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Arzneimittel und Therapie
Können Arzneimittel gegen multiple Sklerose sicher abgesetzt werden?
Nutzen und Risiken einer Therapiepause
Unter bestimmten Voraussetzungen können Menschen mit multipler Sklerose ihre krankheitsmodifizierenden Arzneimittel absetzen. Die aktuelle S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ sieht diese Therapiepause nach mindestens fünfjähriger Behandlung für Patienten vor, die vor Einleiten der Immuntherapie eine geringe Krankheitsaktivität aufwiesen und unter der bisherigen Therapie mit einem Medikament der Wirksamkeitskategorie 1 (Beta-Interferone, Fumarate, Glatirameroide, Teriflunomid) keine Krankheitsaktivität zeigen [1]. Allerdings gebe es „keine kontrollierten Absetzstudien“, die das Krankheitsrisiko nach dem Absetzen zuverlässig einschätzen. Doch nun gibt es neue Daten: US-Wissenschaftler veröffentlichten kürzlich die Ergebnisse einer ersten randomisierten, multizentrischen und einfach verblindeten Phase-IV-Nichtunterlegenheitsstudie (DISCOMS). Darin hatten sie untersucht, ob ein Absetzen der MS-Therapie sicher ist bei älteren Patienten (mindestens 55 Jahre) ohne Schub seit mindestens fünf Jahren und ohne sich vergrößernde MRT-Läsionen seit mindestens drei Jahren [2]. Der kombinierte primäre Endpunkt war der Anteil der Personen mit einem neuen Krankheitsereignis, definiert als Schub oder neue oder sich vergrößernde T2-MRT-Läsion des Gehirns in einem Zeitraum von zwei Jahren. Die Studienautoren konzentrierten sich auf über 55-jährige Patienten, da die Krankheitsaktivität bei multipler Sklerose mit zunehmendem Alter abnimmt und vor allem bei Patienten mit „offensichtlich geringem Risiko für ein Wiederauftreten der Krankheit“ derzeit nur „wenige Wirksamkeitsdaten für eine fortgesetzte Anwendung sprechen“, erklären sie im Journal „The Lancet Neurology“. Für ihre Untersuchung verglichen sie zwischen Mai 2017 und Februar 2020 insgesamt 259 Patienten, die seit mindestens fünf Jahren kontinuierlich Arzneimittel angewendet hatten, die von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) gegen multiple Sklerose zugelassen waren. Das aktuelle MS-Therapeutikum sollte dabei für mindestens zwei Jahre eingenommen worden sein. Die eingeschlossenen Probanden wurden in zwei Gruppen aufgeteilt: 128 Patienten (49%) behielten ihre Therapie bei, während 131 (51%) diese absetzten. Am häufigsten waren die Patienten auf Beta-Interferone eingestellt, gefolgt von Glatirameracetat, Dimethylfumarat und Fingolimod, Teriflunomid, Natalizumab und Ocrelizumab (Letzteres nur in der Absetzgruppe).
Mehr MRT-Aktivität nach Absetzen
Sechs der 128 Teilnehmer (4,7%) in der Behandlungsgruppe erlitten innerhalb von zwei Jahren einen Schub oder neue oder sich vergrößernde MRT-Läsionen im Gehirn, verglichen mit 16 der 131 Teilnehmer (12,2%), die ihre Therapie pausierten (7,5% Unterschied in den Ereignisraten). Dies bestätigt die Nullhypothese, dass das Absetzen der Behandlung der Weiterführung unterlegen ist. Zum gleichen Schluss kommen die Wissenschaftler, wenn sie nur die MRT-Aktivität betrachten: Fünf von 128 Teilnehmern (4%) in der Behandlungsgruppe und 14 von 131 Teilnehmern (11%) in der Gruppe, in der die Therapie beendet wurde, zeigten eine neue oder sich vergrößernde Läsion im Gehirn. Der Unterschied in den Ereignisraten betrug 6,8%: „Daher konnten wir die Nullhypothese, dass das Absetzen der krankheitsmodifizierenden Therapie schlechter als deren Fortführung ist, nicht zurückweisen“, erklären die Wissenschaftler.
Allerdings: Eine Post-hoc-Analyse, in der die Wissenschaftler lediglich die Schübe auswerteten, ergab, dass einer von 128 Teilnehmern (< 1%) unter einer krankheitsmodifizierenden Therapie einen Schub erlitt, während es in der Absetzgruppe drei von 131 Teilnehmern (2%) waren. Mit einem Unterschied in den Ereignisraten von 1,5% schlussfolgern die Studienautoren, dass ein Absetzen der Therapie der Fortführung eben nicht unterlegen ist.
Kein Unterschied in der Behinderungsprogression
Allerdings stellten die Wissenschaftler keinen Unterschied bei der anhand der Expanded Disability Status Scale (EDSS) gemessenen Behinderung fest. Dieser lag in beiden Gruppen bei Randomisierung bei 3,4 (voll gehfähig, aber mit mäßiger Behinderung), und auch zwei Jahre später unterschied sich weder die mittlere Behinderungsprogression (+0,1 in der Behandlungsgruppe, -0,1 in der Absetzgruppe) noch die Anzahl der Patienten, bei denen sich nach sechs Monaten die Behinderung bestätigt verschlechterte (11% in der Behandlungsgruppe, 12% in der Absetzgruppe).
Erlitten die MS-Patienten einen Schub oder zeigten eine Krankheitsaktivität im MRT, trat dies einer Post-hoc-Analyse zufolge in der Absetzgruppe signifikant früher ein (im Schnitt nach 16,3 Monaten) als in der Behandlungsgruppe (17,3 Monate).
Mehr Nebenwirkungen nach Absetzen
Interessanterweise berichteten die Studienteilnehmer, die ihre krankheitsmodifizierenden Arzneimittel abgesetzt hatten, über mehr unerwünschte Ereignisse (n = 422) als die Probanden, die ihre Therapie fortführten (n = 347). Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählten Infektionen der oberen Atemwege, Harnwegsinfektionen, muskuloskelettale Schmerzen und Stürze. Der Anteil der Berichtenden war in beiden Gruppen jedoch ähnlich (85% vs. 78% in der Behandlungs- bzw. Absetzgruppe). Drei Todesfälle (zwei in der Absetzgruppe, einer in der Behandlungsgruppe) sehen die Wissenschaftler nicht im Zusammenhang mit der Studie.
Zufriedenheitswerte hoch
Der Großteil jeder Studiengruppe gab sich „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ zu Studienbeginn (77% in der Behandlungsgruppe und 78% in der Absetzgruppe). Dieser Zufriedenheitswert blieb über die gesamte Studiendauer von zwei Jahren hoch beziehungsweise verbesserte sich weiter: Nach 24 Monaten gaben 77 von 99 Teilnehmern (78%) in der Fortsetzungsgruppe an, dass sie „zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ waren, in der Absetzgruppe stieg der Anteil der „zufriedenen“ oder „sehr zufriedenen“ Teilnehmer auf 91% (93 von 102 Teilnehmern) und unterschied sich damit signifikant von dem Anteil zufriedener Probanden in der Behandlungsgruppe.
Eingeschränkte Übertragbarkeit
Die Studie hat Schwächen: So lassen sich die Ergebnisse nicht auf jüngere Menschen übertragen. Auch hatten die meisten Studienteilnehmer ältere, injizierbare Arzneimittel z. B. Glatirameracetat angewendet, und die Studienergebnisse sollten nicht einfach auf neuere und wirksamere Therapien extrapoliert werden. So würden Sphingosin-1-Phosphat-Modulatoren wie Fingolimod oder der die Lymphozytenfunktion blockierende Antikörper Natalizumab mit einem potenziellen signifikanten Wiederauftreten oder einer Rebound-Aktivität nach dem Absetzen in Verbindung gebracht.
Absetzen: vernünftige Option
Laut den Ergebnissen der Studie könnte es einen Unterschied machen, ob ältere Menschen ihre krankheitsmodifizierenden MS-Arzneimittel weiter anwenden oder absetzen – selbst wenn sie zuvor nur eine geringe Krankheitsaktivität zeigen. Das Absetzen der Therapie könnte bezüglich des kombinierten primären Endpunkts 8% oder mehr unterlegen sein, erklären die Wissenschaftler. Dennoch halten sie das Absetzen für eine sinnvolle Option. Viele ältere Patienten mit stabiler MS zögerten beim Absetzen ihrer Therapie: „Die hier vorgestellten Daten, einschließlich der Daten zur Behandlungszufriedenheit, sollten Patienten in einem ähnlichen Kontext, die einen Abbruch ihrer Therapie in Erwägung ziehen, darin bestärken, dass ein Abbruchversuch trotz des möglicherweise geringfügig erhöhten Risikos einer neuen MRT-Aktivität eine vernünftige Option darstellt“, finden die Studienautoren. |
Literatur
[1] Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) unter Beteiligung weiterer Fachgesellschaften, AWMF-Register-Nr.: 030/050 Stand: November 2022
[2] Corboy JR et al. Risk of new disease activity in patients with multiple sclerosis who continue or discontinue disease-modifying therapies (DISCOMS): a multicentre, randomised, single-blind, phase 4, non-inferiority trial. Lancet Neurol 2023;22(7):568-577, doi: 10.1016/S1474-4422(23)00154-0
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