Todesfall bei Studie in Rennes

Expertenkommission gibt BIA 10-2474 die Schuld

Stuttgart - 20.04.2016, 15:00 Uhr

Klinik Rennes: Der später verstorbene Proband wurde "im ernsten Zustand" eingeliefert. (Foto: dpa)

Klinik Rennes: Der später verstorbene Proband wurde "im ernsten Zustand" eingeliefert. (Foto: dpa)


Eine Untersuchung der französischen Arzneimittelbehörde kommt zu dem Schluss, dass wohl unspezifische Nebenwirkungen die tragischen Zwischenfälle bei der Phase-I-Studie ausgelöst haben. Laut der Experten hätte das Risiko anhand der vorliegenden Daten nicht erkannt werden können. Dennoch stellen sie weitere erhebliche Unregelmäßigkeiten fest.

Während das von der französischen Gesundheitsministerin Marisol Touraine für Ende März versprochene Untersuchungsergebnis der Generalinspektion für Soziale Angelegenheiten (IGAS) weiter auf sich warten lässt, hat eine Expertenkommission der Arzneimittelbehörde ANSM am Dienstag ihren Abschlussbericht vorgestellt. „Der Zwischenfall bei mehreren Probanden, die an der von Biotrial durchgeführten klinischen Studie in Rennes teilnahmen, scheint klar mit dem untersuchten Molekül in Verbindung zu stehen“, schreiben die Wissenschaftler.

Bei der Phase-I-Studie zu dem FAAH-Inhibitor BIA 10-2474, der auf das Cannabinoid-System einwirken sollte, um unter anderem das Schmerzempfinden zu reduzieren, war Mitte Januar ein Proband gestorben und fünf weitere mit teils schweren Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Noch nicht ausschließen können die Experten, dass sich vielleicht auch Stoffwechselprodukte im Gehirn angereichert haben und es so zu den starken Problemen kam. Andere mögliche Erklärungen wie Infektionen oder Cannabis-Konsum seien unplausibel.

Weitere Dosisgabe trotz ernstem Zustand

Wie schon in einem früheren Zwischenbericht geschrieben, ist wohl die unspezifische Wirkung, die lange Halbwertszeit sowie die vergleichsweise hohe Dosis von BIA 10-2474 Schuld an den starken Nebenwirkungen. Sie waren bei einer Gruppe von Probanden aufgetreten, die zehn Tage hintereinander jeweils 50 Milligramm der Substanz erhalten sollten. Doch nach der fünften Gabe wurde der später verstorbene Proband in die Uniklinik in Rennes eingeliefert – „in ernstem Zustand“, wie die Kommission jetzt schreibt.

Das Auftragsforschungsinstitut Biotrial hatte mehrfach betont, dass die Klinik am Abend der Einweisung Entwarnung gegeben habe, so dass der für die anderen Probanden vielleicht verhängnisvollen Verabreichung der nächsten Dosis nichts im Wege stand.

Das plötzliche Auftreten der schweren toxischen Symptome könne laut den Wissenschaftlern durch die geringe Effektivität, die geringe Spezifität und die besonders steile Dosis-Wirkungs-Kurve erklärt werden. Unter diesen Umständen sei es kaum erklärbar, dass die Dosis von zuvor 20 auf 50 Milligramm mehr als verdoppelt wurde. „Dies spielt bei der Auslösung des Zwischenfalls wahrscheinlich eine wichtige Rolle“, schreiben die Experten.

Zu kurzer Sicherheitspuffer

Sie kritisieren auch, dass diese Dosissteigerung angesichts des Ablaufs der Studie und der für Analysen nötigen Zeit das Risiko erhöht habe. Deutsche Experten hatten das Design aufgrund der Verschachtelung von schnell aufeinander ablaufenden Teilstudien stark kritisiert. Die Kommission weist nun nochmal darauf hin, dass laut dem Studienplan immer nur die Ergebnisse der vorletzten Kohorte ausgewertet wurden – für die letzte Gruppe, die 50 Milligramm erhielt, wurden so nur die pharmakologischen Daten der Gruppe mit 10 Milligramm herangezogen. Aufgrund der nicht-proportionalen Wirkung von BIA 10-2474 hätte dies jedoch praktisch ausgeschlossen, die Dosis angemessen anzupassen.

Die Kommission betont in ihrem 30-seitigen Bericht mehrfach, dass bei Zulassung der Studie ein erhöhtes Risiko nicht hätte erkannt werden können. „Die auch in der Investigators Brochure übermittelten Daten enthielten keine Informationen, toxikologische eingeschlossen, die ein besonderes Risiko bei der ersten Gabe an Menschen hätte befürchten lassen können“, berichten die Experten. Dabei decken sie mit ihrem Bericht gleichzeitig neue Informationen über die Tierversuche auf: Bei zwei Mäusen und einer Ratte sei es bei hoher Dosisgabe insbesondere im Hippocampus zu Gewebeveränderungen und Entzündungsprozessen gekommen. Die Veränderungen seien bei Studien dieser Art jedoch oft bei Nagetieren zu beobachten, schreiben die Wissenschaftler.

Zuvor nur unauffällige Nebenwirkungen?

Auch die Nebenwirkungen, die bei Patienten aus der Gruppe mit 10 Milligramm aufgetreten waren, seien laut den Experten nicht auffällig gewesen: Die aufgetretenen Sehstörungen hätten nur 10 bis 30 Minuten gedauert. Hingegen hatte die französische Tageszeitung „Le Figaro“ vergangene Woche aus einem internen Bericht zitiert, dass die Probleme bei zwei Probanden mehrfach aufgetreten seien – und zwischen einer und zweieinhalb Stunden gedauert hätten.

Während die Expertenkommission außerdem nur davon spricht, dass „leichte“ Kopfschmerzen aufgetreten seien, hätten diese bei einem Probanden laut „Le Figaro“ 29 Stunden gedauert, und bei einem weiteren Teilnehmer aus der vorletzten Gruppe sogar 47 Stunden. Der interne Bericht, aus dem die Tageszeitung zitiert, sei schon einen Tag nach dem Tod des Probanden am 18. Januar vorbereitet worden. Nach einem „Le Figaro“-Artikel von Dienstag habe einer der Versuchsteilnehmer vor der Studie einen Schlaganfall gehabt - jedoch ist weder klar, welcher Proband dies war, noch, wann der Schlaganfall aufgetreten ist.

War die Zulassung der Studie gerechtfertigt?

Anders als bei den Ermittlungen der Untersuchungsbehörde IGAS sowie der derzeit tätigen Staatsanwaltschaft habe es nicht in der Macht der Kommission gelegen, darüber zu urteilen, ob die Zulassung der Studie durch die Arzneimittelbehörde und der Ethikkommission in Brest angemessen war. Aufgrund der Kritik an dem Studiendesign ergeben sich jedoch berechtigte Zweifel, ob die Zulassung in dieser Form so zulässig war. Insbesondere, da die Wissenschaftler erhebliche Bedenken haben, inwiefern BIA 10-2474 überhaupt wirksam war. So wurde auch die Entwicklung anderer FAAH-Inhibitoren zwischenzeitlich eingestellt. Die Experten bemängeln, dass laut den Zulassungsunterlagen nur zwei Studien an Mäusen vorgelegt wurden, die einen nur äußerst mäßigen schmerzlindernden Effekt gezeigt hätten.

Angesichts der bisher nicht veröffentlichten „Investigators Brochure“ kommen die Wissenschaftler zu einem weiteren Urteil, das für Bial, Biotrial, die Ethikkommission und die Arzneimittelbehörde äußerst heikel werden könnte: „Diese Broschüre enthält eine ziemliche Anzahl von Fehlern, Ungenauigkeiten, Zahlendrehern und Übersetzungsfehlern, die das Verständnis an mehreren Stellen schwierig macht“, schreibt die Kommission. Gerade bei dem Abschnitt zur Wirksamkeit gibt es zwei Fehler in einer Abbildung: Einerseits eine direkt ersichtliche, falsche Achsenbeschriftung – andererseits wurden Vergleichswerte weggelassen, die gezeigt hätten, dass BIA 10-2474 vergleichsweise sehr ineffektiv ist.

In Zukunft: Maximale Sicherheit und gesunder Menschenverstand

Als Voraussetzung für zukünftige Studien verlangen die Experten scheinbar Selbstverständliches: Nämlich, dass für jede klinische Entwicklung „eine ausreichend vollständige präklinische Pharmakologie“ unbedingt nötig sei. Auch müssten die Wirkstoff-Dosen an die Daten angepasst werden können, die bei den vorherigen Probanden ermittelt wurden. Die Dosissteigerungen sollten – anders als in dieser Studie – „nach gesundem klinischen und pharmakologischen Menschenverstand“ erfolgen. „Bei der ersten Gabe an Menschen sowie bei Phase-I-Studien sollte es notwendig sein, die maximale Sicherheit von Versuchspersonen vor jedwede praktische, ökonomische oder regulatorische Erwägung zu stellen“, so die Kommission.

Erneut fordert sie eine internationale Debatte darüber, ob es nicht leichteren Zugang zu den Ergebnissen früherer Studien geben sollte, um Probanden so besser schützen zu können. 


Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Klin. Prüfung, Phase I, von BIA 10-2474

von Prof. Dr. Gisbert Sponer am 29.06.2016 um 18:48 Uhr

Mir liegen nur die frei zugänglichen Informationen vor, also leider nicht die Investigator Brochure, dies wäre aber für die Bewertung des Falles wichtig. TSSC, also der von ANSM installierten Kommission, lag sie offenbar vor..
Meine Stellungnahme:
Die Prüfung wurde sowohl von der Franz. Gesundheitsbehörde ANSM als auch von der Ethikkommission in Brest genehmigt, allerdings zu einem Zeitpunkt, bei dem, mindestens teilweise, die Unterschriften von der Fa. .BIAL unter das Studienprotokoll noch nicht gegeben waren. Das ist für mich unverständlich.
Die erste Gabe bei einem Probanden war nur 3 Tage nach der Genehmigung durch Behörde oder Ethikkommission, dies ist ebenfalls -schon aus organisatorischen Gründen- sehr ungewöhnlich.
In dem Studienprotokoll wird vermittelt, dass es keinerlei Probleme bei den toxikologischen Untersuchungen an Tieren gegeben habe. Andererseits gibt es Hinweise für gestorbene oder (oder aus ethischen Gründen ?) getötete Tiere. Hier würde man gern mehr konkrete Informationen haben.
Offensichtlich wurden die meisten präklinischen Untersuchungen durch Auftragsfirmen der Fa. BIAL gemacht. Solche Institute interpretieren selten die dabei erhaltenen Ergebnisse. Konnte das durch den "Braintrust" bei BIAl adäquat kompensiert werden ? . Die Tatsache, dass bei den Probanden Dosen bis zu 100 bzw. 50 mg gegeben wurden, obwohl die reine pharmakologische Wirkung (Hemmung des betreffenden Enzyms) bereits mit 5 mg komplett erreicht war, spricht gegen diese Annahme. Das "Abarbeiten" von Guidelines und anderen Vorschriften reicht eben nicht. Jedenfalls sind die präklinischen Untersuchungen zur Wirkung völlig unzureichend. Der Nachweis der Wirkung an einem molekulares Target kann nur dann als ausreichend angesehen werden, wenn das endogene System, auch mit seinen Interaktionen mit anderen Systemen, sehr gut erforscht ist. (z. B. das beta-adrenerge System). das ist aber im vorliegenden Fall (endogenes Cannabinoid-System) nicht der Fall.
Auch die präklinischen pharmakokinetischen Daten (nur mit radioaktiv markierter Substanz ?) sind (siehe Prüfprotokoll) unzureichend. Haben das die klinische Prüfung zulassenden Stellen nicht erkannt und ggf. Nachforderungen dazu gestellt ?
Ich werde zu diesem Thema in einem ausgewählten Kreis eine Präsentation machen.

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