AIDS als Tabu

In Russland sind HIV-Infizierte oft auf sich allein gestellt

Moskau - 01.12.2016, 12:30 Uhr

Anonymer Schnelltest in Jekaterinburg: Nach Aussagen der dortigen Gesundheitsbehörde ist jeder 50. Einwohner HIV-positiv. (Foto: dpa)

Anonymer Schnelltest in Jekaterinburg: Nach Aussagen der dortigen Gesundheitsbehörde ist jeder 50. Einwohner HIV-positiv. (Foto: dpa)


Die Aids-Gefahr in Russland gilt seit Jahren als besonders hoch, die Zahl der HIV-Infektionen nimmt laut Experten immer bedrohlichere Ausmaße an. Kann Deutschland als Vorbild für den Kampf gegen die Ausbreitung dienen?

Im Kampf gegen Aids ist Fernsehmoderator Pawel Lobkow für viele HIV-Infizierte ein Held. Als erster Prominenter in Russland erzählte er vor laufender Kamera von seiner Infektion – und von der Weigerung einer Klinik, ihn zu behandeln. Es war ein Tabubruch.

„Aber er blieb folgenlos, sieht man von Beschimpfungen im Internet ab“, sagt Lobkow heute, ein Jahr nach seiner spektakulären Erklärung. Er hatte gehofft, dass der Staat endlich auf die rapide zunehmenden HIV-Infektionen in Russland reagiert. Aber vor dem Welt-Aids-Tag am 1. Dezember ziehen Experten in Moskau ein erschreckendes Fazit: Sie sprechen von einer fast epidemieartigen Ausbreitung des Virus.

Gefahr für nationale Sicherheit

„Die steigende Zahl von Infektionen in Russland wird aus Sicht mancher Mediziner zur Gefahr für die nationale Sicherheit“, sagt der bekannte Arzt Wadim Pokrowski. Der Leiter des föderalen Zentrums für den Kampf gegen Aids fordert seit Langem eine staatliche Strategie, um die Immunschwäche einzudämmen. In den kommenden vier bis fünf Jahren drohe sich die Zahl der mit dem Virus Infizierten auf zwei Millionen zu verdoppeln, fürchtet Pokrowski.

HIV-Infizierte in Russland klagen immer wieder über einen Mangel an Medikamenten. Nach offiziellen Angaben sind in dem Land mit mehr als 140 Millionen Einwohnern mehr als 820.000 HIV-Infizierte registriert. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, weil sich wegen der Ausgrenzung der Betroffenen nicht jeder testen lässt. HIV löst unbehandelt die Immunschwäche Aids aus. „Die Lage verschlechtert sich“, fürchtet Pokrowski.

In seltener Offenheit zeigte sich auch Vize-Gesundheitsminister Sergej Krajewoj zuletzt beunruhigt. Betroffen seien längst nicht nur einzelne Gruppen, sondern die allgemeine Bevölkerung, räumte er ein. „Das Bild hat sich geändert: Wenn Ende der 1990er-Jahre die Mehrheit der Infizierten aus der Drogenszene kam und sich über verunreinigte Spritzen ansteckte, stammen heute 50 Prozent der Neuinfektionen in Russland von sexuellen Kontakten“, sagte Krajewoj. Experten zufolge geht davon nur ein Prozent auf gleichgeschlechtlichen Verkehr zurück. 



dpa / DAZ.online
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