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Onkologie
Krebs und Kinderwunsch
Sperma und Hodengewebe sichern für die Familienplanung
Jährlich erkranken in Deutschland etwa 275.000 Männer neu an Krebs. Die meisten Betroffenen sind im fortgeschrittenen Lebensalter, und nur ein geringer Teil gehört der Gruppe der jungen Erwachsenen oder Erwachsenen im Übergang zum mittleren Alter an. Aus der Gruppe der 35-Jährigen erkrankt einer von 85 an Krebs (1,2%), aus der Gruppe der 45-Jährigen einer von 30 (3,3%). So erhalten schätzungsweise jährlich zwischen 3500 und 9000 Männer, bei denen die Familienplanung in der Regel noch nicht abgeschlossen ist, eine Krebsdiagnose. Die häufigsten Tumorentitäten bei jungen Erwachsenen sind Hodenkarzinome, Morbus Hodgkin, Leukämien und Melanome (s. Kasten „Tumorentitäten bei jungen Männern“). Die Behandlung besteht meist aus einer Radio- und/oder Chemotherapie, eventuell ergänzt durch eine operative Entfernung des Tumors. Die schädigende Wirkung einer Strahlen- bzw. Chemotherapie ist von der Art und Konzentration der eingesetzten Wirkstoffe abhängig. Die schwerste Schädigung der Spermatogonien und des Keimepithels wird durch Alkylanzien und Platin-haltige Komponenten verursacht. Eine Radiotherapiedosis von 0,1 Gray führt zu einem kurzfristigen Sistieren der Spermatogenese, während eine Dosis über 6 Gray die Apoptose der Spermatogonien bewirkt. Das Absterben der Stammzellen im Keimepithel des Hodens führt zu einer langfristigen oder permanenten Azoospermie, was bedeutet, dass keine Spermien mehr im Ejakulat zu finden sind (s. Tabelle).
Tumorentitäten bei jungen Männern
Die häufigsten Krebserkrankungen bei Männern im Alter zwischen 20 und 44 Jahren sind:
- Hodenkrebs
- Morbus Hodgkin
- Leukämien
- malignes Melanom
- Darmkrebs
- Tumore des zentralen Nervensystems
- Non-Hodgkin-Lymphom
- Nierenkarzinome
- Lungenkrebs
- Kopf-Hals-Tumore
Risiko | Behandlung |
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hohes Risiko |
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mittleres Risiko |
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niedriges Risiko |
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unbekanntes Risiko |
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Therapiebedingte Fertilitätseinbußen
Die Einschränkung der Fertilität kann dem Tumor per se oder der Therapie geschuldet sein. Patienten, die an einem Keimzelltumor erkrankt sind, weisen häufig bereits vor Beginn einer Therapie eine verminderte Fertilität auf. So liegt bei rund 75% der Patienten mit Keimzelltumoren bereits bei Diagnosestellung ein qualitativ eingeschränktes Ejakulat vor. Nachfolgende Behandlungen können die Fertilität weiter einschränken, da die sich rasch teilenden Spermatogonien sehr empfindlich auf eine Strahlen- und Chemotherapie reagieren. Ob sich die Spermatogenese erholt, kann im Einzelfall nicht vorhergesagt werden. Das Ausmaß der Schädigung durch eine Chemo- oder Radiotherapie hängt vom Alter der Patienten sowie von Art, Dosis und Dauer der Behandlung ab. Eine bereits bestehende Minderung der Samenqualität führt durch die anschließende Therapie fast immer zu einer dauerhaften Infertilität. Zur Gonadotoxizität durch Immuntherapien oder zielgerichtete Therapien liegen derzeit nur begrenzte Daten vor.
Voraussetzungen für die Kryokonservierung von Spermien
Möchte ein Labor Spermien kryokonservieren, muss eine Genehmigung nach Arzneimittelgesetz (AMG) § 20b vorliegen; für eine spätere Verwendung die Erlaubnis nach AMG § 20c. Erforderlich ist auch ein negatives Ergebnis eines maximal drei Monate alten HIV- und Hepatitis-Tests. Ein Vertragsabschluss mit dem Patienten für die Kryokonservierung und die spätere Lagerung der Proben ist ebenso notwendig wie eine entsprechende Haftpflichtversicherung des verantwortlichen Labors. Bei der Lagerung und Kryokonservierung sind mehrere Parameter zu beachten, darunter fallen etwa die Dokumentation der Temperatur- und Druckverhältnisse, eine eindeutige Identifizierung und Zuordnung der Probe, Maßnahmen zur Risikominimierung einer Kreuzkontamination sowie ein Protokoll der Kryokonservierung.
Optionen zum Fertilitätserhalt
Da die meisten Tumortherapien Fertilität einbüßen, müssen vor dem Therapiebeginn fertilitätserhaltende Maßnahmen ergriffen werden (s. Abb.). Derzeit ist jedoch die Aufklärung onkologischer Patienten über die Möglichkeit der Kryokonservierung vor einer potenziell gonadotoxischen Therapie noch immer verbesserungsfähig. Das betrifft nicht nur Patienten mit einem Hodenkarzinom – hier ist das Bewusstsein für den notwendigen Fertilitätserhalt am ehesten vorhanden – sondern auch Patienten mit anderen Tumorerkrankungen und Patienten mit nicht-malignen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Immundefekten. Auch sollten protektive Maßnahmen nicht nur jungen Männern angeboten werden, da auch im höheren Erkrankungsalter ein Fortpflanzungswunsch bestehen kann. Die häufigste Methode ist die Kryokonservierung von Spermien. In einigen Fällen kommt eine Kryokonservierung von Hodengewebe in Betracht. Eine hormonelle Gonadenprotektion ist bei Männern unwirksam und daher nicht empfehlenswert.
Kryokonservierung von Spermien
Bereits Ende der 1970er-Jahre wurde Betroffenen eine Kryokonservierung ihrer Spermien nahegelegt. Die Empfehlung richtete sich an junge Männer mit Krebs oder mit gonadotoxischen Autoimmunerkrankungen. Die Kryokonservierung wird von Leitlinien (z. B. den Guidelines der American Society of Clinical Oncology und der European Society for Medical Oncology sowie der deutschen S2k-Leitline) als Mittel der Wahl zum Erhalt des Fortpflanzungspotenzials empfohlen. Die Gewinnung von Spermien erfolgt durch Masturbation, selten durch rektale Elektrostimulation. Es sollten mehrere Samenproben asserviert werden. Das Sperma wird unter flüssigem Stickstoff eingefroren. Nach dem Auftauen liegen die Erfolgschancen einer Therapie mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) bei etwa 49%, dabei wird ein einzelnes Spermium mithilfe einer feinen hohlen Glasnadel direkt in die Eizelle gespritzt. Die Dauer der Kryokonservierung von Samenzellen korreliert nicht mit dem Behandlungsergebnis nach dem Auftauen. Negative Auswirkungen auf die Nachkommenschaft sind nicht bekannt, dasselbe gilt für ein Übertragungsrisiko von Tumorzellen. Die Spermiengewinnung und Kryokonservierung sollte so schnell wie möglich nach der Diagnose und vor der Therapie einer malignen Erkrankung vorgenommen werden, da eine Chemotherapie innerhalb weniger Tage die Qualität der Spermien verschlechtert. Zudem induzieren zytotoxische Substanzen eine Apoptose in den Hodenkanälchen, die DNA-Brüche und chromosomale Aneuploidie (Zellen mit einer von der Norm abweichenden Anzahl an Chromosomen) bei den restlichen Gameten verursacht.
Gewinnung und Kryokonservierung von Hodengewebe
Ist die Gewinnung von Sperma nicht über eine Ejakulation möglich oder sind im Ejakulat keine Spermien vorhanden – was bei rund 20% aller Tumorpatienten der Fall ist – kann eine chirurgische testikuläre Spermienextraktion (TESE oder mikrochirurgische TESE) durchgeführt werden. Dazu werden in Kurznarkose aus jedem Hoden zwei bis drei stecknadelkopfgroße Gewebestücke entnommen. Diese werden aufbereitet und es wird untersucht, ob bewegliche Spermien darin vorhanden sind. Üblicherweise können in 60 bis 70% aller Fälle fertilisierungsfähige Spermien gewonnen werden. Sind Spermien nachweisbar, so werden alle entnommenen Gewebestücke tiefgefroren. Die Kryokonservierung von Hodengewebe mit testikulären Spermien erfolgt je nach Labor unterschiedlich. Bei der Kryokonservierung der Spermien im Hodengewebeverbund sind die Spermien beim Kryo- und Auftauvorgang besser geschützt. Nach der Herauslösung der Spermien aus dem Gewebe werden die Spermien mithilfe der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion direkt in die Eizelle eingebracht.
Richtlinie zur Kryokonservierung
Die Richtlinie (vollständige Bezeichnung: Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sowie entsprechende medizinische Maßnahmen wegen keimzellschädigender Therapie, Kryo-RL) bestimmt Voraussetzungen, Art und Umfang des Leistungsanspruchs von Versicherten auf Kryokonservierung von weiblichen und männlichen Keimzellen und Keimzellgewebe aufgrund einer keimzellschädigenden Therapie. Des Weiteren regelt sie die Voraussetzungen für den Anspruch auf die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen und umfasst Vorgaben zur Qualitätssicherung. Sie liegt in der Fassung vom 16. Juli 2020 vor und wurde zuletzt am 18. August 2022 geändert.
Kostenübernahme
Gesetzlich Krankenversicherte, bei denen eine potenziell keimzellschädigende Therapie erforderlich wird, haben einen Anspruch auf eine Kryokonservierung. Dieser Anspruch wurde 2019 im Sozialgesetzbuch festgehalten (§ 27a Abs. 4 SGB V). Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) regelt im Auftrag des Gesetzgebers seit 1. Juli 2021 die Details des Leistungsanspruchs sowie die Anforderungen an Ärzte und reproduktionsmedizinische Einrichtungen (s. Kasten „Richtlinie zur Kryokonservierung). Seit dem 1. Juli 2021 werden die Kosten für das Einfrieren von Spermien durch die gesetzlichen Krankenkassen routinemäßig finanziert. Eine Kryokonservierung und die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen können zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung bei männlichen Versicherten bis zum vollendeten 50. Lebensjahr durchgeführt werden. Der G-BA hat auch darüber beraten, inwieweit eine Kryokonservierung von Hodengewebe als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung geregelt werden kann. Derzeit sieht der G-BA hierfür mit Ausnahme der testikulären Spermatozoenextration (TESE) noch keine Möglichkeit, da kryokonserviertes Hodengewebe derzeit nur in Einzelfällen im Rahmen experimenteller Versuche rückübertragen werden kann. Der G-BA wird diese Methode in spätestens zwei Jahren überprüfen und über eine Kostenerstattung beraten (Stand: August 2022). |
Informationen für Betroffene
Verschiedene Institutionen und Anbieter informieren Betroffene rund um das Thema Kinderwunsch und Krebs:
Literatur
Clinical Practice Guidelines – Fertility preservation and post-treatment pregnancies in post-pubertal cancer patients. Leitlinie der European Society For Medical Oncology (ESMO). Ann Oncol 2020:1664-1678
Fertilitätserhaltende Maßnahmen bei onkologischen Erkrankungen. S2k-Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), AWMF-Registernummer 015/082, Stand: September 2017
Fertility Preservation in Patients With Cancer. Leitlinie der American Society of Clinical Oncology (ASCO), ASCO Clinical Practice Guideline Update. Journal of Clinical Oncology 36 2018;36:1994-2001
Fertiprotekt Netzwerk e. V. Indikation und Durchführung fertilitätsprotektiver Maßnahmen bei onkologischen und nicht-onkologischen Erkrankungen, 2. überarbeitete Auflage 2020
Kryokonservierung. Information des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), Stand: August 2022, www.g-ba.de/themen/methodenbewertung/ambulant/kryokonservierung-von-ei-und-samenzellen/
Masciocchi M et al. Fertilitätsberatung bei Tumorpatienten. Gynäkologie 2022;5:18-24
Nicht nur bei Hodentumoren an den Fertilitätserhalt denken – DGA appelliert: Aufklärung über Kryokonservierung muss alle Menschen erreichen. Presseinformationen der Deutschen Gesellschaft für Andrologie e. V. vom 14. Juni 2023
Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sowie entsprechende medizinische Maßnahmen wegen keimzellschädigender Therapie (Kryo-RL). Information des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), Stand: Juli 2020, www.g-ba.de/downloads/62-492-2970/2022-08-18_Kryo-RL.pdf
Zentrum für Krebsregisterdaten. Information des Robert Koch-Instituts (RKI), www.krebsdaten.de
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