Arzneimittel und Therapie

Weniger MS-Schübe durch Vitamin D?

Tägliche Einnahme von 5000 IE hat keinen Einfluss auf die Krankheitsaktivität

Reduzieren 5000 IE Vitamin D täglich die Schubrate bei schubförmig remittierender multipler Sklerose? Eine kürzlich veröffentlichte Studie vergleicht Nutzen und Risiken von 600 IE mit einer höheren Dosis von 5000 IE pro Tag.

Hochdosis-Vitamin D und multiple Sklerose (MS): Welchen Einfluss hat Vitamin D auf den Verlauf der demyelinisierenden, neurodegenerativen Autoimmunerkrankung? Bekannt ist, dass Menschen in Regionen um den Äquator seltener an multipler Sklerose erkranken, während die Erkrankung in Ländern mit höherem Breitengrad und potenziellem Vitamin-D-Mangel in den Wintermonaten häufiger auftritt. Frühere Studien legen nahe, dass hohe Spiegel an zirkulierendem Vit­amin D mit einem geringeren Risiko für multiple Sklerose verbunden sind [1]. Unklar ist jedoch noch immer, ob eine gezielte Supplementierung von Vit­amin D (über die Behebung des Mangels hinaus) die Prog­nose der Erkrankung begünstigt.

Wissenschaftler veröffentlichten nun ihre Forschung dazu: Sie hatten mit der VIDAMS-Studie (Vitamin D to ameliorate MS) prospektiv untersucht, ob eine höhere Dosierung (5000 IE pro Tag) gegenüber einer niedrigen Dosierung (600 IE pro Tag) Vitamin D3 zusätzlich zur krankheitsmodifizierenden Erst­linientherapie mit Glatirameracetat die Krankheitsaktivität bei Patienten mit schubförmig remittierender MS (RRMS) über 96 Wochen verringert [2].

Foto: fidaolga/AdobeStock
Vitamin D3 wurde in der VIDAMS-Studie in Dosierungen von 600 IE und 5000 IE pro Tag verabreicht. Laut deutscher Leitlinie gelten auf Dauer 4000 IE täglich bei Erwachsenen als sicher.

Design der VIDAMS-Studie

Die multizentrische (16 neurologische Kliniken in den USA), randomisierte, kontrollierte, doppelblinde Phase-III-Studie schloss Menschen mit aktiver schubförmiger MS ein: Sie hatten im letzten Jahr mindestens einen klinischen Schub und zeigten eine Krankheitsaktivität in der Magnetresonanz­tomografie (mindestens eine neue stumme T2-Läsion oder Gadolinium-anreichernde Läsion) oder sie hatten in den letzten zwei Jahren mindestens zwei klinische Schübe, von denen einer im letzten Jahr aufgetreten sein musste. Teilnehmen durften auch Menschen mit einem klinisch isolierten Syndrom (nach den McDonald-Kriterien von 2005), wenn der Erkrankungsbeginn maximal ein Jahr zurücklag. Zudem definierten die Wissenschaftler als Einschlusskriterium einen Maximalwert von 4 auf der EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale), das bedeutet, die Patienten sind gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 500 m und aktiv während etwa zwölf Stunden pro Tag. Der 25-Hydroxy-Colecalciferol-­Serumspiegel musste außerdem bei mindestens 15 ng/ml innerhalb von 30 Tagen nach Screening liegen, denn Patienten mit schwerem Mangel sollten aus ethischen Gründen nicht die geringe Dosierung erhalten und durften deswegen nicht teilnehmen. Die Probanden hatten eine durchschnittliche tägliche Vitamin-D3-Zufuhr von ≤ 1000 IE in den 90 Tagen vor Screening. Bezogen auf das Alter, waren die Patienten weniger als zehn Jahre nach Diagnose zwischen 18 und 50 Jahre alt. Eingeschlossen wurden Teilnehmer zwischen 2012 und 2019, die Studie lief bis 2021. Nach erfolgreichem Screening injizierten die 183 Teilnehmer für einen Monat zunächst täglich subkutan 20 mg Glatirameracetat. Waren die Patienten adhärent und hatten höchstens drei Dosen versäumt (n = 172), wurden sie im Verhältnis 1:1 randomisiert und erhielten pro Tag entweder 600 IE (n = 83) oder 5000 IE (n= 89) Vitamin D3. Laut den Studienautoren sollte eine Tagesdosis von 600 IE die 25-Hydroxy-Colecalciferol-Serumspiegel kaum verändern, während sie erwarteten, dass eine tägliche Einnahme von 5.000 IE den 25-Hydroxy-Colecalciferol-Serumspiegel auf etwa 60 ng/ml anheben würde. Die Wissenschaftler beobachteten die Teilnehmer über einen Zeitraum von 96 Wochen in 12-Wochen-­Intervallen, unter anderem, um die Serumcalcium-Werte zu überwachen. Als primären Endpunkt wählten sie die Wahrscheinlichkeit eines klinischen Schubs nach 96 Wochen. Das Hauptziel der Studie war damit herauszufinden, ob höhere Dosierungen von Vitamin D3 im Vergleich zu niedrigeren Dosierungen als Zusatz zu Glatiramer­acetat bei RRMS den Anteil der Teilnehmer verringern, die nach 96 Wochen einen bestätigten klinischen Rückfall erlitten. Als klinischer Rückfall galt, wenn neue neurologische Symptome auftraten oder sich bestehende verschlechterten, diese für mindestens 24 Stunden anhielten und wenigstens 30 Tage nach dem letzten Schub auftraten. Die Ärzte bestätigten einen Schub bei Verschlechterung auf der EDSS-Skala um mindestens 0,5 Punkte.

Kein Unterschied bei klinischen Schüben

Ob Teilnehmer in der geringeren oder höheren Vitamin-D-Gruppe waren, erkannte man an den Serumwerten: In der Gruppe mit der niedrigen Dosierung erreichten die Teilnehmer nach 24 Wochen Supplementierung einen durchschnittlichen 25-Hydroxy-Colecalciferol-Wert von 31,9 ng/ml und nach 96 Wochen von 30,3 ng/ml. In der Gruppe mit der hohen Dosierung erreichten die Studienteilnehmer mittlere 25-Hydroxy-Colecalciferol-Serumspiegel von 52,5 ng/ml nach 24 Wochen und 54,0 ng/ml nach 96 Wochen. Keine Unterschiede konnten die Wissenschaftler jedoch nach 96 Wochen bei den bestätigten klinischen Schüben erkennen: Es traten 24 Schübe in der Studiengruppe mit 600 IE Vitamin D3 pro Tag auf versus 28 Schübe in der 5000-IE-Studiengruppe (32% vs. 34%).

Auch hinsichtlich der unerwünschten Wirkungen zeigten sich keine Unterschiede in den beiden Gruppen: Es kam keine Hypercalc­ämie vor, doch entwickelten drei Teilnehmer (einer in der 600-IE- und zwei in der 5000-IE-Gruppe) Nieren- bzw. Harnleitersteine, wobei nur zwei möglicherweise im Zusammenhang mit der Studien­medikation standen.

Vitamin D in der Leitlinie

In der S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ wird mit starkem Konsens empfohlen, den Vitamin-D-Spiegel bei Patienten mit multipler Sklerose zu überprüfen. Wird ein Mangel festgestellt, so soll dieser etwa durch Supplementation ausgeglichen werden. Vor Vitamin D in hohen Dosierungen wird ausdrücklich gewarnt. Diese könnten akut toxisch sein und in eine Hypercalc­ämie münden oder langfristige Gesundheitsschäden, z. B. Nierensteine oder -verkalkungen, nach sich ziehen. Zudem gebe es Hinweise auf eine erhöhte Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität, wenn dauerhaft zu hohe Vitamin-D-Dosierungen eingenommen würden. Als sicher gilt für Erwachsene eine dauerhafte Zufuhr von täglich insgesamt 4000 IE Vitamin D3. Die Leitlinienautoren äußern sich kritisch zu dem Coimbra-Protokoll, bei dem anhand des Parathormon-Spiegels auf bis zu 60.000 IE Vitamin D3 titriert wird. Risiken seien hier „nicht auszuschließen“.

Laut der Studienautoren deuteten die Ergebnisse zusammen mit den Null­befunden früherer Studien darauf hin, dass die Verschreibung höherer Vit­amin-D-Dosierungen zur Änderung des Verlaufs einer RRMS möglicherweise nicht von Nutzen sei. Die Wissenschaftler beziehen sich hierbei auf die Studien CHOLINE und SOLAR. In CHOLINE beispielsweise hatten 90 RRMS-Patienten über 96 Wochen jede zweite Woche entweder 100.000 IE Vit­amin D3 oder Placebo jeweils zu Interferon-beta erhalten. Primäres Ziel war die Veränderung der jährlichen Schubrate – dieses wurde nicht erreicht. Allerdings deuteten die Daten den damaligen Studienautoren zufolge auf einen „potenziellen Behandlungseffekt“ in der Vitamin-D-Gruppe hin [3].

War Vitamin D zu gering dosiert?

Auch die Studienautoren der aktuellen VIDAMS-Studie räumen ein: „Wir können nicht ausschließen, dass ein anderer 25-Hydroxy-Colecalciferol-Serumspiegel erforderlich ist, um einen Behandlungseffekt zu erzielen, oder dass nur Untergruppen von MS-Patienten auf eine Hochdosis-Vitamin-D-Supplementierung ansprechen.“ [2] Deswegen würden „zukünftige Forschungsarbeiten eine geplante Metaanalyse der Daten einzelner Teilnehmer aus den Studien CHOLINE, SOLAR und VIDAMS umfassen“, um die statistische Aussagekraft zu erhöhen und diese Fragen weiter zu untersuchen.

Studie zum Coimbra-Protokoll mit der Charité

Die aktuelle S2k-Leitlinie zu multipler Sklerose gibt keine Empfehlungen zu hoch dosiertem Vitamin D (s. Kasten: „Vitamin D in der Leitlinie“) [4]. Das sogenannte Coimbra-Protokoll ist derzeit wissenschaftlich nicht anerkannt. Coimbra-Ärzte stützen ihre proklamierten Erfolge bei Autoimmunerkrankungen wie der multiplen Sklerose jedoch auch auf deutlich höhere Vitamin-D-Dosierungen von etwa 1000 IE pro kg Körpergewicht täglich. Eine nun gestartete dreijährige Studie mit 100 Teilnehmern in Zusammenarbeit mit der Berliner Charité soll jetzt zunächst zeigen, dass bei sachgemäßer Anwendung des Coimbra-Protokolls dieses den Patienten nicht schadet. Am Ende der Beobachtung sollen die Daten mit ähnlichen Fällen aus dem laufenden Studienre­gister der Charité verglichen werden, um die Wirksamkeit – oder Unwirksamkeit – der sehr hohen Vitamin-D-­Dosierungen zu dokumentieren [5]. |

 

Literatur

[1] Munger KL et al. Serum 25-hydroxyvitamin D levels and risk of multiple sclerosis. JAMA 2006;296(23):2832–2838, doi: 10.1001/jama.296.23.2832

[2] Cassard SD et al. High-dose vitamin D3 supplementation in relapsing-remitting multiple sclerosis: a randomised clinical trial. eClinicalMedicine 2023;59:101957, doi: 10.1016/j.eclinm.2023.101957

[3] Camu W et al. Cholecalciferol in relapsing-remitting MS: A randomized clinical trial (CHOLINE). Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2019;6(5):e597, doi: 10.1212/NXI.0000000000000597

[4] Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Stand: November 2022

[5] Verlaufsbeobachtung „Coimbraprotokoll in der MS“. Informationen der Coimbraprotokoll gemeinnützige UG, https://coimbraprotokoll.de/projekte/

Apothekerin Celine Bichay

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