DiGA

Migräne vorbeugen mit Ernährungs-App

Attacken-auslösende Blutzuckerspitzen mit digitaler Gesundheitsanwendung vermeiden

jr | Wann, wie und warum es zu Migräneattacken kommt, ist nicht abschließend geklärt. Die Glucose-Homöostase des Gehirns könnte wohl eine entscheidende Rolle spielen. Werden Nahrungsmittel verzehrt, die die Blutglucose-Konzen­tration stark erhöhen, wird Insulin ausgeschüttet. Dies führt zu einem starken Abfall des Blutzuckerspiegels. Durch niedrige Glucose-Werte könnte dann eine Migräneattacke ausgelöst werden. Eine kürzlich zugelassene digitale Gesundheits­anwendung in Form einer App soll hier Abhilfe schaffen: Mit Unterstützung einer App sollen Migränepatienten eine Ernährungsweise lernen, die auf Lebensmittel verzichtet, die individuelle Blutzuckerspitzen auslösen. Dadurch könnten die monatlichen Migränetage reduziert werden [1].
Foto: Perfood GmbH

Lifestyle-App gegen Migräneattacken Digitale Gesundheitsanwendungen sind Medizinprodukte, deren Hauptfunktion auf digitalen Technologien beruhen.

In einigen Studien der letzten Jahre wurde festgestellt, dass ein stark schwankender Blutzucker- oder Insulin-Spiegel bei Migränepatienten eine Attacke auslösen kann. Kurz vor oder in der Anfangsstufe einer Migräneepisode ist der Blutzuckerspiegel der Patienten oft im Vergleich zu den individuellen Normalwerten erhöht. Außerdem konnte eine subklinisch verschlechterte Insulin-Toleranz bei an Migräne Erkrankten beschrieben werden. Vor allem bei Personen, die an chronischer Migräne leiden, ist (im Vergleich zu episodischer Migräne) die Insulin-Sensitivität oft verschlechtert. In der klinischen Praxis ist auffällig, dass Fasten oder das Weglassen von Mahlzeiten möglicherweise Migräneanfälle triggern [3, 4].

Mithilfe einer digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) wie SinCephalea werden personalisierte Ernährungsempfehlungen erstellt, die dem Migränepatienten helfen, Blutzuckerspitzen zu vermeiden, denn die Blutzuckerantwort auf Nahrungsmittel ist bei jedem Menschen unterschiedlich, aber intraindividuell reproduzierbar [5]. Dazu wird mit einem Glucose-Sensor und spezifischen Testmahlzeiten die individuelle Blutzucker­reaktionen gemessen. Ziel des dreimonatigen Programms ist es, bestimmte Lebensmittel, die beim Patienten eine starke Insulin-Antwort hervorrufen, zu erkennen und weitestgehend wegzulassen und dadurch die Zahl der monatlichen Migränetage zu senken.

GKV übernimmt Kosten

Seit Oktober 2022 kann ein Arzt oder Psychotherapeut die digitale Gesundheitsanwendung SinCephalea des Start-ups Perfood GmbH zur Migräneprophylaxe verschreiben. Die Kosten werden von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, Voraussetzung ist die gesicherte Diagnose Migräne mit oder ohne Aura. Verschreibt der Arzt die Anwendung, kann der Patient das Rezept bei der Krankenkasse einreichen und ein Freischaltcode wird zugesendet. Dieser Code wird in der herunter­geladenen App zur Aktivierung ein­gegeben. Migränepatienten können sich auch direkt an ihre Kranken­kasse zur Kostenübernahme wenden.

Ernährung gegen Attacken

In der Anwendungsbeobachtung, die zur Zulassung der App als digitale Gesundheitsanwendung beigetragen hat, konnte durch das Benutzen der App die Zahl der Migränetage durchschnittlich um 2,4 Tage gesenkt werden (44% Rückgang). Bei 58% der 71 Patienten wurde eine mindestens 30%ige Reduktion der Migränetage erreicht. Vor der Studie litten die Teilnehmer an mindestens drei Tagen im Monat an Migräne, durchschnittlich an 3,5 Tagen. Durch das Programm konnten die durchschnittlichen Migränetage auf 3,0 reduziert werden. Auch das subjektive Schmerzempfinden verbesserte sich.

Zum Studiendesign: In der vierwöchigen Baseline-Phase der Anwendungsbeobachtung füllten die Teilnehmer ein Schmerztagebuch aus und einen Fragebogen zur Alltagsbelastung durch die Migräne. In den zwölf Wochen der Interventionsphase wurde die App benutzt und im letzten Monat ebenfalls das Schmerztagebuch und die Fragebögen ausgefüllt [4, 5].

Der Algorithmus der digitalen Technologie errechnet personalisierte Ernährungsempfehlungen, die zu einer stabilen postprandialen Blutzuckerantwort beitragen sollen. In einer zweiwöchigen Einstellungsphase wird zunächst über einen Sensor am Oberarm kontinuierlich die Glucose-Konzentration des Gewebes gemessen. Parallel dazu füllt der Patient in der App ein Ernährungstagebuch aus und notiert körperliche Bewegung und Stressempfinden. Durch ein Migränetagebuch können Schmerztage und -intensität festgehalten werden. So kann das Befolgen der individuellen Ernährungsempfehlungen der App zu einem stabilen Blutzucker beitragen und zu weniger Migränetagen oder einer geringeren Arzneimitteldosis führen. Tipps zu Sport, Entspannungstechniken und einer guten Schlaf­hygiene sind ebenfalls Teil der App.

Vielfältiger Einsatz von DiGA

Seit 19. Dezember 2019 ist durch das Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes eine Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherungen für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) möglich. DiGA sind digitale Medizinprodukte niedriger Risikoklasse, die bei der Erkennung und Behandlung von Erkrankungen oder dem Ausgleich von Beeinträchtigungen unterstützen.

Eine häufige Form sind Gesundheits-Apps, aber es gibt auch browserbasierte Webanwendungen. Derzeit (Stand 13. Januar 2023) sind 45 DiGA zugelassen. Sicherheit, Funktionstauglichkeit, Datenschutz und Datensicherheit müssen gewährleistet sein. Außerdem muss zum Erhalt der Zulassung ein positiver Versorgungseffekt nachgewiesen werden.

Beim Bundes­institut für Arzneimittel und Medizinprodukte gibt es ein öffentlich zugängliches Verzeichnis für alle (vorläufig) angenommenen DiGA mit Informationen für Patienten und für Fachkreise. Einfach den Webcode L4MT9 in das Suchfeld auf DAZ.online eingeben und Sie gelangen direkt zur Liste.

Von Reizdarm bis Vaginismus

Anwendungsmöglichkeiten gibt es für viele Patientengruppen: Personen mit unipolaren, leichten bis mittelgradigen depressiven Störungen stehen gleich mehrere Optionen zur Verfügung: Deprexis, Edupression.com®, Novego - Depressionen bewältigen, Selfapys Online-Kurs bei Depression oder Elona Therapy Depression sollen zum Beispiel durch Entspannungsübungen, interaktive Fragebögen, Stimmungsdiagramme, ver­haltenstherapeutische Techniken und durch weitere psychoedukative Maßnahmen Patienten einen Mehrwert für den Alltag bieten. Ein­gesetzt können die onlinebasierten Anwendungen therapiebegleitend, zur Überbrückung von Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz oder als Anschlussangebot zur Rezidivprophylaxe.

Zum Management einer generalisierten Angststörung, Panikstörung oder Agoraphobie zugelassen sind digitale Gesundheitsanwendungen z. B. von HelloBetter, Mindable, Velibra und Invirto. Verhaltenstherapeutische Methoden und Übungen zusätzlich zu einer ambulanten Behandlung sollen Panikattacken und Angstgefühle reduzieren. Ebenfalls mittels kognitiver Verhaltenstherapie will die App Somnio Menschen mit Ein- und Durchschlaf­störungen Ruhe verschaffen.

Um gesundheitsschädliches Trinkverhalten zu reduzieren und die Trinkmenge zu kontrollieren, nutzt Vorvida psychotherapeutische Ansätze und Verfahren. Ein Arzt oder Therapeut sollte den Patienten hierbei unterstützen.

Das Universum der DiGA hat noch mehr zu bieten: Beim Reizdarmsyndrom, bei Endometriose, Adipositas, Multipler Sklerose, Vaginismus oder Gelenkerkrankungen können digitale Technologien den persönlichen Umgang mit der Krankheit verbessern und das indivi­duelle Wohlbefinden stärken [7, 8].

Effektive Therapie und Pro­phylaxe mit CGRP-Inhibitoren

Das Neuropeptid Calcitonin-Gene-related-Peptide (CGRP), das oft während Migräneattacken erhöht ist, ist an der neuronalen Glucose-Toleranz beteiligt. CGRP kann den Eintritt des Monosaccharids in Nervenzellen verhindern und so eine cerebrale Hyperglykämie auslösen. Die neuronale Glucose-Verfügbarkeit ist beeinträchtigt und die Migräne-Kaskade wird los­gelöst [1, 2, 4]. Der CGRP-Rezeptor­inhibitor Rimegepant ist der einzige Wirkstoff, der nicht nur bei akuten Anfällen sondern auch zur Prophylaxe einer Migräneattacke zugelassen ist. In einer klinischen Studie mit 348 Patienten wurden die Migränetage um durchschnittlich 4,3 Tage gesenkt. In der Placebogruppe dieser Zulassungsstudie wurde im drei­monatigen Beobachtungszeitraum ein Rückgang der Migränetage um 3,5 Tage festgestellt [6]. Da die Ernährungsintervention keine Nebenwirkungen hat, ist sie für Patienten mit episodischer Migräne mit oder ohne Aura eine nicht-pharma­kologische Therapieoption, die einen Versuch wert ist. |

Literatur

[1] Del Moro L et al. Migraine, Brain Glucose Metabolism and the „Neuroenergetic” Hypothesis: A Scoping Review. The Journal of Pain 2022:1294 – 317, doi: 10.1016/j.jpain.2022.02.006

[2] Martins-Oliviera M et al. Was it something I ate? Understanding the bidirectional interaction of migraine and appetite neural circuits. 21. August 2021, Brain Research 1770, doi: 10.1016/j.brainres.2021.147629

[3] Lelleck VV et al. A Digital Therapeutic Allowing a Personalized Low-Glycemic Nutrition for the Prophylaxis of Migraine: Real World Data from Two Prospective Studies. Nutrients 2022;14(14):2927, doi: 10.3390/nu14142927

[4] Schröder T. A Digital Health Application Allowing a Personalized Low-Glycemic Nutrition for the Prophylaxis of Migraine: Proof-of-Concept Data from a Retrospective Cohort Study. J Clin Med 2022;11(4):1117, doi: 10.3390/jcm11041117

[5] Pressemitteilung SinCephalea. Die erste stoffwechselbasierte Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) zur Migräneprophylaxe ist ab sofort verfügbar. 11. Oktober 2022, www.sincephalea.de

[6] Müller, C. Rimegepant erhält EU-Zulassung bei Migräne. Daz.online, 5. Mai 2022, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/05/05/rimegepant-erhaelt-eu-zulassung-bei-migraene

[7] Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Bundesministerium für Gesundheit, September 2022, www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenversicherung/online-ratgeber-krankenversicherung/arznei-heil-und-hilfsmittel/digitale-gesundheitsanwendungen.html

[8] DiGA-Verzeichnis. BfArM, https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis

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