Interview mit der Charité Berlin (Teil 3)

Potenzial von Ketamin als antisuizidales Arzneimittel

Berlin / Stuttgart - 06.12.2017, 10:30 Uhr

Könnte Ketamin als akut antisuizidales Arzneimittel therapeutisch wertvoll werden? (highwaystarz / stock.adobe.com)

Könnte Ketamin als akut antisuizidales Arzneimittel therapeutisch wertvoll werden? (highwaystarz / stock.adobe.com)


Wie wirkt Ketamin bei Depressionen – laut Professor Bajbouj von der Berliner Charité ist das immer noch die „One-billion-dollar-Question“. Welche wissenschaftliche These ist am wahrscheinlichsten? Und: Eine bestimmte Patientengruppe mit Depressionen könnte künftig vielleicht besonders von Ketamin profitieren. DAZ.online hat mit dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, Malek Bajbouj, gesprochen. Er warnt vor ambulanten Ketamin-Praxen wie in den USA. Was sind seine Bedenken?

„Das ist die One-billion-dollar-Question – was macht Ketamin besonders?“ Das sei auch der Grund, warum viele große Pharmafirmen, selbst wenn sie Ketamin eigentlich nicht im Portfolio hätten, hier aktuell ganz intensiv nachschauten. Was vermittelt diese schnelle Wirksamkeit, die bei einem Teil der Patienten eintritt?

Interview mit der Charité Berlin zu Ketamin

Interview mit der Charité Berlin (Teil 1)

Ketamin zur Therapie schwerer Depressionen

Interview mit der Charité Berlin (Teil 2)

Heilt Ketamin eine Depression?

Welche Ketamin-Hypothese verfolgt der Arzt an der Charité?

Welche aktuelle These macht für Bajbouj am meisten Sinn, und welcher Wirkmechanismus ist seiner Ansicht nach der plausibelste? „Ganz 100-prozentig weiß man es nicht. Es gibt bestimmte intrazelluläre Pathways, die bei Ketamin anders ablaufen als bei klassischen Antidepressiva“, erklärt der Mediziner. In der aktuellen Forschung tauche immer wieder mTOR auf. Das Protein werde rasch aktiviert und führe auch in der Folge schnell zur Aktivierung und Ausschüttung von Nervenwachstumsfaktoren. Sein Fazit: „Bei den Hypothesen, die es gegenwärtig gibt, ist diese die überzeugendste“, gibt Bajbouj seine Einschätzung wieder.

Glutamat-Dysfunktion bei Depressionen

Glutamat ist der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter im Zentralnervensystem (ZNS). Glutamat wirkt sowohl kurzfristig erregend auf die postsynaptische Zelle, hat aber auch hinsichtlich Neuroplastizität langfristige Effekte auf das Zentralnervensystem und beeinflusst die Gen-Expression und Translation. Glutamat nutzt zur Signaltransduktion verschiedene Rezeptoren, diese lassen sich grob in ionotrope Rezeptoren – NMDA, AMPA, Kainat – und in metabotrope Rezeptoren unterteilen. Ketamin fungiert als nicht-kompetitiver NMDA-Rezeptor-Antagonist.

Das glutamaterge System ist in pathophysiologische Prozesse involviert. So haben Patienten mir Depressionen erhöhte Glutamat-Spiegel im Plasma, der Zerebrospinalflüssigkeit und dem ZNS. Auch gibt es erste Hinweise, dass Depressionen mit Varianten der Glutamat-assoziierten Gene korrelieren.

Gliazellen spielen eine bedeutende Rolle in der Signaltransduktion durch Glutamat, indem sie den synaptischen Spalt nach Erregung von Glutamat säubern. Glutamat wird über EAAT, excitatory amino acid Transporter, aufgenommen. Ein Verlust an Gliazellen im präfrontalen Cortex wurde bei Menschen mit Stimmungsschwankungen beschrieben. Aktuelle Arbeiten schätzen, dass chronischer Stress zu Depressionen führen kann, indem sie kortikale Astrozyten beeinträchtigen, da chronischer Stress in Tiermodellen zu neuronaler Atrophie im präfrontalen Cortex und im Hippocampus geführt hat und zu einer Abnahme der synaptischen Funktion.


Das Mysterium bleibt, was intrazellulär geschieht.

Prof. Dr. med. Malek Bajbouj, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité


Was hält Bajbouj von der Hydroxy-Norketamin-These? Diese publizierten Forscher 2016 in Nature. Sie geht davon aus, dass das wirksame Agens Hydroxy-Norketamin ist und dieses die antidepressive Wirkung des Ketamins vermittelt, und zwar nicht über NMDA-, sondern AMPA-Rezeptoren. „Eine sehr elegante Studie “, findet Bajbouj, „die den Fokus der Forschung verschiebt “. Das Prinzip kenne man auch von anderen Pharmaka, dass der Metabolit aktiv sei. Nur, wenn der Metabolit letztlich das Agens sei, bleibe dennoch die komplexe Frage: Was wirkt auf molekularer Ebene? „Das Mysterium bleibt, was intrazellulär geschieht“.

Schmälern will Bajbouj die Hydroxy-Norketamin-Erkenntnis keinesfalls. Solche Überlegungen werden relevant, wenn man nach neuen, selektiveren Substanzen forscht, die gut antidepressiv wirken, die Ketamin-typischen Nebenwirkungen jedoch nicht aufweisen.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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