Arzneimittelentwicklungen

Nur neu – oder auch innovativ?

Berlin - 18.03.2016, 18:00 Uhr

Bewährtes Vortragsteam: die Frankfurter Professoren Dieter Steinhilber und Manfred Schubert-Zsilavecz. (Foto: as / DAZ)

Bewährtes Vortragsteam: die Frankfurter Professoren Dieter Steinhilber und Manfred Schubert-Zsilavecz. (Foto: as / DAZ)


Wie vielversprechend sind die neuen Wirkstoffe, die aktuell in der Pipeline sind? Auf der INTERPHARM wurden sechs neue Arzneimittel vorgestellt. Sie sollen zum Beispiel bei einer Muskelerkrankung helfen - oder bei trockenem Auge.

Einen Überblick über aktuelle Arzneimittel-Neuentwicklungen zu behalten, fällt oft schwer – in Lehrbücher halten sie normalerweise erst relativ spät Einzug. Auf der INTERPHARM stellten die Professoren Manfred Schubert-Zsilavecz und Dieter Steinhilber von der Goethe-Universität Frankfurt daher sechs neue Wirkstoffe vor, die in der Endphase der Pipeline sind und die als innovativ angepriesen werden. Wir wirksam sind die neuen Mittel wirklich?

Drisapersen für Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie

Bei der Duchenne-Muskeldystrophie kommt es zu Mutationen im Dystrophin-Gen, so dass betroffene Patienten praktisch kein funktionsfähiges Protein mehr produzieren. Dystrophin verbindet das Zytoskelett von Muskelfasern mit dem extrazellulären Raum. Mit 2,5 Millionen Basenpaaren ist das Dystrophin-Gen eines der längsten Gene, so dass es relativ häufig zu Neumutationen kommt. Es wird X-chromosomal vererbt, so dass fast nur Jungen betroffen sind. Bei ihnen breitet sich die Muskelschwäche von den Beinen in Richtung Nacken aus – eine Therapie gibt es bisher nicht.

Für die Entwicklung des Wirkstoffs Drisapersen war laut Steinhilber die Beobachtung entscheidend, dass bei manchen Patienten die Krankheit bedeutend milder verläuft: Bei Patienten mit Becker-Muskeldystrophie ist ein zusätzlicher Genabschnitt verändert, der dafür sorgt, dass Dystrophin teilweise gebildet wird. Das Oligonukleotid Drisapersen, das von der kalifornischen Pharmafirma BioMarin entwickelt wurde, nutzt dieselbe Wirkung aus und führt so zu einer erhöhten Bildung des Proteins. Allerdings stiegt der Dystrophinspiegel nur von 0,3 Prozent auf ungefähr 1 Prozent, während bei Patienten mit Becker-Muskeldystrophie mehr als zehnfach größerer Spiegel vorliegt.

„Es ist ein erstes Beispiel dafür, dass es gelingt, mit diesem Prinzip den Fehler zumindest zum Teil zu verringern“, sagt Steinhilber. Da bisher keine Therapie existiert, werden die Patienten einige Hoffnung in den Wirkstoff setzen. Allerdings ist laut Steinhilber noch nicht klar, ob er angesichts des weiterhin sehr geringen Dystrophinspiegels tatsächlich die Symptome und den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann. 

Baricitinib und Sarilumab bei rheumatoider Arthritis

Da die aktuellen Basistherapeutika für rheumatoide Arthritis bei einem signifikanten Anteil der Patienten nicht ausreichend wirken und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) in Deutschland mit ungefähr 2000 Todesfällen pro Jahr einhergehen, besteht laut Steinhilber weiterhin erheblicher Bedarf an zusätzlichen Wirkstoffen.

Aussichtsreich könnte ein Eingriff in einen Signalweg sein, der die fehlgeleitete Immunreaktion mit moduliert: Baricitinib von Eli Lilly und der monoklonale Antikörper Sarilumab, der von Regeneron und Sanofi zusammen entwickelt wird, wirken auf den JAK-STAT-Signalweg. Über diesen leiten Zellen die Informationen extrazellulärer Zytokine an den Zellkern weiter – unter anderem vermitteln sie auch Entzündungsreaktionen.

Baricitinib ist ein selektiver Hemmer der Janus-Kinasen (JAK) 1 und 2 – im Vergleich zu anderen Hemmstoffen werden andere Kinasen kaum gehemmt. Es ist oral wirksam und kann bei einer Halbwertszeit von sieben Stunden einmal täglich verabreicht werden. Laut Steinhilber wirke er in den Studien sehr gut – er wertet es als neue Therapieoption. Als Nebenwirkungen gäbe es unter anderem eine moderate Reduktion der Leukozyten und eine erhöhte Infektionsneigung. Die Langzeitwirkung sei noch unklar.

Bei Sarilumab handelt es sich um einen Antikörper gegen den Interleukin-6-Rezeptor. Interleukin 6 führt beispielsweise zu einer Einwanderung von Neutrophilen Granulozyten und zu einem Verlust der Immunsuppression. Mit Tocilizumab ist bereits ein Antikörper für Interleukin 6 auf dem Markt. Bei drei Studien zu Sarilumab hätte es eine signifikante Verbesserung der Symptome gegeben, bei vergleichbaren Nebenwirkungen wie bei anderen antirheumatischen Mitteln. Der Hauptunterschied zu Tocilizumab ist, dass Sarilumab nicht als Infusion sondern 14-tägig subkutan verabreicht wird. Daher schätzt Steinhilber den Antikörper als „Me-Too“-Arznei ein.

(DAZ.online)

Dieter Steinhilber auf der Interpharm


Patiromer zur Anwendung bei Hyperkaliämie

Das organische Polymer Patiromer wurde vom kanadischen Biotech-Unternehmen Relypsa entwickelt, um gefährlichen Nebenwirkungen von Spironolacton zu begegnen: Der Aldosteron-Antagonist und Blutdrucksenker wirkt zwar sehr gut bei Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz, doch kommt es teilweise zu einer Hyperkaliämie. Hiervon sind insbesondere Patienten mit Niereninsuffizienz betroffen. Sowohl das bisher noch nicht zugelassene Natrium-Zirconium-Cyclosilikat als auch Patiromer sind laut Schubert-Zsilavecz aussichtsreich, um den Kaliumspiegel in den Griff zu bekommen.

Natrium-Zirconium-Cyclosilikat setzt Natrium frei und bindet im Gegenzug Kalium. Der oral verabreichte Stoff kann einer Hyperkaliämie entgegenwirken, indem Kalium direkt im Gastrointestinaltrakt gebunden wird. Jedoch sind die bisher untersuchten Dosen von bis zu 15 Gramm vergleichsweise hoch.

Auch Patiromer wird oral appliziert und wirkt im Gastrointestinaltrakt, so dass es nicht systemisch in den Kreislauf aufgenommen wird. Die Studiendaten seien gut, im Oktober 2015 wurde Patiromer durch die FDA zugelassen. „Ich bin mir sicher, dass wir beide Substanzen in nächster Zeit auch in Deutschland sehen werden“, sagt Schubert-Zsilavecz. Sie würden eine Lücke schließen, indem sie über einen oral verabreichten Wirkstoff ermöglichen, der Hyperkaliämie zu begegnen.

Selexipag für Patienten mit pulmonaler Hypertonie

Bluthochdruck im Lungenkreislauf ist eine chronische, lebensbedrohliche Erkrankung, die mit 15 bis 50 Patienten pro 1 Million Einwohner relativ selten auftritt. Bei den Patienten kommt es zu einer Erhöhung des Peptidhormons Endothelin, welches wiederum zur Erhöhung des Blutdrucks führt. Endothelin-Rezeptor-Antagonisten oder Prostacyclin-Analoga können schon heute helfen, doch fehlt bisher eine orale Therapie.

„Diese Lücke schließt sich jetzt“, sagt Schubert-Zsilavecz: Eine angesichts der seltenen Erkrankung besonders umfangreichen Studie mit 1156 Patienten hätte gezeigt, dass Selexipag geeignet ist, Todesfälle und Lungentransplantationen zu verhindern. Der Wirkstoff aktiviert selektiv den Prostacyclin-Rezeptor, was zur Dilatation der Blutgefäße führt und die Proliferation von vaskulären glatten Muskelzellen hemmt. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur hat Ende 2015 die Zulassung des als Orphan Drug klassifizierten Mittels empfohlen.

Lifitegrast zur Behandlung des trockenen Auges

Zum Abschluss stellte Schubert-Zsilavecz einen etwas exotischen Wirkstoff vor: Lifitegrast greift in die Immunsituation des Auges ein und kann die Entzündungsreaktion an der Cornea hemmen, zu der es bei trockenen Augen kommt – mit möglichen bleibenden Schäden an der Augenoberfläche. Lifitegrast bindet als Antagonist an das Leukozyten-Funktions-Antigen (LFA) 1 und verhindert dessen Interaktion mit seinem Liganden ICAM-1, der bei trockenen Auge vermehrt gebildet wird. Während die Interaktion zur T-Zell-vermittelten Entzündungsreaktion führt, kann Lifitegrast diese unterdrücken.

Laut Wirkstoff-Hersteller Shire hätten allein in den USA knapp 30 Millionen Patienten trockene Augen. Lokal zweimal täglich angewandt kann Lifitegrast die Symptome signifikant verbessern, so Schubert-Zsilavecz. Während die FDA im April 2015 das Arzneimittel für ein beschleunigtes Verfahren auswählte, gab es bei einem späteren Zulassungsantrag allerdings einige Nachfragen – so dass dieser Anfang dieses Jahres erneut gestellt werden musste. 

Innovativ?

Der Vortrag der beiden Pharmazeuten, die auch Präsidenten der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft waren, zeigt mal wieder, dass sich die Frage nach der Innovativität nicht so leicht beantworten lässt. Wichtig scheint es zu sein, sie vorsichtig zu beantworten - um beispielsweise bei Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie keine unberechtigten Hoffnungen zu wecken, bevor nicht klar ist, dass ihnen tatsächlich geholfen werden kann.


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