Aktuelle Datenlage

Blutdrucksenker und COVID-19 – Keine Evidenz für Komplikationen

Vor einigen Wochen kam der Verdacht auf, die Einnahme von ACE-Hemmern oder Sartanen verkompliziere eine COVID-19-Erkrankung. Präklinische Modellversuche stützten diese Hypothese zunächst, allerdings: Klinische Studien am Menschen kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Ist Hypertonie per se ein Risikofaktor für COVID-19? Auch ohne ACE-Hemmer- / Sartanbehandlung? Oder ist Hypertonie vielleicht nur ein Marker für Multimorbidität? Sichtet man die Datenlage kritisch, gibt es keine Evidenz, dass diese Wirkstoffe die Prognose von COVID-19-Patienten verschlechtern. Sie sollten keinesfalls abgesetzt werden.

Blutdrucksenker und COVID-19 – Keine Evidenz für Komplikationen

Bereits zu Beginn der COVID-19-Pandemie wurde aus China gemeldet, dass vor allem Patienten mit Vorerkrankungen wie Bluthochdruck einen schwereren Krankheitsverlauf hatten. Als der Zusammenhang zwischen ACE2 und dem SARS-CoV-2 bekannt wurde, kam schnell die Frage auf, inwieweit Wirkstoffe wie ACE-Hemmer oder AT1-Rezeptor- Antagonisten (Sartane), die in das Renin-Angiotensin-System eingreifen, über eine Hochregulation des für den Viruseintritt in die Zelle wichtigen ACE2-Rezeptors einen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung nehmen könnten.

Dieser Fragestellung haben sich verschiedene Forschergruppen gewidmet und die vorhandenen Daten analysiert. Die Ergebnisse wurden in Form eines Special Report im „New England Journal of Medicine“ – Renin-Angiotensin-Aldosterone System Inhibitors in Patients with Covid-19 – und eines Reviews in der Zeitschrift „Cardiovascular Research“ – Hypertension, the renin–angiotensin system, and the risk of lower respiratory tract infections and lung injury: implications for COVID-19 – veröffentlicht. Auch im JAMA erschien eine Untersuchung aus Wuhan: Association of Renin-Angiotensin System Inhibitors With Severity or Risk of Death in Patients With Hypertension Hospitalized for Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) Infection in Wuhan, China. Das Fazit aller ist einheitlich: Die derzeit verfügbaren Daten rechtfertigen nicht das Absetzen von ACE-Hemmern und Sartanen.

Widersprüchliche Ergebnisse

Im Gegensatz zu Tierversuchen sind klinische Studien zum Einfluss von ACE-Hemmern und Sartanen auf COVID-19 nach Recherchen der NEJM-Wissenschaftler rar. 

In einer Studie waren KHK-Patienten intravenös ACE-­Inhibitoren verabreicht und anschließend der Spiegel von Angiotensin1-7 gemessen worden. Angiotensin1-7 entsteht aus Angiotensin II mithilfe von ACE2. Angiotensin1-7 soll potenziell schädliche Angiotensin II-Effekte verhindern, wie die Förderung entzündlicher Prozesse oder eine Ödembildung zum Beispiel in der Lunge. Sollte unter ACE-Hemmern ACE2 hochreguliert werden, könnte sich das auch in höheren Angiotensin1-7-Spiegeln äußern. Da hier keinerlei Veränderung messbar war, stellt sich die Frage, ob ACE-Hemmer die Expression von ACE2 tatsächlich beeinflussen. 

Bei einer weiteren Studie mit Hypertonikern blieb zu Beginn einer Captopril-Behandlung der Angiotensin1-7-Spiegel ebenso unbeeinflusst, erst nach einer Langzeitgabe von sechs Monaten erhöhte sich der Spiegel. 

Eine in Japan durchgeführte Longitudinalstudie hat gezeigt, dass Patienten, die zuvor über lange Zeit mit Olmesartan behandelt worden waren, höhere ACE2-Spiegel im Urin aufwiesen als die unbehandelte Kontrollgruppe. Allerdings konnte man diesen Effekt nicht bei Langzeitgabe von Enalapril oder Sartanen (Losartan, Candesartan, Valsartan, Telmi­sartan) feststellen.

Tier ist nicht Mensch

Die Ergebnisse sind folglich widersprüchlich, was die Wissenschaftler des NEJM-Beitrags auf die Komplexizität des Renin-­Angiotensin-Systems zurückführen: Selbst wenn RAS-Inhibitoren in tierischen Gewebeproben die ACE2-Spiegel verändern, können diese Erkenntnisse nicht auf die menschliche Physio­logie übertragen werden. Weitere ­Studien seien notwendig, um besser verstehen zu können, ob es einen ­Zusammenhang zwischen schweren COVID-19-Verläufen und der Therapie mit RAAS-Inhibitoren gibt – so ihr Resümee.

Hypertonie als Risikofaktor für COVID-19?

Eine Forschergruppe um Prof. Dr. Reinhold Kreutz vom Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Charité-Universitätsmedizin Berlin hat nicht nur die Hypothese, dass ACE-Hemmer und Sartane eine COVID-19-Erkrankung negativ beeinflussen, geprüft. Sie ist auch der Frage nachgegangen, ob eine Hypertonie ein unabhängiger Risikofaktor für fatale COVID-19-Verläufe ist. 

75 Prozent aller in Italien an COVID-19 verstorbenen Patienten sollen Hypertoniker gewesen sein. Viele von ihnen wurden mit ACE-Hemmern und Sartanen behandelt. Das Ergebnis der Berliner Forscher: Es gibt keine Evidenz dafür, dass eine Hypertonie ein unabhängiger Risikofaktor für schwere COVID-19-Erkrankungen ist. Bluthochdruck sei mit einer Dysregulation des Immunsystems verbunden, die dann ihrerseits zu schwereren COVID-19-Ver­läufen führe, so die Erklärung. Die vollständige Erklärung auf immunologischer Ebene lesen Sie im Print-Beitrag der 17. Ausgabe 2020 der Deutschen Apotheker Zeitung auf Seite 40.

Hypertonie: einfach ein Marker für Multimorbidität?

Die JAMA-Wissenschaftler analysierten einen Datensatz von 1178 COVID-19-Patienten aus Wuhan, 362 Patienten (30,7 Prozent) litten unter Hypertonie. Auffällig war auf den ersten Blick, dass die hypertonischen COVID-19-Patienten häufiger starben (21,3 Prozent der Hypertoniker starben an COVID-19, nur 6,5 Prozent der Nichthypertoniker).

Allerdings: Die hypertonischen Coronapatienten hatten auch mehr andere Risikofaktoren als die COVID-19-Patienten ohne Bluthochdruck; sie waren älter (66,0 versus 46,0 Jahre), hatten weitere kardiometabolische Erkrankungen, wie Diabetes (35,1 versus 9,3 Prozent), koronare Herzkrankheit (17,0 versus 5,0 Prozent) oder Herzinsuffizienz (2,8 versus 1,3 Prozent) oder zerebrovaskuläre Erkrankungen (18,8 versus 3,3 Prozent): „Dies könnte bedeuten, dass die arterielle Hypertonie nur ein Marker für die Multimorbidität ist, die die Überlebens­chancen bei COVID-19 deutlich verschlechtert“, schreibt das Ärzteblatt, das sich die JAMA-Studie genauer angeschaut hat.

ACE-Hemmer und Sartane in China seltener als in Europa

Interessant ist hierbei, dass aber ACE-Hemmer beziehungsweise Sartane, im Gegensatz zu westlicheren Ländern, in China nicht prioritär zur Behandlung der Hypertonie eingesetzt werden. Laut dem Ärzteblatt sind die von den Chinesen favorisierten Antihypertonika Calciumantagonisten, (46,4 Prozent). Einen ACE-Hemmer erhielten nur 9,7 Prozent und ein Sartan 22,9 Prozent der Patienten.

Unter den Patienten mit schwerem COVID-19-Verlauf hatten der chinesischen Untersuchung zufolge 9,2 Prozent einen ACE-Hemmer und 24,9 Prozent ein Sartan erhalten. Wenig anders sieht es bei den Patienten mit einem weniger schweren Verlauf aus: 10,1 Prozent erhielten einen ACE-Hemmer, 21,2 Prozent ein Sartan. Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass die Verordnung von ACE-Hemmern oder Sartanen keinen erkennbaren Einfluss auf den Verlauf der Erkrankung hatte. Auch wenn die Aussagekraft von retrospektiven Studien begrenzt ist.

Antihypertonika nicht absetzen

Auch das Ärzteblatt betont: Die medizinischen Fachgesellschaften hätten in den letzten Wochen keinen Grund gesehen, auf den Einsatz von ACE-Hemmern oder Sartanen bei COVID-19-Patienten zu verzichten. Vor einem Wechsel der Hochdruckmedikamente bei den schwer kranken Menschen werde ausdrücklich gewarnt. 

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