Aus den Ländern

Bevölkerungs- und patientenorientierte Primärversorgung mit Apotheken

Bericht zur VdPP-Fachtagung in Berlin

Primärversorgung – das ist mehr als pflegerische, hausärztliche und apothekerliche Grundversorgung. Gesundheitliche Ungleichheit steht im Fokus; sozial Benachteiligte sollen erreicht werden. Interdisziplinäre Versorgung soll Prävention, Gesundheitsförderung und soziale Arbeit integrieren. Über diese und weitere Themen wurde auf der Fachtagung des Vereins demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) informiert.

Dr. Thomas Zimmermann, Versorgungsforscher an der Hamburger Universität, stellte exemplarisch die dramatische Ungleichverteilung ärztlicher Praxen dar. Sozial besser gestellte, privilegierte Regionen sind bestens (über)versorgt, sozial benachteiligte und strukturschwache aber im Nachteil. Ärztinnen und Ärzte wandern ab. Dazu kommen einerseits Renteneintritte, andererseits eine mangelnde Niederlassungsbereitschaft, sodass 5000 Praxissitze unbesetzt sind (Stand 2021).

Soziale Unterschiede bedeuten fünf bis neun Jahre kürzere Lebenserwartung in benachteiligten Regionen. Zimmermanns Fazit: „Wir haben nicht zu wenig Ärzte, sondern vor allem ein Problem der Struktur, der Verteilung und der sozial bedingten Ungleichheit.“ Viele Länder, etwa die Niederlande, haben vor Jahren Primärversorgungszentren etabliert, Deutschland aber nicht. Welche Wege sind sinnvoll? Kioske bieten niedrigschwelligen Zugang und sind multiprofessionell besetzt und sollen Orientierung bieten. Ihr Ziel ist, den Menschen zur richtigen Zeit den Weg in die jeweils erforderliche Einrichtung zu weisen.

Foto: VdPP

Primärmedizinische Versorgungs­zentren (PVZ) sind bedarfsorientierte allgemeinmedizinische Angebote und in multiprofessionellen Teams auch für Gesundheitsförderung zuständig. Es gibt viele Hürden und gute Erfolge.

Felix Maul (AOK Rheinland/Hamburg) berichtete über die Versorgungsinnovationen seiner Krankenkasse. Alle Menschen sollen unabhängig von ihrem sozialen Status die gleichen Gesundheitschancen haben. Denn: Soziale Ungleichheit führt zu gesundheitlicher Ungleichheit. Präventionsangebote werden zu selten genutzt. Es gibt einen Mangel an koordinativer Netzwerk­arbeit. Kioske oder Zentren sollten nach soziodemografischer Analyse platziert werden, nach sozialer Lage, Morbidität und dem Versorgungsbedarf.

In der Städteregion Aachen bietet ein Bus flexibel Beratung an. In Köln wird unter einem Dach (DieKümmerei) zu den Themen Sucht, Familie, Migration, Krebs, Schulden und Senioren beraten.

Die Kooperation mit Apotheken scheiterte bisher; nur in Aachen blieb eine Apotheke im Netz. Kontakt mit der Apothekerkammer in der Städteregion Aachen besteht. Dass sich Krankenkassen neuen Versorgungsnetzwerken aktiv öffnen, sollte als Anregung zur Kooperation verstanden werden.

Sabine Haul ist qualifiziert als geriatrische Pharmazeutin und AMTS-Managerin und hat Erfahrungen: Sie arbeitet in der Elefanten-Apotheke Hamburg Bergedorf, die mit dem Demenznetzwerk Bergedorf und dem Lohbrügger Gesundheitszentrum vernetzt ist. Wichtig ist der „vernetzte“ Runde Tisch, denn schon die Kooperation in regionalen interprofessionellen Netzwerken erweitert die Perspektive enorm.

Die Medikationsanalyse, Kontakte mit den Ärztinnen und Ärzten und Gespräche mit den Patientinnen und Patienten können zu einer sicheren Arzneimitteltherapie beitragen und die Adhärenz erhöhen, darum sollte die Medikationsanalyse Pharmazeu­tische Dienstleistung werden.

Sabine Hauls Arbeit beruht auf eigenen Initiativen und unermüdlicher Überzeugungsarbeit. Gefragt sind alle pharmazeutischen Qualifikationen: Pharmakologie, Pharmakokinetik, Symptomgenerierung, auch der Galenik usw. So werden wichtige Hinweise für Pflegekräfte und behandelnde Ärztinnen bzw. Ärzte gewonnen, die aber darauf unterschiedlich reagieren: von ablehnend (ich weiß schon, was ich tue) bis kooperativ (ich finde das total hilfreich). Der Nutzen für alle im Netz Beteiligten: Entlastung, klare Zuständigkeiten, Vermeidung von Über/Untermedikation – und für die Patienten verbesserte Lebensqualität und Lebenserwartung.

Apotheken werden in den entstehenden Zentren oft vergessen. Es liegt an ihnen, sich einzubringen und als überzeugende Partner in vernetzten Systemen unverzichtbar zu werden. Die Berliner Apothekerkammerpräsidentin, Dr. Kerstin Kemmritz, zeigte sich offen für neue Versorgungsansätze. Die Berliner Kammer hatte in einem Antrag zum Deutschen Apothekertag 2022 gefordert, für Apothekenberufe eine Fortbildung zu Gesundheitslotsen zu entwickeln und damit die Apotheke als Gesundheitszentrum zu stärken. Der Antrag wurde nicht behandelt. Dranbleiben! |

VdPP Vorstand

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