Arzneimittel und Therapie

Präklinisches MS-Stadium behandeln?

Patienten mit radiologisch isoliertem Syndrom könnten von Teriflunomid profitieren

cel | Sollten bereits Menschen mit einem radiologisch isolierten Syndrom (RIS) – einem präklinischen Stadium der multiplen Sklerose (MS) eine immunmodulierende Therapie erhalten? Neuen Daten aus dem Journal JAMA Neurology zufolge könnten sie von einer frühzeitigen Behandlung mit Teriflunomid profitieren. Kommt es zu einem Um­denken, was den Therapiebeginn betrifft?

Wichtig: Ein radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) ist keine multiple Sklerose (MS). Vielmehr handelt es sich bei diesem Syndrom um einen Zufallsbefund: Radiologen finden bei einer zerebralen Magnetresonanztomografie (MRT), die sie aufgrund anderer Beschwerden des Patienten durchführen, zufällig pathologisch-charakteristische Läsionen, die mit einer multiplen Sklerose „vereinbar sind“, definieren die Autoren der S2k-Leitlinie zur „Diagnostik und Therapie der MS, NMOSD und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen“ [1]. Allerdings werden weitere Diagnosekriterien nicht erfüllt, also klinische Symptome sowie neurologische Ausfallerscheinungen beim Patienten, die nötig wären, um eine multiple Sklerose festzustellen (s. Kasten „Diagnose der MS“). Der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zufolge geht man heute davon aus, „dass es sich bei dem Verlauf der MS um ein Kontinuum handelt und das radio­logisch isolierte Syndrom somit ein präklinisches Stadium darstellt“ [2].

Foto: New Africa/AdobeStock

Bei einem radiologisch isolierten Syndrom hat der Patient (noch) keine klinischen Symptome einer multiplen Sklerose.

Heutiger Standard: keine Therapie bei RIS

Aktuell rät die Leitlinie – anders als bei MS-Diagnose – zu keiner immunmodulierenden Therapie (Disease modifying therapy) bei diesen Patienten. Dies wird damit begründet, dass es derzeit noch keine Ergebnisse aus randomisierten kontrollierten Studien gebe, „die einen Nutzen bzw. die Sicherheit und Verträglichkeit/Adhärenz einer langfristigen Primärprophylaxe mit Immuntherapeutika beim RIS be­legen“. Allerdings könne bei Personen mit radiologisch isoliertem Syndrom, bei denen zusätzlich oligoklonale Banden im Liquor nachweisbar seien (Hinweis auf Entzündungsprozesse im ZNS) und bei denen in MRT-Verlaufsuntersuchungen wiederholt MS-typische neue Läsionen nachgewiesen würden, „eine Off-Label-Immuntherapie mit einer Substanz aus der Wirksamkeitskategorie 1 erwogen werden“. Dazu zählen Beta-Interferone, Fumarate, Glatira­meroide und Teriflunomid. Derzeit hat jedoch keines der immuntherapeutischen Präparate eine Zulassung beim radiologisch isolierten Syndrom [1].

Ist Teriflunomid eine Option?

Zumindest den Punkt mit den fehlenden Studien können Wissenschaftler nun (weiter) entkräften. Sie verglichen in einer prospektiven, multizentrischen (Frankreich, Schweiz, Türkei), doppelblinden randomisierten Phase-III-Studie, die sie im Journal JAMA Neurology veröffentlichten, zwei Gruppen von insgesamt 89 erwachsenen RIS-Patienten. Die Patienten waren im Mittel 37,8 (± 12,1) Jahre alt, der Großteil (70,8%) war weiblich. 44 der Teilnehmer erhielten täglich 14 mg Teri­flunomid peroral, 45 Placebo. Die Wissenschaftler werteten über einen Zeitraum von 96 Wochen MRT-Daten sowie klinische Ereignisse aus, zudem die von den Patienten selbst berichteten Symptome. Asymptomatischen Patienten räumten sie die Möglichkeit ein, die Studie bis Woche 144 in ihrer Gruppe zu verlängern.

Länger symptomfrei

Teriflunomid (z. B. Aubagio®) verlängerte die Zeit bis zum ersten klinischen MS-Ereignis signifikant: Unter dem Immunmodulator entwickelten RIS-Patienten im Mittel nach 128,2 (± 7,25) Wochen ein erstes MS-Sym­ptom, unter Placebo trat die erste MS-Symptomatik knapp 20 Wochen früher auf, und zwar bereits nach 109,6 (± 7,44) Wochen. Das entspricht einer bereinigten Risikoreduktion zugunsten von Teriflunomid von 72%. Auch gab es in der Teriflunomid-Gruppe insgesamt acht klinische Ereignisse, unter Placebo dokumentierten die Wissenschaftler hingegen mit 20 Ereignissen zweieinhalbmal so viele. Keine Unterschiede zeigten sich im MRT bei neuen oder sich vergrößernden Läsionen und bei der Anzahl der Teilnehmer, die neue Läsionen ent­wickelten (sekundäre Endpunkte).

Die Studienautoren resümieren, dass ihre Daten auf den Nutzen einer frühzeitigen Behandlung hindeuten.

Dimethylfumarat verzögert erste MS-Symptome

Das ist mittlerweile die zweite Studie innerhalb eines Jahres, bei der sich eine frühe immunmodulierende Therapie bei einem radiologisch isolierten Syndrom als vorteilhaft erwies. Erst vor Kurzem hatten Wissenschaftler in der ARISE-Studie herausgefunden, dass Dimethylfumarat (z. B. Tecfidera®) das Risiko „eines ersten demyelinisierenden Ereignisses“ während des Studienzeitraums (96 Wochen) „stark reduziert“, erklärten die Studienautoren im Journal Annals of Neurology [5]. Das unbereinigte Hazard Ratio lag bei 0,18 (95%-Konfidenzintervall = 0,05 bis 0,63; p = 0,007). Die Studiengruppen waren mit 44 RIS-Patienten im Dimethylfumarat-Arm und 43 im Placeboarm ähnlich groß wie in der aktuellen Studie mit Teriflunomid.

Diagnose der multiplen Sklerose

Wie die Autoren der Leitlinie „Diagnostik und Therapie der MS, NMOSD und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen“ erklären, handelt es sich bei der multiplen Sklerose um eine Ausschlussdiagnose. Um die Erkrankung feststellen zu können, müssen klinische Symptome bestehen und es muss der Nachweis erbracht werden, dass Läsionen im Zentralnervensystem (ZNS) zu verschiedenen Zeitpunkten und an mehreren Stellen aufgetreten sind. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer zeitlichen und räumlichen Dissemination der Läsionen. Zur Diagnose werden die McDonald-Kriterien 2017 eingesetzt. Dabei werden neben der klinischen Präsentation Läsionen sowie zusätzliche Parameter berücksichtigt [1]. Unterschieden werden die schubförmig-remittierende (RRMS), primär progrediente (PPMS) und sekundär progrediente (SPMS) Verlaufsform der multiplen Sklerose. Davon abgegrenzt wird ein klinisch isoliertes Syndrom (KIS). Es handelt sich um eine „mutmaßliche“ erste klinische Manifestation einer multiplen Sklerose. Gekennzeichnet ist das KIS durch einen Schub mit einem neurologischen Defizit, „das mit einer MS vereinbar ist“. Eine räumliche Dissemination muss bestehen, jedoch fehlt die zeitliche Dissemination, um eine MS-Diagnose zu stellen.

Entwickelt jeder RIS-Patient eine multiple Sklerose?

„Nicht jedes radiologisch isolierte Syndrom entwickelt sich zu einer MS“, erklärt die DGN. Allerdings zeigte in einer früheren Studie mit 451 RIS-­Patienten mehr als die Hälfte (51,2%) innerhalb von zehn Jahren ein erstes klinisches MS-Symptom [4]. Das Risiko erhöhte sich auf 87%, wenn die Patienten zusätzlich folgende Risikofaktoren aufwiesen: jünger als 37 Jahre alt, oligoklonale Banden im Liquor, Rückenmarksläsionen.

Immunmodulierende Therapie für Hochrisiko-Patienten

Bezüglich der aktuellen Studie mit Teriflunomid kommentierte Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär und Pressesprecher der DGN: „Das ist nun schon die zweite Substanz, für die in einer prospektiven randomisierten Interventionsstudie der signifikante Nutzen einer Disease modifying therapy bei Personen mit RIS gezeigt werden konnte“. Die DGN-Leitlinie erlaubt bereits eine immunmodulierende Therapie bei Patienten mit radiologisch isoliertem Syndrom und besonders hohem Risiko für eine MS-Konversion, z. B. bei MS-typischen Liquorbefunden und Befundzunahme in MRT-Verlaufsuntersuchungen. Eine solche Behandlung „sollte aufgrund der Studienlage nun konsequent Betroffenen angeboten werden“, sagte Berlit [2]. |

Literatur

[1] Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen. S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.) unter Beteiligung weiterer Fachgesellschaften, AWMF-Registernummer: 030 - 050, Stand: 30. November 2022

[2] Neue Daten sprechen für eine immunmodifizierende Therapie im präklinischen Stadium der Multiplen Sklerose (RIS). Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 14. November 2023, dgn.org/artikel/neue-daten-sprechen-fur-eine-immunmodifizierende-therapie-im-praklinischen-stadium-der-multiplen-sklerose-ris

[3] Lebrun-Frénay C et al., TERIS Study Group. Teriflunomide and Time to Clinical Multiple Sclerosis in Patients With Radiologically Isolated Syndrome: The TERIS Randomized Clinical Trial. JAMA Neurol 2023;80(10):1080-1088, doi: 10.1001/jamaneurol.2023.2815

[4] Lebrun-Frenay C et al.; 10-year RISC study group on behalf of SFSEP, OFSEP. Radiologically Isolated Syndrome: 10-Year Risk Estimate of a Clinical Event. Ann Neurol 2020;88(2):407-417, doi: 10.1002/ana.25799

[5] Okuda DT et al. Dimethyl fumarate delays multiple sclerosis in radiologically isolated syndrome. Ann Neurol 2023;93(3):604-614, doi:10.1002/ana.26555

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