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Arzneimittel und Therapie
Hoffnung bei Sichelzellanämie
CRISPR-Cas9-Gentherapie ermöglicht Produktion von fetalem Hämoglobin
Vor der Geburt werden Erythrozyten hauptsächlich in der Leber produziert. Das fetale Hämoglobin besteht aus zwei Alpha-Globinen und zwei Gamma-Globinen. Ist das Kind geboren, werden die Erythrozyten im Knochenmark gebildet. Das adulte Hämoglobin baut sich aus zwei Alpha-Globinen und zwei Beta-Globinen auf. Personen mit der Erbkrankheit Sichelzellanämie sind pränatal gesund, da sich die für die Erkrankung verantwortliche Punktmutation im Gen für das Beta-Globin befindet. Erst nach der Geburt wird irreguläres „Sichelzellhämoglobin“ (Hämoglobin S) produziert.
Verändertes Hämoglobin S führt zu Ischämien
Besonders unter Sauerstoffmangel neigen die Hämoglobin-S-Moleküle zur Aggregation, was wiederum zu der charakteristischen Sichelform der Erythrozyten führt. Die deformierten Erythrozyten verstopfen Kapillaren und können zu schmerzhaften Durchblutungsstörungen (Sichelzellkrise, vasookklusive Krise) und hämolytischer Anämie führen. Ischämien schädigen innere Organe wie Milz, Leber, Lunge und Herz bereits im jungen Alter. Personen mit Sichelzellkrankheit haben deshalb eine um 30 Jahre verkürzte Lebenserwartung verglichen mit der (amerikanischen) Normalbevölkerung. Die Sichelzellanämie ist vor allem in den Malariagebieten Afrikas und Asiens verbreitet. Bei den etwa 300 Kindern und Erwachsenen, die jährlich in Deutschland von der Erkrankung betroffen sind, handelt es sich meist um Immigranten aus Endemiegebieten. Durch eine Knochenmarktransplantation kann die Sichelzellanämie kurativ behandelt werden. Geeignete Spender sind jedoch rar. Nach einer Knochenmarkspende kann es zu einer Graft-versus-Host-Disease (s. Kasten „Spender-gegen Empfänger-Reaktion“) oder einer anderen Immunreaktion gegen die transplantierten Stammzellen kommen [1, 2, 4, 5].
Besser verträgliche autologe Stammzelltherapie?
Bei der patienteneigenen Stammzellentherapie werden per Apharese Stammzellen der Sichelzellpatienten aus deren Blut filtriert. Im Labor wird mithilfe von Lentiviren als Vektoren das mutierte Gen durch ein Gen ausgetauscht, das die Mutation nicht aufweist. Dadurch wird intaktes Hämoglobin produziert. Die genveränderten Stammzellen werden dem Sichelzellpatienten im Anschluss transplantiert. Um die genveränderten Stammzellen annehmen zu können, muss das erkrankte Knochenmark des Patienten durch eine Chemotherapie zerstört werden [2, 4].
Die Behandlung mit autologen Stammzellen ist besser verträglich als mit gespendeten Zellen, da es nicht zu Abstoßungsreaktionen oder der Graft-versus-Host-Disease kommt. Nachteilig hingegen ist, dass das Lentivirus in den Stammzellen verbleibt und das Gleichgewicht zwischen Alpha- und Beta-Globin stört. Die autologe Stammzellentransplantation kann bei allen Patienten durchgeführt werden, deren Allgemeinzustand eine Knochenmarktransplantation erlaubt.
Gamma-Globin reaktivieren
Ein weiteres Verfahren, mit dem die Sichelzellanämie wahrscheinlich therapiert werden kann, ist die Reaktivierung des fetalen Gamma-Globins. Dessen Expression wird nach der Geburt von den Proteinen BCL11A und LRF/ZBTB7A durch Bindung an Promotoren der HBG1- und HBG2-Gene aktiv unterdrückt.
Wie kann die Bindung von BCL11A und LRF/ZBTB7A am Promotor der HBG1- und HBG2-Gene blockiert werden, sodass Sichelzellpatienten wieder fetales Hämoglobin herstellen? Diese Frage stellte sich ein Forschungsteam am St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis. Wenn die beiden Gene wieder exprimiert werden, so würde fetales Hämoglobin im Knochenmark produziert und das fehlerhafte Beta-Globin als Hämoglobin-Baustein (teilweise) verdrängt [3].
Spender-gegen-Empfänger-Reaktion
Bei der Graft-versus-Host-Disease kommt es infolge einer Transplantation von Blutstammzellen, Nabelschnurblut oder Knochenmark zur systemischen Entzündung, die insbesondere Darm, Haut und Leber schädigt. Ursächlich dafür ist, dass die Spender-T-Zellen das Gewebe des Empfängers als fremd erkennen und schädigen [9].
Genschere ...
Mit der Genschere CRISPR-Cas9 gelang es den Forschern, eine entsprechende Mutation einzuführen: Eine im Labor ermittelte Guide-RNA lotst die Genschere an die gewünschte Lokation der DNA, an der geschnitten werden soll. Der Promotor der HBG1- und HBG2-Gene kann auf diese Weise verändert werden, sodass die beiden Proteine BCL11A und LRF/ZBTB7A nicht mehr binden. Die Genabschnitte können dann gelesen werden, und es werden fetales Hämoglobin und Erythrozyten in Normalform gebildet.
Bei drei Patienten mit Sichelzellanämie wurde dieses Verfahren vor Kurzem in einer klinischen Pilotstudie angewandt. Zwei Männer und eine Frau (21, 22 und 24 Jahre alt), die bereits mehrmals in den vergangenen Jahren eine Sichelzellkrise oder massive Durchblutungsstörungen mit Ischämien erlitten hatten, nahmen an der Studie teil. Den Studienteilnehmern wurden zunächst Stammzellen aus dem Blut filtriert. Der Promotor an den HBG1- und HBG2-Genen wurde im Labor verändert und die Stammzellen wieder in die Patienten infundiert. Wie bei anderen Knochenmarktransplantationen musste das erkrankte Knochenmark zuvor zerstört werden. Bei dieser Studie wurde hierfür das Zytostatikum Busulfan verwendet.
... in Pilotstudie erfolgreich
Bei allen drei Patienten wurde nach dem Eingriff Gamma-Globin produziert. Der Anteil fetalen Hämoglobins am Gesamt-Hämoglobin lag am Ende der sechs- bis 18-monatigen Follow-up-Periode bei 19,0 bis 26,8%. Symptome der Erbkrankheit wie die Sichelzellkrise oder Infarkte konnten in ihrer Häufigkeit gesenkt werden: In der Follow-up-Periode erlitten die Teilnehmer jeweils eine vasookklusive Krise (neun, zwölf und 17 Monate nach der Transplantation) und keine dokumentierten Infarkte. Eine Studienteilnehmerin hatte in den zwei Jahren vor der Gentherapie 25 Sichelzellkrisen erlebt und im Nachbeobachtungszeitraum nur eine. Nebenwirkungen der Therapie führen die Autoren auf das Zytostatikum Busulfan zurück. Das Forscherteam will nun die Untersuchungen mit mehr Patienten fortsetzen [3].
Zulassung in Großbritannien
Die britische Regulierungsbehörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (MHRA) hat am 16. November 2023 eine erste Gentherapie gegen Sichelzellanämie und Beta-Thalassämie, „exa-cel“ (britischer Handelsname: CasgevyTM), zugelassen. Auch bei exa-cel von Vertex Pharmaceuticals und CRISPR Therapeutics handelt es sich um eine CRISPR/Cas9-Therapie, die zur Bildung von fetalem Hämoglobin führen soll. Prof. Dr. Selim Corbacioglu, Leiter der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Regensburg, hat an der Zulassungsstudie mitgewirkt und gibt zu bedenken, dass aufgrund der relativ kurzen Nachbeobachtungszeit Nebenwirkungen weiterhin denkbar seien. Es sei nicht bekannt, „ob die Patienten womöglich nach einigen Jahren plötzlich doch wieder Transfusionen benötigen oder Schmerzkrisen bekommen, weil die Zellen verschwunden sind.“ Hürden der Gentherapie sieht er darin, dass man aktuell nicht sicher ist, ob die Genschere nicht auch andere DNA-Abschnitte verändert. Auch muss bedacht werden, dass die Patienten ihre Fruchtbarkeit verlieren [7, 10]. Bei der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) wurde am 8. Juni 2023 ein Zulassungsantrag für exa-cel eingereicht. Die Zulassungsentscheidung wird am 8. Dezember 2023 erwartet. Bei der europäischen Zulassungsbehörde EMA läuft aktuell noch das Bewertungsverfahren für exa-cel.
mRNA-Arzneimittel und Antikörper
Für die rund acht Millionen Sichelzellpatienten weltweit steht möglicherweise bald noch eine weitere Therapieoption zur Verfügung: Mittels mRNA sollen Gene direkt im Knochenmark editiert werden, sodass keine Stammzellentransplantation nötig wäre. Bis jetzt wurde dieses Verfahren allerdings nur im Tierversuch untersucht. Drew Weissman, der zusammen mit Katalin Karikò den diesjährigen Medizin-Nobelpreis erhielt, hat an der Proof-of-concept-Studie mitgearbeitet [3, 5].
2020 wurde zur Prävention von Sichelzellkrisen der monoklonale Antikörper Crizanlizumab (Adakveo®) in der EU zugelassen. Er richtet sich gegen das Protein P-Selektin, das bei Sichelzellanämie überexprimiert wird und eine zentrale Rolle bei der Vasookklusion und der Auslösung vasookklusiver Krisen spielt. 2023 wurde die Zulassung allerdings zurückgezogen, nachdem der klinische Nutzen in einer Phase-III-Studie nicht bestätigt werden konnte [6, 8]. |
Literatur
[1] Sichelzellkrankheit. S2K-Leitlinie der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. AWMF-Registernr.: 025/016 2. Auflage, Stand: Juli 2020
[2] Sichelzellanämie. Doc Check Flexikon, flexikon.doccheck.com/de/Sichelzellan%C3%A4mie
[3] Sharma A et al. CRISPR-Cas9 Editing of the HBG1 and HBG2 Promoters to Treat Sickle Cell Disease. N Engl J Med 2023, doi: 10.1056/NEJMoa2215643
[4] Sichelzellanämie: Genschere schaltet Produktion von fetalem Hämoglobin an und lindert Symptome. Deutsches Ärzteblatt 2023, www.aerzteblatt.de/nachrichten/145668/Sichelzellanaemie-Genschere-schaltet-Produktion-von-fetalem-Haemoglobin-an-und-lindert-Symptome
[5] A cure for sickle cell disease is taking shape. Nature portfolio 2023, www.nature.com/articles/d42473-023-00151-3
[6] ADAKVEO® (Crizanlizumab): Widerruf der EU-Zulassung aufgrund fehlender therapeutischer Wirksamkeit. Rote-Hand-Brief, 15. Juni 2023
[7] FDA Accepts Biologics License Applications for exagamglogene autotemcel (exa-cel) for Severe Sickle Cell Disease and Transfusion-Dependent Beta Thalassemia. Pressemitteilung von Vertex, 8. Juni 2023, news.vrtx.com/news-releases/news-release-details/fda-accepts-biologics-license-applications-exagamglogene
[8] Crizanlizumab. Doc Check Flexikon, flexikon.doccheck.com/de/Crizanlizumab
[9] Graft-versus-Host Erkrankung, akut. Onkopedia-Leitlinien, Informationen der Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e.V., Stand: Juli 2022
[10] Erste CRISPR-Gentherapie zugelassen. Pressemitteilung des Science Media Centers (SMC) vom 16.November 2023
[11] Sichelzellanämie. Informationen des Medizinisch Genetischen Zentrums, www.mgz-muenchen.de/erkrankungen/diagnose/sichelzellanaemie.html, Abruf am 21. November 2023
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