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Aus der Hochschule
Herausforderung nachhaltige Pharmazie
Die erste Summer School „Sustainable Pharmacy“ wird nicht die letzte gewesen sein
Nachhaltigkeit ist ein sehr komplexes Thema, welches sich nicht nur auf einen Bereich beschränkt. Um dieses komplexe Netzwerk zu verstehen, ist es wichtig,
- eine gemeinsame Sprache zu finden,
- Probleme zu erkennen,
- Lösungsmöglichkeiten zu überdenken und
- in die Zukunft zu schauen.
Diesen Punkten folgend wurde die Summer School strukturiert.
Gemeinsame Sprache
Das Thema „Gemeinsame Sprache“ wurde anhand der Definition von Gesundheit und Krankheit und den sich daraus ergebenden Zielen für das Gesundheitssystem in einem Vortrag durch Prof. Markus Rothhaar (Fernuniversität Hagen, Hochschule Heiligenkreuz/AT) erörtert. Prof. Anke Weidlich (Universität Freiburg) beschäftigte sich mit dem Begriff der Nachhaltigkeit an sich und deren verschiedenen Formen wie schwacher und starker Nachhaltigkeit sowie Rebound-Effekten. Schwache Nachhaltigkeit wird dabei so verstanden, dass natürliche Ressourcen durch Human- und Sachkapital ersetzt werden können. Hier steht der Wohlstand im Vordergrund, die Nachhaltigkeit muss sich diesem unterordnen. Eine starke Nachhaltigkeit hingegen erhält natürliche Ressourcen und investiert aktiv in diese. Hier steht die Ökologie im Vordergrund und ist Basis für Ökonomie, Kultur und Soziales. Vertieft wurde dieses Thema in einem Workshop zu Greenwashing und Rebound-Effekten.
Arzneistoffe in der Umwelt
Prof. Klaus Kümmerer (Universität Lüneburg) beleuchtete in seinem Vortrag die Unterschiede sowie die Vor- und Nachteile von grüner und nachhaltiger Chemie und veranschaulichte mit eindrucksvollen Daten das Problem von Arzneistoffen in der Umwelt. Kümmerer hat sich mit seiner Forschung der Verbesserung der biologischen Abbaubarkeit von Arzneistoffen verschrieben und verfolgt dabei das Konzept „Benign by Design“. Dieses ist Teil der Green Chemistry und sieht vor, dass Arzneistoffe bereits bei der Entwicklung so entworfen werden, dass sie in der Umwelt schnell abgebaut werden. Zwar sei diese „Beginning-of-the-pipe“-Lösung ein wirksamer Ansatz, so Kümmerer, sie könne aber das Problem nicht allein lösen. Ein tiefgreifender Wandel, sowohl im Verbrauch als auch im Eintrag von Arzneimitteln in die Umwelt, sei notwendig. Dr. Evelyn Wynendaele (Universität Ghent/BE) vertiefte wesentliche Aspekte des Konzepts der nachhaltigen Arzneistoffentwicklung und stellte auch den neuen Masterstudiengang „Sustainability in Drug Discovery“ (Nachhaltigkeit in der Arzneistoffentwicklung) vor, der als internationaler Studiengang zwischen Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Polen geplant ist.
Arzneimittel immer notwendig?
Prof. Dr. Michael Müller und seine Arbeitsgruppe beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Sustainable Pharmacy. Im Rahmen der Summer School hinterfragte Müller den Arzneimitteleinsatz generell: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der sehr viele Krankheiten, Schmerzen und Probleme mit Arzneistoffen behandelt werden. Doch mit welchen Folgen für die Umwelt und damit auch für uns Menschen, insbesondere kommende Generationen? Muss es bei jedem kleinsten Schmerz direkt eine starke Tablette sein oder sollten wir unser Verständnis von Schmerz ändern und besser verstehen, wann eine Tablette notwendig ist und wann andere Behandlungen greifen sollten? Können einige chronische Krankheiten durch Prävention verhindert werden, anstatt sie über Jahre und Jahrzehnte dauerhaft mit einer Fülle an Medikamenten zu therapieren? Und warum ist eigentlich immer mehr Fluor in Arzneistoffen, welche dadurch in der Regel schlechter abbaubar sind? Damit verbunden sind zum Beispiel drastisch ansteigende, ubiquitäre Umweltbefunde der persistenten Trifluoressigsäure.“
Ein Workshop, der rein technische Lösungsansätze gesamtgesellschaftlichen Lösungsansätzen gegenüberstellte, brachte die Erkenntnis, dass
- technische Lösungen meist schneller hervorgebracht und gesamtgesellschaftliche Lösungen länger diskutiert werden müssen und
- es beide Ansätze für eine Lösungsstrategie braucht, den kurzfristig-technischen und den langfristig-gesellschaftlichen Ansatz.
Optimistisch bleiben
Die Designerin Emma Segal (UnSchool/Montreal Kanada) erläuterte, wie ein ganzes System zu verstehen ist, in das ein Problem oder eine Lösung eingebettet ist (Systems Thinking). Hinter jedem Produkt steckt ein System, welches zu diesem geführt hat. Die isolierte Betrachtung einer Problematik ist nicht möglich, da sich die Veränderung eines Teilaspekts auf das gesamte System dahinter auswirkt und umgekehrt.
In weiteren Vorträgen wurden die regulatorischen Möglichkeiten sowie der European Green Deal in Bezug auf Arzneimittel vorgestellt (Dr. Gerd Maack vom Umweltbundesamt), ebenso die Bemühungen zu mehr Nachhaltigkeit der BASF (Brigitte Achatz). Ökonomische Lösungsansätze analysierte Prof. Wolf Rogowski (Universität Bremen), die Frage der sozialen Gerechtigkeit im Fall des Antibiotikaeinsatzes war Thema von Dr. Jasper Littmann (Universität Bergen/NO).
Den Wandel einleiten
Dr. Sarah Olbrich (Universität Freiburg) und Prof. Michael Pregernig (Universität Freiburg) beleuchteten, wie ein Systemwandel zugunsten nachhaltiger Pharmazie eingeleitet werden kann und welche Rolle die wissenschaftliche Expertise und Kommunikation beim Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit spielt.
Fosca Poltronieri (Consultingunternehmen Catalyze/NL) gab praktische Tipps zu Möglichkeiten der Fördermittelgewinnung für Projekte der Nachhaltigen Pharmazie primär auf EU-Ebene.
Der abschließende Workshop zeigte anhand des psychologischen Experiments des sogenannten „Circle of Influence“, wie komplexe Probleme – ja sogar „super wicked problems“ wie Antibiotika-Resistenzbildung – welche für einen selbst schwer lösbar erscheinen, vielleicht doch in den eigenen Einflussbereich verschoben werden können, auch wenn man selbst vielleicht nur kleine Teile dazu beitragen kann.
Und nun?
Die Woche war ein Wechselbad der Gefühle. Bei der Wucht und Anzahl an Umwelt- und Klimaproblemen, welche durch den pharmazeutischen Sektor (mit)verursacht werden – wie etwa die Umweltbelastung durch Arzneimittel oder signifikante Treibhausgasemissionen und damit verbundene Biodiversitätsverluste bzw. Erderwärmung – fällt es schwer, nicht den Kopf in den Sand zu stecken und sich geschlagen zu geben. Doch es gibt Menschen, die sich diesem Thema annehmen; Menschen, die das Thema aus verschiedenen Aspekten betrachten, diskutieren und Ideen haben. Es referierten in dieser Woche Expertinnen und Experten aus den Fachbereichen der Philosophie, Pharmazie, Chemie, Geografie, Ökonomie, Energiesystemtechnik, Design, Politik und pharmazeutisch-chemischer Industrie und stellten sich ergebnisoffenen Diskussionen. Interdisziplinarität wurde in dieser Woche nicht nur aktiv gelebt, sondern ist auch notwendig, um Nachhaltigkeit zu verstehen, und eine Chance, um sie umzusetzen. Diese Vielfalt, Motivation und die neu geknüpften Kontakte geben Hoffnung, dass wir alle gemeinsam über unsere Grenzen blicken und das Problem angehen können.
Diese Summer School zur nachhaltigen Pharmazie wird nicht die letzte gewesen sein. Eine zweite Summer School ist in Planung und soll im September 2023 in Kiel stattfinden. |
Danksagung
Wir danken der Joachim Herz Stiftung für die finanzielle Unterstützung der Summer School und dem Team Karina Witte, Juliane Breiltgens, Daniela Bjarnesen, Lucrezia Lanza, Petra Mußler und Prof. Dr. Michael Müller der Universität Freiburg für die grandiose Organisation dieser inspirierenden Woche.
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