Dies ist ein Auszug aus dem Artikel „Gefährliche Verwürfe – Wie eine Gesetzeslücke bei Zytostatika-Zubereitungen ahnungslose Patienten gefährden kann“, der in voller Länge in DAZ 2015, Nr. 39 erschienen ist.
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Bei der Zubereitung applikationsfertiger Infusionslösungen sind viele Regeln zu beachten, die dem Schutz des Patienten dienen. Trotzdem hat sich gerade in diesem Bereich eine Praxis herausgebildet, die alle Anstrengungen hinsichtlich der Patientensicherheit konterkariert. Der Gesetzgeber ist gefordert. Ein Gastbeitrag von Dr. Franz Stadler.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte versuchte der Gesetzgeber immer wieder, die Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen. Die Ausgestaltung der Vorgaben oblag dabei im Prinzip fast immer den Sozialpartnern. Unter anderem regelten der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und der Deutsche Apothekerverband (DAV) die Abrechnung parenteraler Zubereitungen mit der Hilfstaxe vom 1.10.2009 und ihren Fortschreibungen neu. Eingeführt wurde u.a. die Milligramm-genaue Abrechnung der verwendeten Bestandteile, die gegenüber der bisherigen Berechnungsgrundlage, deren Basis die kleinste passende Stückelung aus den verfügbaren Packungsgrößen war, zu einer deutliche Kostensenkung in diesem hochpreisigen Marktsegment führen sollte und auch führte.
Dabei war klar, dass es bei einer Milligramm-genauen Abrechnung nicht in jedem Fall möglich sein würde, die verbleibenden Restmengen aus den verfügbaren Packungsgrößen innerhalb der definierten Haltbarkeiten zu verarbeiten. Die Haltbarkeiten der Anbrüche wurden in einigen Fällen nach den Angaben der Hersteller in die Hilfstaxe übernommen und für den großen Rest pauschal auf 24 Stunden festgelegt.
Für die Restmengen, die kassenübergreifend nicht mehr innerhalb dieser Haltbarkeiten weiterverarbeitungsfähig sind, wurde der Begriff des „unvermeidlichen Verwurfes“ eingeführt. Nur dieser unvermeidliche Verwurf darf mit der letzten Zubereitung bei der Krankenkasse des dann zufällig betroffenen Versicherten abgerechnet werden. In der Hilfstaxe schien alles, inklusive einer Auskunftspflicht für die abrechnenden Apotheken, eindeutig geregelt. Es wird gespart und der Patient hat keinen Nachteil.
Pooling praktisch nicht möglich
Doch der Teufel steckt, wie so oft, im Detail. Abhängig von den verfügbaren Packungsgrößen, den Haltbarkeitsangaben für die Stammlösungen und der Häufigkeit und Art der Anwendung des jeweiligen Wirkstoffes, ergeben sich unvermeidliche Verwürfe, die sich in diesem hochpreisigen Marktsegment schnell auf einen dreistelligen Millionenbetrag summieren.
Dabei ist die bestimmende Größe die Haltbarkeitsdauer der Stammlösung. Ein Pooling (Zusammenfassen der Patienten zur Therapie nach Ort und Zeit) ist wegen der oft geringen Fallzahlen und der noch höheren Kosten einer zentralen stationären Klinikeinweisung praktisch unmöglich. Das gilt selbst, wenn man den nicht zu unterschätzenden psychologischen Vorteil einer wohnortnahen Versorgung der meist schwerkranken Patienten gänzlich vernachlässigt. Je kürzer die Haltbarkeit der Stammlösung, und je ungünstiger die zur Verfügung stehende Packungsgröße, desto größer ist der anfallende Verwurf.
Ein besonders anschauliches Beispiel, dargestellt anhand der bayerischen Zahlen, liefert der Wirkstoff Bortezomib (Velcade®) der Firma Janssen-Cilag.
Die Eckdaten: Im Markt gibt es eine Packungsgröße mit 3,5 Milligramm Bortezomib. Die durchschnittliche Dosis pro Patient liegt bei nur rund 2,4 Milligramm. Die Haltbarkeit der Stammlösung beträgt 8 Stunden (Herstellerangabe in der Fachinformation und ebenso in der Hilfstaxe vertraglich fixiert). Es gibt eine s.c.- und eine i.v.-Anwendung, die aus unterschiedlich konzentrierten Stammlösungen hergestellt werden müssen. Die Patienten erhalten an den Tagen 1, 4, 8 und 11 jeweils eine Bolusspritze, ein Zyklus, der nach 21 Tagen meist zweimal wiederholt wird.
Die Folgen: Regelkonform ist es praktisch unmöglich, Verwurf zu vermeiden. Gerade in einem Flächenland wie Bayern und bei wenigen hundert ambulanten Patienten wäre es kaum möglich, in einer zubereitenden Apotheke zehn Zubereitungen an einem Tag zu kumulieren. Die Effekte aus ungünstiger Packungsgröße (vgl. Abb. 1) und kurzer Haltbarkeit des Anbruches (8 Stunden) verstärken sich in diesem Fall zusätzlich.
Die Zahlen1:
Übersicht: die Zahlen im Detail
Bayern 2013 | Bayern 2014 | Veränderung zum Vorjahr | |
Anzahl der Rezepte ( = Zubereitungen) |
6032 | 5589 (-7,3%)2 |
- 7,3% |
Bruttorezeptsumme | 9.339.287€ |
7.804.714€ | - 16,4% |
1 Datenquelle: VSA München (abrechnende Apotheken: 2013:21; 2014:24); |
Schon diese Basiszahlen lassen Ungewöhnliches vermuten, fällt doch im Vergleich der Jahre 2014 und 2013 der Wert der Bruttorezeptsumme mehr als doppelt so stark aus als die zu Grunde liegende Anzahl der Rezepte. Berechnet man daraus nun den Verwurf, zeigt sich Erstaunliches: Der Anteil des Verwurfes in Prozent des maximalen Verwurfes sank innerhalb eines Jahres um über 33 Prozent.
Bayern 2013 | Bayern 2014 | Veränderung zum Vorjahr | |
Durchschnittliche, abgerechnete Dosis in mg1 | 3,06 | 2,83 | -0,23mg |
mg Verwurf pro Zubereitung2 | 0,69 | 0,46 | -0,23mg |
Anteil Verwurf in %2 | 22,55 | 16,25 (-27,9%)4 | -27,9% |
Anteil Verwurf in % des maximalen Verwurfes3 | 61,06 | 40,71 (-33,3%)4 | -33,3% |
1 Berechnet aus dem Bruttoumsatz dividiert durch die Zahl der Zubereitungen, abzüglich 19% MWST, abzüglich Arbeitspreis (79.- bzw. 81.-€), dividiert durch den jeweils gültigen mg-Peis von Janssen Cilag; verwendete Lösungsmittel und Sekundärverpackungen wurden vernachlässigt. 2 Annahme: Die durchschnittliche Patientendosis beträgt 2,37mg. 3 Annahme: Der maximal mögliche Verwurf pro Zubereitung beträgt 1,13mg (=3,5mg – 2,37mg). |
Innerhalb der geltenden Rahmenbedingungen ist es unmöglich, den zu beobachtenden Rückgang an abgerechneten Verwürfen zu erklären. Es muss also eine Erklärung geben, die außerhalb der gesetzlichen Vorgaben liegt und die nicht kontrolliert, sondern stillschweigend toleriert wird. Warum könnte das so sein und gefährdet dieser Graubereich womöglich die Gesundheit der Patienten?
Die Rolle der Sozialpartner
In der Folge der 15. AMG-Novelle wurden zwischen dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und dem Deutsche Apothekerverband (DAV) neue Regeln zur Abrechnung parenteraler Zubereitungen vereinbart, die als Einsparziel 300 Millionen Euro generieren sollten. Ein Ergebnis war die Hilfstaxe vom 1.10.2009, die seit dieser Zeit zwar mehrfach erweitert und geändert wurde, aber ihre damalige Grundstruktur weitgehend behielt.
DAV und GKV sind Vertreter der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder, aber nicht zwangsläufig vertraut mit den Details der Herstellung parenteraler Zubereitungen. Sie müssen vorrangig das vorgegebene Einsparziel erreichen und können nur in zweiter Linie die Meinungen und Vorschläge der Fachleute berücksichtigen. Hinzu kommt, dass alle diese Verhandlungen unter einem nicht unerheblichen Zeitdruck stattfanden und stattfinden.
So kam es zu der für alle verbindlichen Verwurfsregelung, die auf den ersten Blick durchaus korrekt und praktikabel erscheint, aber eben einen entscheidenden Konstruktionsfehler enthält: niemand hat die vereinbarten Haltbarkeitsdaten hinterfragt. Mit Ausnahme der in den Anhängen 1 und 2 aufgeführten Wirkstoffe, deren Haltbarkeiten den Angaben der Fachinformationen folgen, wurden für den großen Rest der Wirkstoffe 24 Stunden nach Zubereitung der Stammlösung festgesetzt.
Um es klar zu sagen: diese Regelung ist sicherheitsorientiert und könnte so umgesetzt werden.
Warum wird sie aber in der Realität nicht umgesetzt, wie das Beispiel Bortezomib eindrücklich belegt?
- Verwürfe stellen für die stets klammen Krankenkassen ein erhebliches Einsparpotential dar. Laut GKV-Spitzenverband wurden 2014 für Verwürfe insgesamt 57 Millionen Euro ausgegeben (zitiert nach: Lena Reseck: Zu viel des Guten. Gesundheitswirtschaft. 4/2015, S. 42).
- Es gibt jede Menge Publikationen unterschiedlicher Güte und Provenienz, die mit einer hohen Variabilität zum Teil erheblich längere Haltbarkeiten postulieren, für deren Ergebnisse aber keiner der Sozialpartner bereit ist, die Haftung zu übernehmen.
Einsparen kann man nie genug. Deshalb waren einige gesetzliche Krankenkassen, besonders erwähnt sei in diesem Zusammenhang die AOK Bayern, der Meinung, dass die Haltbarkeiten einiger Wirkstofflösungen deutlich länger sind, als es in der Hilfstaxe vertraglich vereinbart ist.
Statt aber nun den zugegebenermaßen schwierigen Weg durch die Gremien zu wählen und zu versuchen, die in der Hilfstaxe vereinbarten Haltbarkeiten zu ändern, üben einzelne Krankenkassen Druck auf die Apotheker aus, die ihrerseits, als zahlenmäßig kleine Gruppe, bei Änderungswünschen zur Hilfstaxe beim DAV kaum gehört werden.
Das einfache Druckmittel der Krankenkassen gegenüber den zubereitenden Apotheken sind Retaxationen, die in diesem hochpreisigen Marktsegment sehr schmerzhaft sein können (siehe Abb. 2). Versuche einzelner Apotheken, sich gegen die Krankenkassen vor den Sozialgerichten zu wehren, enden nicht selten in jahrelangen Prozessen, die viel Zeit, Geld und Nerven kosten und deren Ausgang erfahrungsgemäß unsicher ist. Deshalb geben immer mehr Apotheken dem Druck der Krankenkassen nach und übernehmen, zum Teil wider besseren Wissens, längere Haltbarkeiten.
Gefährdet dieses Vorgehen die Gesundheit der Patienten?
Sicher sagen kann das bisher letztlich niemand. Datenbanken, wie stabilis 4.0, versuchen zwar, die vorhandene Literatur kritisch zu sichten und nach den Europäischen Guidelines aus dem Jahr 2010 (siehe C. Bardin et al.: Guidelines for the practical stability studies of anticancer drugs: A European consensus conference, Ann. Pharmaceutiques Francaises ( 2011) 69, 221-231) zu bewerten, lehnen aber jede Haftung für ihre Daten ab.
Genauso verhalten sich im Grunde der GKV-Spitzenverband und der DAV, die ihrerseits auf Grundlage der nur schwer zu überblickenden und kaum zu beurteilenden Publikationen nicht bereit sind, verlängerte Haltbarkeiten verbindlich festzulegen.
In der Praxis entsteht so ein Graubereich, dessen größtes Risiko der ahnungslose Patient trägt. Geht alles gut, sind die Wirkstoffe tatsächlich länger stabil und vor allen Dingen auch noch wirksam, erfüllen sich die Hoffnungen des Patienten auf adäquate Behandlung und die der zubereitenden Apotheker, keinen Fehler begangen zu haben. Andernfalls haften vermutlich nur die Apotheker, da sie sich über die geltenden Rahmenbedingungen hinweggesetzt haben – ein Umstand, der dem geschädigten Patienten aber nicht wirklich weiterhilft.
Aus diesem Dilemma können sich die zubereitenden Apotheken nicht selbst befreien. Ihnen fehlen bei zubereitungspflichtigen Wirkstoffen schlicht verbindliche Haltbarkeiten für die Stammlösungen, die näher an der Realität sind und den verständlichen Einsparwunsch der Krankenkassen berücksichtigen.
Was muss geschehen? Lesen Sie morgen mehr in Teil 2 dieses Beitrags: "Die Rolle der Industrie".
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