langer Weg mit wenig Ergebnis

Schaar beschrieb, welchen langen Weg die Digitalisierung im Gesundheitswesen bereits hinter sich hat. Den Beginn siedelt er in einem Gutachten der Unternehmensberatung Roland Berger aus den 1990er-Jahren an. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt wollte mit einem Gesetz von 2003 bereits Anfang 2006 den Regelbetrieb der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) starten! Doch bis heute ist das Versichertenstammdatenmanagement die einzige verbreitete Anwendung der TI. Im April 2023 hatten erst weniger als ein Prozent der GKV-Versicherten eine ePA, die aber von vielen Arztpraxen ignoriert wird und die eine gewünschte Arzneimittelsicherheitsprüfung nicht unterstützt. Auch die neuesten Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht Schaar kritisch. Schaar kann nicht erkennen, wie das E-Rezept bis 2024 zum Standard werden soll. Außerdem plant Lauterbach, dass 80 Prozent der GKV-Versicherten bis 2025 eine ePA erhalten. Dafür möchte der Minister statt der Zustimmungsregel (opt-in) eine Widerspruchsregel (opt-out) einführen. Schaar mahnte zu unterscheiden, ob sich dies auf die Anlage der ePA, den Zugriff durch Leistungs­erbringer oder den Zugriff durch die Forschung bezieht. Außerdem fehle noch eine Definition für die gewünschte Patienten-Kurzakte. Und wie stehe es mit der Patientensouveränität über die eigenen Daten?

Von der Selbstverwaltung zur Behörde

Probleme sieht Schaar auch in der zentralen Institution für die TI. Er zeichnete den merkwürdigen Weg der Gematik nach, die als Organ der Selbstverwaltung geschaffen wurde, inzwischen zu 51 Prozent vom Bund kontrolliert wird und nach den neuesten Plänen vollständig vom Bundesgesundheitsministe­rium übernommen werden soll. Dann werde sie „faktisch eine nachgeordnete Behörde“, erklärte Schaar. Einige Aufgaben, wie die Zulassung von Diensten, seien als staatliche Aufgabe sinnvoll. Doch Schaar bezweifelte, ob dieselbe Institution dann auch den Betrieb – beispielsweise beim E-Rezept – übernehmen sollte und die Digitalisierung schneller voranbringe. Problematisch sei auch, dass die Gematik so unterschiedliche Aufgaben erfüllen solle.

Foto: DAZ/Moritz Hahn

Referent und Buchautor im Gespräch mit Moderator und Verleger.

Neue Aufgabe von der EU

Zu den Funktionen auf nationaler Ebene kommen auf europäischer Ebene weitere Aufgaben: die EU-Kommission plant nämlich die Etablierung eines Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS). Dabei handelt es sich um ein Mega-Pilotprojekt zur Schaffung wei­terer „digitaler Räume“, die nach den Vorstellungen der EU-Kommission für verschiedene Wirtschaftsbereiche geschaffen werden sollen. Darin sollen die Beteiligten weitgehend frei mit den dort vorhandenen Daten arbeiten können. Dafür müssen zunächst gemein­same Standards und Verfahren geschaffen werden, die den Austausch über Grenzen hinweg ermöglichen. Dann sollten europaweit E-Rezepte auch in anderen EU-Ländern eingelöst werden können. Außerdem ist vorgesehen, dass ausländische Krankenhäuser auf die elektronische Patientenakte zugreifen können, was derzeit noch nicht einmal innerhalb Deutschlands gelingt. Bei der europäischen ePA gehe es auch um Dateiformate für eine Patienten-Kurzakte. Insgesamt drohen damit auf nationaler und europäischer Ebene digitale Doppelstrukturen. Die deutschen Vorgaben könnten so schnell wieder obsolet werden, da letzten Endes natürlich der europäische Standard entscheidend ist.

Beim Umgang mit den Daten müssen, so Schaar, Primär- und Sekundär­nutzung unterschieden werden. Die Primärnutzung für die Gesundheitsversorgung betrachtet Schaar als gute Idee, weil die Patienten so überall in der EU versorgt werden könnten. Für die Sekundärnutzung zu Forschungszwecken seien jedoch strenge Auf­lagen nötig. Allerdings sei die Vor­gehensweise bei der Pseudonymisierung oder Anonymisierung noch unklar. Dass dabei aufseiten der Patienten weder eine Einwilligung noch ein Widerspruch vorgesehen sei, sieht Schaar sehr kritisch, weil dabei Institutionen, zu denen der Patient keine Vertragsbeziehung hat, auf die entsprechenden Daten zugreifen könnten.

Neue Pläne und neue Fragen

Für eine europäische Umsetzung fehle auch die entscheidende Basis – die digitale Identität. In Deutschland identifizieren sich die Patienten über die eGK, die eine bestimmte Hard- und Software erfordert. Für die EU ist das Vorgehen noch offen. Die sehr stark an der Hardware orientierte Telematik­infrastruktur in Deutschland hat sich als schwerfällig erwiesen und soll daher durch eine rein virtuelle TI 2.0 ersetzt werden, die ohne Konnektoren auskommt. Die Patienten sollen sich über ihr Smartphone identifizieren. Doch die geplante Umsetzung bis 2025 hält Schaar für „völlig unrealistisch“. Insbesondere bleibt offen, wie Patienten ohne Smartphone das System nutzen sollen. Für die ePA schlägt Schaar einen fallbezogenen Ansatz vor. Insgesamt sieht er insbesondere durch den parallel entstehenden europäischen Gesundheitsdatenraum mehr offene als beantwortete Fragen. Darum fordert Schaar: „Man muss die TI noch mal neu denken.“ |

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