„Vernichtung des freien Geistes“

Entsetzen über Ausreiseverbot für türkische Wissenschaftler

Stuttgart - 20.07.2016, 16:26 Uhr

Verschlossene Tore: Die Türkei verhängt ein Reiseverbot für türkische Wissenschaftler – und lässt Forscher im Ausland zurückrufen. (Foto: picture alliance)

Verschlossene Tore: Die Türkei verhängt ein Reiseverbot für türkische Wissenschaftler – und lässt Forscher im Ausland zurückrufen. (Foto: picture alliance)


Seit dem Putschversuch nahm die türkische Regierung zehntausende Beamte fest oder suspendierte sie. Am heutigen Mittwoch verbot der türkische Hochschulrat nun Wissenschaftlern Reisen ins Ausland. Bundesforschungsministerin Johanna Wanka ist in „größter Sorge“. Auch für den Austausch von Pharmazeuten dürfte die Entwicklung einschneidend sein.

Auf den gescheiterten Putschversuch von vergangenem Freitag reagierte die türkische Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit einer umfassenden Verhaftungs- und Entlassungswelle: Rund 50.000 Soldaten, Polizisten, Richter und Lehrer sollen nach Agenturangaben bisher festgenommen oder von ihrem Amt suspendiert worden. Ihnen werden unter anderem Verbindungen zum Prediger Fethullah Gülen unterstellt, den Erdogan für den versuchten Staatsstreich verantwortlich macht. 

Wissenschaftler werden zurückgerufen

Wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch bekannt gab, verhängte der türkische Hochschulrat nun ein umfassendes Verbot von Auslandstätigkeiten für alle Wissenschaftler des Landes. Außerdem verlange die Behörde in einem Rundschreiben an alle Universitäten, dass türkische Wissenschaftler, die bereits im Ausland tätig sind, zurückgerufen werden. Nach Informationen von „Spiegel Online“ soll es nur Ausnahmen für Wissenschaftler geben, deren Auslandsaufenthalt als „absolut notwendig“ angesehen wird. Die Nachrichtenagentur zitierte Regierungskreise, es handele sich um eine vorübergehende Reisesperre.

„Diese Maßnahmen geben uns Anlass zu größter Sorge“, erklärte Bundesforschungsministerin Johanna Wanka am Mittwoch. Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Offenheit für abweichende Meinungen seien wichtige Grundlagen für eine funktionierende Demokratie sei Bildung, die offen gegenüber abweichenden Meinungen ist.

Auswirkungen auf Pharmazeuten

Auch für Austauschprojekte von Pharmazeuten sowie deren internationale Zusammenarbeit könnten die aktuellen Schritte einschneidende Auswirkungen haben. So können Pharmaziestudierende bislang über das Erasmus-Programm der Europäischen Union finanzielle Unterstützung für einen Aufenthalt in der Türkei erhalten.

Die ABDA wies auf Nachfrage darauf hin, dass sie sich als Berufsorganisation auf allgemeinpolitische Äußerungen nicht äußern kann. „Ob bzw. welche Auswirkungen der aktuellen Ereignisse für türkische Apotheker(organisationen) und deren Zusammenarbeit mit deutschen Stellen zu erwarten sind, ist für uns derzeit nicht abzusehen“, erklärte ABDA-Sprecher Reiner Kern gegenüber DAZ.online.

Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien

Die Türkei nimmt am EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 teil, auch unterhält das Bundesforschungsministerium bisher verschiedene Kooperationsprogramme. Durch die tiefgreifenden Einschnitte in die Freizügigkeit türkischer Wissenschaftler wird die Zusammenarbeit nun stark erschwert. „Die Auswirkungen auf unsere bilateralen und europäischen Forschungskooperationen können wir derzeit noch nicht abschätzen“, erklärte das Bundesforschungsministerium auf Nachfrage.

Die Bundesregierung verurteilt das Vorgehen der türkischen Regierung scharf. „Die Entlassung von mehr als 15.000 Lehrern sowie die Rücktrittsaufforderungen an mehr als 1500 Dekane und Hochschulrektoren ohne konkrete Beweise für ein Fehlverhalten und offensichtlich auch ohne ein geregeltes Verfahren, in dem die Betroffenen gehört worden wären, widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien“, sagte Wanka. „Gleiches gilt für das verhängte Ausreiseverbot für Akademiker.“ Das Ministerium werde versuchen, die wissenschaftlichen Verbindungen und die Forschungsarbeiten mit türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unbedingt aufrecht zu erhalten, erklärte eine Sprecherin.

Fassungslosigkeit über skrupellose Einschnitte

Auch Horst Hippler, Präsident der deutschen Hochschulrektorenkonferenz, äußerte sich nach Bekanntwerden des Ausreiseverbots. „Die deutschen Hochschulen sehen die aktuellen Entwicklungen an den türkischen Hochschulen mit Entsetzen“, sagte er laut einer Stellungnahme. „Die tiefen, offenbar skrupellosen Einschnitte in die akademischen Freiheiten durch die türkische Regierung machen uns alle fassungslos. Wir protestieren gegen dieses Vorgehen auf das Schärfste“, sagte Hippler. Er hatte schon im Januar in einem offenen Brief an den türkischen Staatspräsidenten den Schutz der akademischen Freiheiten eingefordert.

Die Nachrichten deuten für ihn darauf hin, dass es um „systematische Einschüchterung und um die Vernichtung des freien Geistes geht“. „Wir fühlen uns mit den betroffenen Hochschulangehörigen tief verbunden und versichern sie unserer Solidarität.“


Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


2 Kommentare

"Demokratur"

von Dr.Diefenbach am 20.07.2016 um 21:57 Uhr

Es ist sicher,dass diesem türkischen Sultan eines Tages das Handwerk gelegt wird.Gab es das nicht schon in diversen Staaten:Denunziantentum,Listen...,Suspendierungen,Androhung zur Wiedereinführung der Todesstrafe.Welche Ängste müssen Intellektuelle derzeit haben.Und ich bin erstaunt und bewundere die deutlichen Worte von Cem Özdemir in dieser Sache.Ein wenig der klaren Ansage würde auch der Kanzlerin gut anstehen.Leider eiert sie auch hier wohl allein wegen der Flüchtlingsfrage und wegen eines Abkommens,dessen Effizienz sich doch gar nicht belegen lässt,durch die politische Landschaft.Eine Türkei wie diese hat in einer EU nichts,aber auch gar nichts zu suchen.Erdi sollte auf einer einsamen Insel kleine Brötchen backen....

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Jetzt wird es langsam Zeit

von Jochen Ebel am 21.07.2016 um 12:33 Uhr

Flüchtlingsabkommen hin oder her - jetzt wird es langsam Zeit für eine klare Ansage Richtung Türkei. Lieber ein paar tausend zusätzliche Flüchtlinge als so einen Partner wie Erdogan

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.