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Arzneimittelzulassungen
Lehren aus entzogenen Zulassungen bleiben unbeachtet
Eine britische Studie untersucht die Hintergründe von Medikamenten, denen die Marktzulassung entzogen wurde. Die Ergebnisse haben nur bedingte Aussagekraft, könnten aber den Blick für bislang unbeachtete Probleme schärfen.
Igho Onakpoya, Carl Heneghan und
Jeffrey Aronson vom Centre for Evidence-based Medicine der University of Oxford
haben sich einem Thema zugewandt, dem es gewöhnlich an öffentlichen Interesse
mangelt: Sie haben nach den Mustern von Arzneimitteln geschaut, denen die
Zulassung wegen unerwünschter Wirkungen entzogen wurde. Oder spricht wirklich
jemand noch von Medikamenten, die einmal vom Markt verschwunden sind? Meist
bringen es nur solche auf die Agenda, denen ein Skandal durch Todesfälle oder
verheimlichte Studien anhaftet. Weder das eine noch das andere war etwa für die
Anwendungseinschränkung für Dihydroergotamin-haltige Arzneimittel erst im
Januar 2014, dann Anfang Februar der Fall.
Onakpoya und seine Kollegen wollten wissen, in welchen Regionen der Erde die meisten Arzneimittel zurückgezogen werden – und warum. Außerdem interessierte sie, wie lang es durchschnittlich dauert, bis eine gemeldete Nebenwirkung schließlich zum Rückzug des Mittels führt. Das untersuchten sie weltweit und über einen Zeitraum von 60 Jahren – und, um es schon einmal vorwegzunehmen: Diese globale Betrachtung über so viele Jahre ist auch der Schwachpunkt ihrer Studie.
462 ausgemusterte
Arzneimittel in 60 Jahren
Die Briten fanden auf
den Internetseiten von 31 Regulierungsbehörden, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und unzähligen
medizinischen Publikationen 644 Arzneimittel, die inzwischen nicht mehr in den ursprünglichen
Zusammenstellungen auf dem Markt vertreten sind. Davon gehörten 96 allerdings
zu pflanzlichen oder nicht-verschreibungspflichtigen Mitteln, 86 lohnten sich
wirtschaftlich nicht oder wurden wegen Verunreinigungen oder aus anderen
Gründen zurückgezogen. Knapp ein Drittel der ausgemusterten Mittel geht also
nicht auf schwere Nebenwirkungen verschreibungspflichtiger Medikamente zurück.
Wenig überraschende Ergebnisse fanden die Autoren bei den untersuchten unerwünschten Wirkungen. Mit über 80 Prozent wurden lebertoxische Effekte aufgeführt. Das ist kaum verwunderlich, da zahlreiche Arzneimittel über die hauptsächlich in der Leber vorhandene Cytochrom-P-450-Familie verstoffwechselt werden. Es folgen Autoimmunreaktionen, herzschädigende Eigenschaften und hämatologische Toxizität, wie sie etwa bei Chemotherapien auftreten. Nur bei vergleichsweise wenigen, nämlich 11 Prozent (52 Arzneimitteln), ging die entzogene Marktzulassung auf Abhängigkeit und Missbrauch zurück. In einem Viertel der Fälle (114) berichten die untersuchten Berichte auch von Todesfällen.
39 Prozent wurden in nur einem Land zurückgenommen
Nach der Studie, die vergangenes Jahr im Fachmagazin BMC Medicine veröffentlicht wurde, macht es jedoch den Eindruck, dass verschiedene Zulassungsbehörden das Risiko der Arzneimittel unterschiedlich einstufen. Augenfällig ist: Knapp 39 Prozent der überprüften Mittel wurden nur in jeweils einem Land zurückgezogen. Weltweit wurde gar nur jedes zehnte Arzneimittel vom Markt genommen. Warum das so ist, beantwortet die Studie nicht. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) jedoch beantwortete einst die Frage, warum einige Medikamente in Europa, nicht aber in den USA zugelassen werden, wie folgt: „Die unterschiedlichen Gesundheitssysteme bewirken, dass Patienten anders erreicht werden. Die Kontrolle von Patienten in Europa ist sehr engmaschig, dadurch verschiebt sich das Risiko für einige Nebenwirkungen.“ Das kann aber wohl nicht für weit über ein Drittel der Mittel zutreffen.
Zudem ist es fraglich, ob die Mittel tatsächlich überall gleichermaßen vertreten waren. Zur Verdeutlichung: Erst seit knapp zwanzig Jahren etwa existiert in dem hochregulierten Europa ein gemeinsames Zulassungsverfahren. Zuvor mussten die Hersteller einzelne Zulassungen beantragen. Und auch noch heute können sie Medikamente von gewissen Märkten ausschließen.
In Afrika werden die wenigsten Medikamente zurückgezogen
Die Autoren beklagen, dass in Afrika die Arzneimittelsicherheit offenbar längst nicht so großgeschrieben wird wie in europäischen oder nordamerikanischen Ländern. Während in den 54 untersuchten Staaten 63 Medikamente ausgemustert wurden, waren es in 50 europäischen Nationen 309. Sind Afrikaner nun einem größeren Risiko ausgesetzt? Das lässt sich nicht so leicht beantworten.
Das Beispiel der oralen Polioimpfung zeigt, wie verschiedene Erkrankungsrisiken zu einer ganz unterschiedlichen Bewertung von Arzneimittelbehörden führen kann. „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist bitter“ lautet ein Satz, mit dem Generationen von Kindern in Deutschland aufgewachsen sind. Im Kindergarten oder der Grundschule mussten sie diesen Zuckerwürfel samt Impfstoff schlucken. 1962 wurde sie in Deutschland eingeführt, später durch die Kombinationsimpfungen für Säuglinge ersetzt, und 1998 entzog die Impfkommission die Empfehlung für den oralen Impfstoff. Warum? Die Vakzine setzte sich aus einem Lebendimpfstoff zusammen. In seltenen Fällen kam es zu einer impfbedingten Poliomyelitis. Seit 1998 aber gibt es den injizierbaren Totimpfstoff – ohne das Risiko dieser Nebenwirkung. Sein Nachteil: Er schützt die Kinder vor der Erkrankung, nicht aber vor der Infektion und damit der Weiterverbreitung des Virus.
Das Risiko hängt von den Umständen ab
In einigen Hochrisikoländern wie etwa in Afrika oder Pakistan ist die Schluckimpfung daher auch heute noch unverzichtbar. Sie schützt indirekt auch ungeimpfte Kinder. „Für Massenimpfungen ist die Spritze zudem schwierig“, so ein Sprecher von Ärzte ohne Grenzen. Aus ähnlichen Gründen ist die BCG-Tuberkuloseimpfung für Kinder ebenfalls nur noch für Menschen in stark gefährdeten Regionen zugelassen.
Auf der anderen Seite verfügen laut Weltgesundheitsorganisation überhaupt nur vier Prozent der afrikanischen Staaten über eine funktionierende Arzneimittelüberwachung. Es existiert kaum ein Staat in Afrika, der in den letzten 60 Jahren nicht in einen Krieg verwickelt war oder dies noch ist. Inwieweit dort angesichts existenzieller Probleme überhaupt Daten über Arzneimittelwirkungen aufgenommen wurden, stellen daher auch die Autoren der Studie als fraglich hin.
Zeitraum zwischen Markteintritt und -rückzug variiert beträchtlich
Onakpoya, Heneghan und Aronson untersuchten ebenfalls, wieviel Zeit zwischen Markteintritt und -rückzug der Arzneimittel verging. Und wann die ersten Nebenwirkungen auftraten. Das berechneten sie zunächst für alle Medikamente und schließlich für die nach 1960 zugelassenen Mittel. Inwieweit diese Daten überhaupt eine Aussage zulassen, ist jedoch zweifelhaft. So gehörten zu den Mitteln, die über den gesamten Zeitraum beobachtet wurden, auch solche, die sich bereits im 18. Jahrhundert etablierten und erst 150 bis 200 Jahr später „zurückgezogen“ wurden – der Durchschnitt lag bei 18 Jahren und für Medikamente, die erst nach 1960 auf den Markt kamen, bei 10 Jahren.
Aber kann man aus diesen Daten eine generelle Aussage treffen? „Die Handlungsmöglichkeiten der europäischen Zulassungs- und Überwachungsbehörden sind mit dem Ziel, Arzneimittelrisiken schneller erkennen und minimieren zu können, in den letzten Jahren stetig erweitert worden“, sagt ein Sprecher des BfArM. Das gelte nicht nur für die Überwachung von Nebenwirkungen, sondern auch für die Zulassung der Mittel selbst. Selbst Bewertungen von Arzneimittelrisiken aus den 70er oder 80er Jahren lassen sich nicht unmittelbar mit den heutigen Sicherheitsanforderungen vergleichen. In der Studie heißt es dazu, tendenziell würden die Zeiträume umso kürzer, je später das Medikament zugelassen worden ist.
Lücken der Studien weisen auf Forschungsbedarf hin
Was lehrt diese Studie nun eigentlich? Sie zeigt zumindest auf, dass es erheblichen Forschungsbedarf gibt. Muss es eine globale Datenbank geben, in der diese Informationen systematisch erfasst werden? Das erscheint sinnvoll, damit sich Gesundheitsexperten, Ärzte und Pharmakologen schnell und gut über die Ursachen und die Bedeutung eines Marktentzugs bedingt durch Nebenwirkungen informieren können. Welche Rolle spielt die Arzneimittelaufsicht in afrikanischen Ländern? Die Forderung der Autoren nach einer besseren Arzneimittelüberwachung in Afrika könnte bald schon Realität werden. Derzeit laufen Verhandlungen zwischen der WHO und der Afrikanischen Union, 2018 eine Afrikanische Arzneimittelbehörde ins Leben zu rufen.
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