Umstrittenes Alzheimermedikament

FDA will die Zulassung von Aducanumab untersuchen lassen

Remagen - 20.07.2021, 12:53 Uhr

FDA-Commissioner Dr. Janet Woodcock will genauer wissen, ob es im Bewertungsprozess Vorgänge gegeben haben könnte, die mit der „Policy“ der FDA nicht im Einklang stehen. (Foto: Orawan / AdobeStock)

FDA-Commissioner Dr. Janet Woodcock will genauer wissen, ob es im Bewertungsprozess Vorgänge gegeben haben könnte, die mit der „Policy“ der FDA nicht im Einklang stehen. (Foto: Orawan / AdobeStock)


Die Zulassung des monoklonalen Antikörper Aducanumab von Biogen und Eisai durch die US-FDA vor einigen Wochen hat für großes Aufsehen und Verwunderung gesorgt. Und es rumort weiter. Wie vor einigen Tagen bekannt wurde, will die Leiterin der Arzneimittelbehörde erreichen, dass die Vorgänge rund um das Bewertungsverfahren noch einmal untersucht wird. Gemunkelt wird von „Interaktionen“ zwischen FDA-Mitarbeitern und Biogen.

FDA-Commissioner Dr. Janet Woodcock läßt die Zulassung von Aducanumab offenbar keine Ruhe. Am 7. Juni hatte die Behörde diese abgenickt, zum Erstaunen so mancher Fachleute. Nun will Woodcock genauer wissen, ob es im Bewertungsprozess Vorgänge gegeben haben könnte, die mit der „Policy“ der FDA nicht im Einklang stehen. Sie habe deshalb bei der Oberaufsicht im US-Gesundheitsministerium, dem Office of the Inspector General (OIG) eine unabhängige Überprüfung etwaiger Kontakte zwischen Vertretern ihrer Behörde und des Herstellers Biogen beantragt, ließ Woodcock vor einigen Tagen auf Twitter wissen. Sie denkt dabei auch an den Ruf ihrer Behörde und will verhindern, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Entscheidungen der FDA durch die aktuellen Gerüchte unterminiert wird. Woodcock bittet um möglichst rasche Erledigung. Für den Fall, dass es eine Untersuchung geben sollte, sagt sie die uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft der FDA zu. 

Das Hin und Her vor der Zulassung

Der Zulassung von Aducanumab in den USA ging eine wendungsreiche Geschichte voraus. Wir blicken noch einmal kurz zurück:  

  • Der monoklonale Antikörper soll die kognitiven und funktionellen Beeinträchtigungen durch die Alzheimer-Erkrankung verlangsamen, und zwar durch Angriff an den Amyloid-Plaques, die sich im Gehirn ablagern und Nervenzellen zerstören. Aducanumab bindet an die Plaques und markiert sie, damit sie vom Immunsystem angegriffen und abgebaut werden können.
  • Den Beweis dafür, dass Aducanumab dies tatsächlich bewerkstelligen kann, sollten die beiden parallel verlaufenden Phase-III-Studien EMERGE (NCT02484547) und ENGAGE (NCT02477800) erbringen. Die Studien mit jeweils rund 1.600 mäßig erkrankten Patienten starteten am 13. August bzw. 15. September 2015. Erprobt wurden zwei Dosen. Der primäre Endpunkt war die Verbesserung im Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes (CDR-SB) Score 18 Monate nach Therapie.
  • Am 21. März 2019 verkündeten Biogen und Eisai, dass beide Studien vorzeitig abgebrochen würden, weil eine Futility-Analyse auf Basis von rund 1.700 Patientendaten ergeben hatte, dass die primären Endpunkte der Studien wahrscheinlich nicht erreicht würden.
  • Im Oktober 2019 zogen die beiden Unternehmen dann einen neuen Trumpf aus dem Ärmel. Nach der Auswertung eines erweiterten Datensatzes sollte der primäre Endpunkt nun doch erreicht worden sein, aber nur unter der höheren der beiden erprobten Dosen und nur in der EMERGE-Studie mit Signifikanz. Außerdem war in der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) ein deutlicher Rückgang der Amyloidablagerungen erkennbar.
  • Am 6. November 2020 befasste sich das Peripheral and Central Nervous System Drugs Advisory Committee der FDA mit Aducanumab. Angesichts der widersprüchlichen Ergebnisse sprachen sich zehn von elf Mitgliedern des Ausschusses dagegen aus, das Resultat von EMERGE als primären Wirksamkeitsnachweis für Aducanumab bei Alzheimer anzuerkennen.
  • Trotzdem erteilte die FDA am 7. Juni 2021 die Zulassung mit dem Handelsnamen „Aduhelm“ zur Behandlung der Alzheimer-Erkrankung, und zwar generell, obwohl Aducanumab in den zulassungsrelevanten Phase-III-Studien nur an Patienten im frühen Stadium untersucht worden war.
  • Aduhelm wurde in einem beschleunigten Verfahren (Accelerated Approval Pathway) zugelassen. Dieses ist für Medikamente gegen schwere oder lebensbedrohliche Krankheiten vorgesehen, die einen bedeutenden therapeutischen Nutzen gegenüber bestehenden Behandlungen bieten können. Bei solchen Zulassungen reicht es zunächst aus, wenn das Arzneimittel einen Surrogatendpunkt erreicht, der mit einiger Wahrscheinlichkeit einen klinischen Nutzen für die Patienten vorhersagt, auch wenn eine gewisse Unsicherheit verbleibt. Diese Anforderung sei für Aducanumab erfüllt, meinte die FDA. Bei der Sitzung des Beratungsausschusses hatte der beschleunigte Zulassungsweg keine Rolle gespielt, weil die Experten sich schwerpunktmäßig mit den Beweisen für den klinischen Nutzen befasst hatten.
  • Die US-Arzneimittelbehörde steht mit breiter Brust hinter ihrer Entscheidung: „Die Öffentlichkeit kann darauf vertrauen, dass die Agentur bei der Bewertung dieser Therapie einen strengen, wissenschaftlich fundierten Ansatz verfolgt hat, unter Berücksichtigung aller Beweise im Antrag und auch des enormen ungedeckten medizinischen Bedarfs für die vielen Patienten, die mit dieser Krankheit leben“, teilte der Direktor des Office of Neuroscience am Center for Drug Evaluation and Research (CDER) dem Vorsitzenden des Expertenkomitees Nathan Fountain anlässlich der Zulassung mit.

Bewertung in der EU läuft

Aducanumab soll auch in Europa auf den Markt kommen. Im Oktober letzten Jahres hat die Europäische Arzneimittelagentur den Zulassungsantrag von Bioegen und Eisai im „Standardverfahren“ entgegengenommen.  
Mit der Entscheidung dürfte noch in diesem Jahr zu rechnen sein. Wie die Nutzen-Risiko-Bewertung in Europa ausfallen wird, ist derzeit nicht absehbar. „Natürlich ist ein neues Medikament gegen Alzheimer zu begrüßen“, meint Privatdozentin Dr. Katharina Bürger, Leiterin der Gedächtnisambulanz des Instituts für Schlaganfall- und Demenzforschung am LMU Klinikum München, die im Rahmen der EMERGE-Studie 21 Patienten betreut hat. „Dennoch verwundert, dass die Zulassung in den USA keinerlei Gegenanzeigen vorsieht, obwohl es in der Studie zahlreiche wichtige Ausschlusskriterien gab. So durften beispielsweise Patienten mit einer Blutverdünnung nicht mit Aducanumab behandelt werden, um das Risiko von Hirnblutungen zu verringern. Ich hoffe für die Sicherheit unserer Patientinnen und Patienten, dass eine europäische Zulassung diese Aspekte berücksichtigt.“


Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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