Arznei auf Knopfdruck

Forscher entwickeln Pharmafabrik in Schrankgröße

Cambridge/Basel - 03.04.2016, 08:50 Uhr

Kompakte Pharma-Fabrik: Per Flow-Chemie sollen auch in Krisenregionen Arzneimittel hergestellt werden. (Foto: MIT)

Kompakte Pharma-Fabrik: Per Flow-Chemie sollen auch in Krisenregionen Arzneimittel hergestellt werden. (Foto: MIT)


Das Gerät hat die Größe eines Kühlschranks und produziert verschiedene Arzneimittel – wesentlich schneller als herkömmliche Verfahren. Der Apparat könne bei Epidemien oder nach Katastrophen vor Ort Arzneien produzieren, schreiben US-Forscher.

Schneller, günstiger, besser: Ein Gerät von der Größe eines Kühlschranks kann auf Knopfdruck verschiedene Arzneimittel produzieren. Mit dem Gerät, das vor wenigen Jahren vielleicht noch als Aprilscherz durchgegangen wäre, ließen sich Arzneimittel je nach Bedarf rasch in einer Qualität herstellen, die US-Standards entspreche, schreibt ein Team um Timothy Jamison, Klavs Jensen und Allan Myerson vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Fachblatt „Science“. Beabsichtigter Einsatzzweck seien Epidemien oder andere humanitären Krisen, bei denen wichtige Arzneien vor Ort hergestellt werden sollen.

Bisher eingesetzte Verfahren könnten zwar große Mengen Arzneimittel produzieren – allerdings unter enormem Aufwand und nur vergleichsweise langsam. Dies lohnt eher für große Chargen und Stoffe mit langer Haltbarkeit. Zudem lässt sich die Produktion nur schwer an plötzliche Schwankungen des Bedarfs anpassen, etwa im Falle einer Epidemie.

Das Gerät soll Engpässen vorbeugen

Darüber hinaus ist ein solches Vorgehen anfällig für Probleme, etwa bei einer Unterbrechung der Produktionskette. Folge davon können Arznei-Engpässe sein. Die US-Zulassungsbehörde FDA habe von 2011 bis 2014 mehr als 200 Fälle von Lieferengpässen dokumentiert, schreibt das Team.

(Foto: MIT)

„Um diese Probleme anzugehen, haben wir eine kontinuierliche Produktionsplattform entwickelt, die die Synthese und die Rezeptur für das endgültige Arzneiprodukt in einer einzelnen kompakten Einheit kombiniert“, schreibt das Team. Das Gerät wiegt rund 100 Kilogramm und hat die Größe eines großen Kühlschranks – 1,80 Meter hoch, 1 Meter breit, 70 Zentimeter tief.

Es lässt sich von einem einzelnen Menschen bedienen und kann vier verschiedene Arzneimittel flüssig in gewünschter Dosis produzieren – und zwar wesentlich schneller als auf herkömmlichem Weg. Das liegt unter anderem daran, dass in den kleineren Behältern Drücke und Temperaturen möglich sind, die in größeren Reaktionsbehältern nur mit hohem Aufwand erreicht werden.

Zu den Arzneimitteln, die das Gerät herstellen kann, zählen

  • das Antihistaminikum Diphenhydramin,
  • das Lokalanästhetikum Lidocain, das auch gegen Herzrhythmusstörungen angewandt wird,
  • das Benzodiazepin Diazepam oder
  • das Antidepressivum Fluoxetin, das zu den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) gehört.

Schnelle Synthese

Die Produktion der Arzneimittel aus den Rohmaterialien dauerte von 12 Stunden (Lidocain) bis maximal 48 Stunden (Fluoxetin). Die Umstellung von einem Medikament auf ein anderes nahm zwischen 15 Minuten und 2 Stunden in Anspruch. Verunreinigungen bei den Wirkstoffen fanden die Forscher nicht. Der Einsatz von Reaktionsbehältern verschiedener Größe könne die Produktionskosten senken und durch ein verbessertes Nebenprodukteprofil auch die Qualität der Wirkstoffe verbessern, betonen sie.

In einem „Science“-Begleitkommentar schreibt Rainer Martin, Medizinalchemiker beim Pharmakonzern Roche in Basel, der Arzneikatalog dieser sogenannten Flow-Chemie-Apparatur lasse sich auf weitere Arzneimittel ausdehnen. Seit dem 19. Jahrhundert hätten Generationen von Chemikern ihre Verbindungen stets auf ähnliche Weise produziert: „Reagenzien, Katalysatoren und Lösungsmittel werden in einem Kolben vereint und dann eine bestimmte Zeit geschüttelt und erhitzt, wonach die chemische Zusammensetzung analysiert wird, um zu sehen, ob die Reaktion abgeschlossen ist und das Produkt isoliert werden kann.“ Dieses Leitprinzip gelte noch immer.

Allgemeines Interesse für die Flow-Chemie

„Die Pharmaindustrie beginnt sich zunehmend für kontinuierliche Flow-Chemie-Prozesse zur Herstellung von aktiven Wirkstoffen zu interessieren“, sagt Martin. In der Ölindustrie oder der großtechnischen Herstellung von Chemikalien sei dies schon lange etabliert. Martin schreibt: „Die Arbeit von Adamo et al. bietet verlockende Aussichten wie zum Beispiel Arzneilieferung in Notfällen und in besonderen Situationen, etwa bei Epidemien oder nach Naturkatastrophen.“ Solche Anlagen könne man dann schnell in Krisenregionen liefern.

„Es wäre auch denkbar, dass größere Gesundheitseinrichtungen wie Unikliniken vielbenötigte Arzneien mit einem solchen Gerät selbst herstellen würden“, sagt er. Allerdings werde es noch dauern, bis solche Verfahren anstelle traditioneller Produktionsprozesse eingesetzt würden. „Die herkömmlichen Produktionsanlagen und Prozessverfahren beherrscht man heute sehr gut und es müssen daher eindeutige Gründe vorliegen, um in neue Anlagen zu investieren.“

Auch für die geplanten Einsätze in Krisenregionen dürfte es einige Hindernisse geben, müsste hier ja die nötige Infrastruktur samt Energieversorgung vorhanden sein. Wie auch der Nachschub an den nötigen Rohstoffen. 


dpa / DAZ.online
redaktion@daz.online


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