Zuckersüßes Beratungswissen Teil 7

Stevia-Süße – Natur pur?

Münchingen - 10.03.2020, 10:15 Uhr

Stevia rebaudiana ist in Südamerika beheimatet. Die Süßkraft der Blätter ist ungefähr 30- bis 45-mal stärker als Zucker. (Foto: Denise Torres/stock.adobe.com)

Stevia rebaudiana ist in Südamerika beheimatet. Die Süßkraft der Blätter ist ungefähr 30- bis 45-mal stärker als Zucker. (Foto: Denise Torres/stock.adobe.com)


Kein anderer Süßstoff steht seit den 1990er Jahren so im Kreuzfeuer heftiger Diskussionen wie die aus der Stevia-Pflanze gewonnenen Steviolglycoside. Die Werbung preist sie als „Geheimtipp für kalorienfreie Süße aus der Natur“ an, Fachleute verweisen dagegen auf den chemischen Herstellungsprozess. Woher die Stevia-Süße kommt und wie entsprechend gesüßte Lebensmittel zu beurteilen sind, lesen Sie hier. 

Die Pflanze Stevia rebaudiana, auf deutsch Süßblatt oder Honigkraut, ist in Südamerika beheimatet. Die in Brasilien und Paraguay lebende Bevölkerung benutzt die getrockneten Stevia-Blätter seit Jahrhunderten zum Süßen von Speisen und Getränken. Die Süßkraft der Blätter ist ungefähr 30- bis 45-mal stärker als Zucker. Die als Süßstoff inzwischen zugelassenen, aus der Stevia-Pflanze isolierten Steviolglykoside süßen sogar 300-mal stärker als Saccharose. Der Geschmackseindruck wird als bitter-metallisch, lakritzartig beschrieben und ist abhängig von den Herstellungsbedingungen.

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Der lange Weg zur Zulassung

In den 1970er Jahren „entdeckten“ die Japaner die Stevia-Pflanze und brachten sie als Süßungsmittel auf den japanischen und ostasiatischen Markt, ohne große gesetzliche Regularien. In den 1980er und 1990er Jahren versuchten Händler ihr Verkaufsglück auch auf dem europäischen Markt. Hier stießen sie allerdings auf eine rechtliche Barriere: Jedes in Europa zuvor nicht handelsübliche Produkt, das neu eingeführt und für den menschlichen Verzehr vermarktet wird, muss zunächst seine Unbedenklichkeit unter Beweis stellen. Das gilt auch für Lebensmittelzusatzstoffe. Ohne Unbedenklichkeitsbescheinigung keine Zulassung, ohne Zulassung keine Handelserlaubnis.
So dümpelte damals, vor gut 20 Jahren, zwar ein kleines Angebot an Stevia-Blättern auf dem europäischen Markt herum, das nur eine Chance hatte, weil es interessanterweise als „Badezusatz“ vermarktet wurde. Aber für die Hersteller von Lebensmitteln und Getränken war Stevia tabu, weil es (noch) keine legale Zulassung für den europäischen Markt besaß.

Seit 2011 in Lebensmitteln erlaubt

Es dauerte ein paar Jahre, bis einige Getränke-herstellende Großkonzerne, die sich aus marktstrategischen Gründen zusammengeschlossen hatten, der Europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA) die geforderten Studien zur gesundheitlichen Unbedenklichkeit von aus Stevia-Blättern gewonnenen Steviolglykosiden vorlegen konnten. Die EFSA erstellte daraufhin im Jahr 2010 ein Gutachten, das schließlich zur offiziellen Zulassung der Steviolglykoside als neuem Süßstoff führte. Seit Dezember 2011 ist „Stevia“, wie man in abgekürzter Form sagt, rechtmäßig im gesamten Raum der Europäischen Union im Handel. Steviolglykoside sind in der Liste der Lebensmittelzusatzstoffe unter der Nummer E960 geführt. 

Gedeckelte Dosis

Steviolglykoside haben keine Kalorien, sie sind zahnfreundlich und haben keine Wirkung auf den Blutzuckerspiegel. Doch die für die Zulassung zuständige Europäische Kommission hat den Steviolglykosiden keinen bedingungslosen Freibrief erteilt. Die Verwendung des Süßungsmittels unterliegt einer Reihe erheblicher Einschränkungen. Zum einen ist die von der EFSA festgelegte, duldbare tägliche Aufnahmemenge (ADI-Wert = acceptable daily intake) zu beachten. Diese liegt für Steviolglykoside bei 4 mg pro Kilogramm Körpergewicht – was den Einsatz in industriellen Produkten ziemlich begrenzt. Darüber hinaus sind Steviolglykoside auch nur für bestimmte Lebensmittelkategorien zugelassen. Zum Beispiel für das kalorienreduzierte Süßen von Fruchtnektaren, Joghurts, Kakao- und Schokoladenprodukten, Marmelade, Knabbergebäck, Suppen, Saucen, Müsli, Bier, Fischprodukten. 

Zulässige Menge vom Produkt abhängig

Zusätzlich sind für die Verwendung von Steviolglykosiden in den verschiedenen Lebensmittelgruppen Höchstwerte festgelegt. Besonders niedrig angesetzt sind die Höchstwerte für flüssige Zubereitungen, wie zum Beispiel Erfrischungsgetränke, denn die sind schnell mal weggetrunken, was die Gefahr einer ADI-Wert-Überschreitung in sich birgt. In Konfitüren, Speiseeis, Schokoladenprodukten darf etwas mehr Stevia drin sein – am meisten in Kaugummis, denn hier beschränkt sich die aufgenommene Menge bereits durch die relativ kleine Verzehr-Portion. 

Steviolglykoside sind im Handel meist als Mischungen mit Zucker oder anderen Süßungsmitteln zu finden.

Wegen Eigengeschmack meist in Kombination

Die strikten gesetzlichen Vorgaben führen dazu, dass Steviolglykoside meist mit Zucker oder anderen Süßungsmitteln gemischt werden. Zum einen, um den geschmacklich erwünschten Süßungsgrad zu erreichen sowie um dem Produkt Form und Masse zu geben. Zum anderen auch deshalb, weil Stevia alleine einen intensiven, lakritzartigen Eigengeschmack hat, der nicht nur als angenehm empfunden wird. In den so genannten Streu- und Tafelsüßen kann der Anteil der Steviolglykoside sogar unter einem Prozent liegen, der größte Teil der Produkte enthält Zucker, Maltodextrin oder Erythrit. Dennoch bewerben die Hersteller ihr Produkt mit der Bezeichnung „Stevia“. Richtig ist, dass das Kombi-Produkt dazu beitragen kann, Kalorien zu sparen. Richtig ist aber auch, dass viele Verbraucher sich von einer derartigen Aufmachung getäuscht fühlen können.

Keineswegs „öko“

Ausgangsmaterial ist zwar die Stevia-Pflanze, doch die als Süßstoff verwendeten Steviolglykoside werden durch ein chemisches Verfahren gewonnen. Dabei kommen Aluminiumsalze als Fällungsmittel zum Einsatz, außerdem synthetische Ionenaustauscher und Absorberharze. Zum Auswaschen und Auskristallisieren werden Alkohole verwendet, unter anderem auch Methanol. Es versteht sich von selbst, dass Steviolglykoside aufgrund dieses Herstellungsverfahrens niemals als „biozertifiziert“ eingestuft werden können. Deswegen darf Stevia-Süße nicht in Bio-Lebensmittel eingearbeitet werden. Dieses Verbot gilt auch dann, wenn das pflanzliche Ausgangsmaterial aus Öko-Anbau stammen sollte.

Weil es sich bei Steviolglykosiden also um stark verarbeitete Zusatzstoffe handelt, dürfen Stevia-gesüßte Produkte nicht als „natürlich“ beworben werden. Mit Vorliebe bilden die Hersteller jedoch Stevia-Blätter ab, um dem Verbraucher „Natürlichkeit“ zu suggerieren. Dies ist insbesondere den Verbraucherzentralen ein Dorn im Auge. Die Verbraucherzentrale Hessen betont auf ihrer Internetseite zusätzlich: „Steviablätter stammen nicht aus der Region oder Europa. Der Transport der Rohstoffe belastet daher unnötig die Umwelt und das Klima.“

Für wen geeignet?

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) sieht den Einsatz von Süßstoffen (und damit auch den von Steviolglykosiden) durchaus als Möglichkeit, Kalorien zu sparen und das Gewicht zu kontrollieren. Sowohl die DGE als auch andere Ernährungsexperten weisen jedoch darauf hin, dass am besten eine zuckerarme, nicht übersüßte Kost anzustreben ist, vor allem für Kinder. Auch wenn Stevia-Produkte für Diabetiker geeignet sind, kann es für diese Personengruppe gesünder sein, nicht regelmäßig Süßstoffe zu verwenden. 
Die Verbraucherzentralen weisen zusätzlich auf die Kosten von Stevia-Produkten hin. Stevia-Streusüßen mit Maltodextrin können vier- bis fünfmal so teuer sein, solche mit Erythrit sogar 40-mal so teuer wie die für die Süßkraft vergleichbare Menge an normalem Haushaltszucker. 

Verschwörungen gegen die Stevia-Pflanze?

Es gibt Gerüchte, Zucker- und andere Süßstoffhersteller sowie die EU-Kommission hätten gegen die Markteinführung von Stevia intrigiert, um einen unliebsamen Konkurrenten fernzuhalten. Dafür gibt es keine Belege. Dass die Europäische Union den Verbraucherschutz ernst nimmt und für neue Produkte Studien zur Unbedenklichkeit fordert, kann man nicht kritisieren. Gesundheitsschutz geht vor Marktinteressen. Der Drang zur Vermarktung von Stevia war jedoch unübersehbar: Bereits vor der Zulassung durch die EU im Jahr 2011 haben Händler immer wieder versucht, Stevia-Produkte unter Umgehung des Lebensmittelrechts über das Internet in Europa illegal zu überhöhten Preisen zu verkaufen. Wie seriös das ist, mag jeder selbst beurteilen.

Stevia-Blätter als Tee erlaubt

Übrigens, für die Vermarktung von frischen oder getrockneten Stevia-Blättern innerhalb der EU ist die Rechtslage noch immer diffus. Die Verwendung von Stevia-Blättern in Tee ist nach Ansicht der  Verbraucherzentralen erlaubt, der Zusatz von Stevia-Blättern zu anderen Lebensmitteln ist laut Novel-Food-Verordnung dagegen nicht legal. Man darf auf weitere Entwicklungen in diesem Bereich gespannt sein.

Auf einen Blick:

  • Aus der Stevia-Pflanze isolierte Steviolglykoside sind als Süßungsmittel „Stevia“ seit Dezember 2011 rechtmäßig im gesamten Raum der Europäischen Union im Handel.
  • Der Einsatz von Stevia ist mengenmäßig begrenzt und nur für bestimmte Lebensmittelkategorien zugelassen.
  • Weil die Steviolglykoside durch ein chemisches Verfahren gewonnen werden, dürfen sie nicht in Bio-Lebensmitteln eingesetzt werden.
  • Steviolglykoside haben keine Kalorien, sind zahnfreundlich und haben keine Wirkung auf den Blutzuckerspiegel. Sie können laut DGE dabei helfen, das Gewicht zu kontrollieren. Gesünder (und preiswerter) ist es allerdings, die Ernährung auf eine zuckerarme, nicht übersüßte Kost umzustellen.

Reinhild Berger, Apothekerin
redaktion@daz.online


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