- DAZ.online
- News
- Pharmazie
- Über Coca in der ...
DAZ.Spezial - Eine kurze Karriere
Über Coca in der westlichen Medizin
Obwohl bereits die ersten
Entdecker und Eroberer,
die
Südamerika bereisten,
über die Coca berichtet
hatten, blieb deren
Konsum
über Jahrhunderte
auf
Südamerika beschränkt.1 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts
propagierten
der ehemalige
Jesuit
Antonio Julian und der
peruanische Mediziner Hipólito Unanue
die
Einführung
der Coca in den
westlichen Arzneischatz. Mehrere Naturforscher,
die
in der
ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts
Südamerika erkundet
hatten, erwähnten
die
Coca
in ihren
Reiseberichten
und
trugen so
zu ihrer
Popularisierung
bei. Aber es
war
ein
junger
italienischer
Arzt, dessen
Bericht
über seine
Selbstversuche mit Coca den
Beginn
des Siegeszuges dieser
Pflanze in
Europa
markiert.
Un vero tesoro del Nuovo Mundo
Coca zur Anregung
Der italienische Arzt Paolo Mantegazza (1831–1910),2 der sich zwischen 1854 und 1858 in Südamerika aufhielt, führte eine Serie von Versuchen mit der Coca an sich selbst durch, deren Ergebnisse er in einer preisgekrönten Schrift ausführlich darstellte.3 Niedrige Dosen hätten demnach eine stimulierende Wirkung auf die Magennerven und die Verdauung. Dann würden die Temperatur, der Puls und die Respirationsfrequenz erhöht. Mittlere Dosen stimulierten anfangs das Nervensystem und die Muskulatur. Mantegazza spricht davon, dass es ihm, „der im normalen Zustande jede gymnastische Uebung sorgfältig vermied“, gelang, „mit einer katzenartigen Leichtigkeit und Sicherheit“ auf den Schreibtisch zu springen, bevor ein „sopore beato“ einsetzte. Nach Gabe hoher Dosen beobachtete er Halluzinationen und Delir.
Die Coca besitze also die kostbare Eigenschaft, das Nervensystem anzuregen, so dass man mit seinen Phantasmorgien eine der größten Vergnügungen des Lebens genießen könne, ohne dass die (muskulären) Kräfte dabei geschwächt würden.4 Mit den besorgniserregenden Aspekten seiner Experimente – den psychodysleptischen Grenzerfahrungen, dem beginnenden Kontrollverlust und dem beobachteten Abhängigkeitspotenzial, die Mantegazza in seinem Tagebuch, so er dazu in der Lage war, akribisch dokumentierte und die ihm die Beendigung seiner Versuche ratsam erscheinen ließen,5 wollte er die Leser seiner Abhandlung anscheinend nicht belasten. Denn dieser wahre Schatz der Neuen Welt sei ebenso wertvoll wie das Opium oder die Chinarinde und empfehle sich als kräftiges Analeptikum für eine Vielzahl medizinischer Indikationen: „Gestützt auf diese Erfahrungen und auf den Umstand, dass die Coca bei den Eingeborenen seit uralter Zeit als Heilmittel gegen Dyspepsie, gegen Flatulenz, gegen Coliken namentlich bei Hysterischen in Anwendung kommt, wendet M[antegazza] und mehrere seiner Collegen, sowohl in Südamerika als in Europa (Italien) die Blätter der Coca theils als Kaumittel, theils in Pulverform, als Infusum, als Extractum alcoholico opiosum zu 10–13 Gran, in Pillenform und als Clysma vielfach an. M[antegazza] fand ihre Wirksamkeit bei Verdauung[s]schwäche, bei Gastralgien und Enteralgien ausgezeichnet; nicht minder benutzte er sie häufig in den Fällen von namhafter Schwäche (bei Reconvalescenten vom Typhus, Scorbut, anämischen Zuständen, etc.), in der Hysterie, Hypochondrie, selbst wenn letztere den höchsten Grad bis zum Lebensüberdrusse erreicht hatte. Auch in Geisteskrankheiten, in denen von einzelnen Psychiatern das Opium als heilbringend verkündet wird, dürfte die Coca Erspriessliches leisten. Von der calmirenden Wirksamkeit derselben bei einfacher Spinalirritation, bei idiopathischen Convulsionen, bei Erethismus in der sensiblen Sphäre hat sich der Verf[asser] überzeugt. Er schlägt ihren Gebrauch in höchster Dosis für Fälle von Hydrophobie und Tetanus vor. Bei den Laien steht die Coca auch im Rufe eines verlässlichen Aphrodisiacum“.6
Mit dieser opulenten Liste an Indikationen knüpft Mantegazzas Schrift gleichsam an die Tradition der mittelalterlichen Wundertraktate an.7 Ein Hinweis Mantegazzas im Zusammenhang mit der Verwendung von Coca in Form von Zahnmitteln und Mundwässern deutet bereits in Richtung jener Entdeckung, mit der der Wiener Augenarzt Karl Koller 1884 für Aufsehen sorgen sollte: „ne posso ancor dire se le sue diverse preparazioni potrebbero agire come narcotizzanti applicate sulla pelle o le prime vie delle mucose“.8 Die Idee einer narkotisierenden Wirkung von Zubereitungen der Coca auf Haut und Schleimhaut war also bereits in greifbare Nähe gerückt. Und Mantegazzas Aufruf, Kollegen mögen „diese so merkwürdige und gewiss leicht in den Handel zu setzende Pflanze“ weiteren physiologischen und therapeutischen Versuchen unterziehen, zeigt, dass die Coca zwar spät, aber dennoch die Sphäre der westlichen Medizin erreicht hatte. Denn noch um 1855 war die Coca in Europa kaum bekannt9 und ihre Einführung in den europäischen Arzneischatz stand noch aus.10 Nunmehr aber verdiene sie es, „somit in unseren Apotheken eingebürgert zu werden als das vorzüglichste specifische Stomachicum“, denn es gelte „Coca stomacho amica“.11 Wie wenig die Medizin in Nordamerika um 1860 mit der Coca vertraut war, belegt die Tatsache, dass man selbst in Fachkreisen dezidiert auf die Möglichkeit einer Verwechslung von Coca mit anderen Naturprodukten mit ähnlich klingenden Namen wie cocoa (Kakao) und coco (Kokosnuss) hinweisen musste.12 Und noch 1874 schrieb ein britischer Arzt, er habe bereits 1859 von den Untersuchungen Mantegazzas gelesen, aber bislang noch keinen Kollegen kennengelernt, der die Coca selbst eingesetzt hätte. Nunmehr sei er aber im Besitz einer ersten Lieferung dieses vielversprechenden Mittels.13
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.