Arzneimittel und Therapie

Mehr drin als draufsteht

Extreme Gehaltsschwankungen bei Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln in den USA

Wie viel Melatonin ist wirklich in Nahrungsergänzungsmitteln enthalten? Diese Frage stellten sich US-amerikanische Mediziner, unter anderem angesichts eines alarmierenden Berichts der nationalen Giftinformationszentralen.

In dem Bericht wurde jüngst auf eine drastische Zunahme Melatonin-bedingter Intoxikationen bei Kindern und Jugendlichen hingewiesen. Im Zehn-Jahres-Zeitraum von 2012 bis 2021 wurden den US-amerikanischen Giftinformationszentralen 260.435 Fälle einer – größtenteils unbeabsichtigten – Einnahme von Melatonin-Supplementen bei Minderjährigen gemeldet [1]. Auch wenn die meisten Anrufe bei Giftnotrufzentralen im Zusammenhang mit Melatonin wahrscheinlich vorsorglich erfolgt sind, können neben Schläfrigkeit, Kopfschmerzen oder Unruhe auch Erbrechen, Durchfall oder Übelkeit auftreten. In schwereren Fällen wurde auch eine Atem­depression berichtet [1]. In jedem zehnten Fall musste ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden. Diese mündete bei etwas mehr als 4000 Betroffenen in einer stationären Aufnahme, bei 287 davon auf der Intensivstation. Zwei Kinder, drei und 13 Monate alt, verstarben gar im häuslichen Umfeld nach der Einnahme Melatonin-haltiger Nahrungsergänzungsmittel.

Foto: Viktoriia/AdobeStock
Melatonin-Weichgummis waren Gegenstand einer US-amerikanischen Studie, in der der Gehalt dieser Nahrungsergänzungsmittel unter die Lupe genommen wurde. Denn besonders diese Darreichungsform kann - beabsichtigt oder unbeabsichtigt – vor allem von Kindern verzehrt werden.

Deklarierte Menge teils um mehr als 400% überschritten

Melatonin ist ein natürlicherweise vorkommendes Hormon, das mit Serotonin strukturverwandt ist. Es ist assoziiert mit der Steuerung des zirkadianen Rhythmus und der Synchronisation der inneren Uhr mit dem Tag-Nacht-Zyklus. Ebenfalls wird es in Zusammenhang gebracht mit einer schlafanstoßenden Wirkung und einer Erhöhung der Schlafneigung.

In den USA gibt es keine von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zugelassenen Melatonin-Produkte, dort sind sie als diätetische Supplemente oder Nahrungsmittel erhältlich. Welche Dosierungen und begleitende Umstände zu den schwerwiegenden Ereignissen geführt haben, wurde dabei nicht näher ausgeführt. Dennoch sollte eine Überlegung der Frage gelten, ob auch der Konsum überdosierter Präparate eine Rolle gespielt haben könnte. Zumal kana­dische Wissenschaftler bereits 2017 zeigen konnten, dass Melatonin-haltige Nahrungsergänzungsmittel vielfach mehr als die deklarierte Menge enthielten (bis zu + 478%) und der Gehalt auch chargenabhängig stark variabel war [2]. Es wurde von Gehaltsschwankungen zwischen verschiedenen Chargen eines Produkts um bis zu 465% berichtet [2] (s. Kasten „Was ist in Deutschland in Nahrungsergänzungsmitteln erlaubt?“).

Was ist in Deutschland in Nahrungsergänzungsmitteln ­erlaubt?

dab | Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) weist darauf hin, dass Nahrungsergänzungsmittel nur der Ergänzung der allgemeinen Ernährung von gesunden Personen dienen. Sie müssen nur die Vorgaben des Lebensmittelrechts (Lebens- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB und Nahrungsergänzungsmittelverordnung) erfüllen und werden nicht durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte oder die Europäische Zentralbehörde in einem Prüfverfahren zugelassen. Da die strengeren Vorgaben des Arzneimittelrechts nicht gelten, darf die tatsächlich in einem Nahrungsergänzungsmittel vorhandene Menge eines Inhaltsstoffes um bis zu 50% von der auf der Packung deklarierten Angabe abweichen. Im Vergleich dazu darf die Abweichung bei Arzneimitteln maximal 5% betragen. Zudem sind für Nahrungsergänzungsmittel keine Höchstmengen für Inhaltsstoffe vorgeschrieben – einzige Ausnahme sind technologische Zusatzstoffe [4].

Aufnahme unvorhersehbarer Wirkstoffmengen

Für den US-amerikanischen Markt analysierten nun Forschende der Universitäten von Harvard und Mississippi den Melatonin-Gehalt von Supplementen, speziell von Weichgummis [3]. Ebensolche Präparate, die unbedarft – aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Süßigkeiten – von Kindern konsumiert werden, aber auch missbräuchlich eingesetzt werden. Das Team um Professor Pieter A. Cohen recherchierte in der NIH Dietary Supplement Label Database nach Melatonin-haltigen Produkten, 25 verschiedene Melatonin-haltige Weichgummiprä­parate, die im Jahr 2022 auf dem US-Markt erhältlich waren, wurden in ihre Untersuchung eingeschlossen. Die deklarierten Melatonin-Mengen lagen zwischen 1 mg und 10 mg pro Einzeldosis. Bei der großen Mehrzahl, genauer gesagt bei 22 der 25 Produkte, stellten sich im Labor nennenswerte Abweichungen des tatsächlichen vom deklarierten Melatonin-Gehalt heraus, diese lagen zwischen + 74% und + 347%. Der Spitzenreiter enthielt beispielsweise statt der auf dem Etikett angegebenen 3 mg Melatonin stolze 10,4 mg. Nur drei der 25 untersuchten Produkte wichen in ihrem Gehalt um weniger als ± 10% vom deklarierten Inhalt ab. Negativ fiel auch ein Melatonin-Cannabidiol-Kombipräparat auf, welches nur Cannabidiol (CBD), aber kein Melatonin enthielt. Generell mahnten die Autoren einen, wenn auch deklarierten, CBD-Zusatz in jedem fünften Melatonin-Weichgummipräparat an. Sie raten Ärzten, Eltern dafür zu sensibilisieren, dass der Einsatz von entsprechenden Supplementen bei Kindern zu einer Aufnahme unvorhersehbarer Mengen von Melatonin und/oder Cannabidiol führen kann.

Zum Weiterlesen

Foto: Panova/AdobeStock

Hintergrundwissen zum Einsatz von Melatonin bei jüngeren Patienten lesen Sie im Beitrag „Melatonin ist kein Schlafhormon!“ Erfahrungen eines Kinder- und Jugend­arztes in der DAZ 2022, Nr. 14, S. 22.

Darin sprach Apothekerin Dr. Verena Stahl mit dem Kinder- und Jugendarzt und Schlafmediziner Dr. Alfred Wiater. Er rät davon ab, Melatonin ohne ärzt­liche Aufsicht anzuwenden.

Wenn Sie das gesamte Interview lesen möchten, geben Sie einfach den Webcode Q9VR6 in die Such­funktion auf DAZ.online unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de ein und Sie gelangen direkt dorthin.

Keine Aussage zu Produkten in Deutschland

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Melatonin-Konsumenten in Deutschland darauf achten sollten, keine Produkte aus dem Ausland zu beziehen. Ob auch Melatonin-haltige Supplemente hiesiger Anbieter im deklarierten Inhalt abweichen, wurde indes noch nicht untersucht. Ein wichtiger Tipp ist jedoch universell: Um eine (versehentliche) Einnahme durch Kinder zu vermeiden, sollten Melatonin-haltige Präparate grundsätzlich außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahrt werden. |

Literatur

[1] Lelak K et al. Pediatric Melatonin Ingestions — United States, 2012–2021. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2022;71(22):725–729, doi: 10.15585/mmwr.mm7122a1

[2] Erland LAE, Saxena PK. Melatonin natural health products and supplements: presence of serotonin and significant variability of melatonin content. J Clin Sleep Med 2017;13:275–281, doi: 10.5664/jcsm.6462

[3] Cohen PA et al. Quantity of Melatonin and CBD in Melatonin Gummies Sold in the US. JAMA 2023;329(16):1401–1402, doi: 10.1001/jama.2023.2296

[4] Nahrungsergänzungsmittel vs. Arzneimittel. Informationen des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/03_Verbraucher/04_NEM/01_NEM_Arzneimittel/NEM_Arzneimittel_node.html

Apothekerin Dr. Verena Stahl

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