Rx-Arzneimittel ohne Rezept: Ist das im Notfall erlaubt?
Arzneimittel, die der Verschreibungspflicht unterliegen, dürfen nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung an Verbraucher:innen abgegeben werden. So ist es in § 48 Abs.1 Nr. 1 AMG festgeschrieben. Apotheker:innen in Deutschland sind daher immer wieder damit konfrontiert, erklären zu müssen, dass sie weder die Pille, noch den Blutdrucksenker oder irgendetwas anderes „überraschend“ Ausgegangenes ohne Rezept abgeben dürfen. Mitunter ist das gar nicht so leicht, weil es anscheinend immer noch Kolleg:innen gibt, die sich über die Gesetze hinwegsetzen. Den Klassiker „also in meiner Apotheke bzw. der xy-Apotheke bekomme ich das immer ohne Rezept“ kennt wohl jeder, der jemals in der Apotheke gearbeitet hat.
Im Gegensatz zu beispielsweise Österreich existieren in Deutschland im Gesetz auch keine Ausnahmen. Bei unseren Nachbarn im Süden ist es Apotheker:innen nämlich erlaubt, im Notfall Verschreibungspflichtiges ohne Rezept abzugeben. Zu beurteilen, ob ein Notfall vorliegt oder nicht, liegt im Ermessen des Apothekers oder der Apothekerin. Und so kommt der Urlaubsgast im Regelfall ohne Arztbesuch an seine Tabletten, die er zu Hause vergessen hat. Eine pragmatische Herangehensweise, die die pharmazeutische Kompetenz stärkt – keine Frage.
Was aber, wenn ganz objektiv ein Notfall vorliegt? Zum Beispiel wenn ein Asthmatiker mit einem akuten Anfall, aber ohne funktionsfähigen Inhalator vor einem steht oder eine Patientin mit einer schweren allergischen Reaktion? Die Autoren des im Deutschen Apotheker Verlag erschienenen Buches „Notdienstretter“, Timo Kieser, Stefanie Brune und Professor Sebastian Baum, gehen auf diesen Fall ein.
Mehr zum Thema Notdienst
Dieses und viele andere im Kern apothekenrechtliche Themen werden von Dr. Timo Kieser, Oppenländer Rechtsanwälte Stuttgart, ausführlich im kürzlich erschienenen Handbuch Notdienst-Retter behandelt.
Außerdem finden sich unter anderem Beiträge zu arbeitsrechtlichen Fragen, zur Kommunikation und zur Beratung im Buch.
Ausgewählte Aspekte daraus werden wir künftig zudem auf DAZ.online unter „Notdienstretter“ behandeln.
„Es gibt eine Situation, in der eine Rx-Abgabe ohne Rezept in Betracht gezogen werden kann“
Bei lebensbedrohlichen und akuten Verschlechterungen des Gesundheitszustands wie z. B. Krampf- und Asthmaanfällen, Herzinfarkten, schnell zunehmenden Schmerzen oder Brüchen bestehe grundsätzlich eine Pflicht zur Hilfeleistung, heißt es dort. Allerdings müsse sie im Rahmen des Erforderlichen und Zumutbaren liegen. Grundsätzlich sei es ratsam, sich dabei zunächst an die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu halten, empfehlen die Autoren. Eine Abgabe von rezeptpflichtigen Arzneimitteln gehört ihrer Meinung nach in der Regel nicht zur verpflichtenden Hilfeleistung. Auf keinen Fall sollte der Apotheker oder die Apothekerin ein rezeptpflichtiges Arzneimittel aufgrund einer von ihm getroffenen, eigenen Diagnose herausgeben. Bei Eigendiagnosen sei die Gefahr falscher Behandlungen hoch, und der Apotheker kann im Falle einer Fehlbehandlung haftbar gemacht werden. Die Empfehlung der Experten: In jedem Fall sofort den Rettungsdienst rufen und im Zweifel immer auf dessen Eintreffen warten, bevor ein rezeptpflichtiges Arzneimittel ohne Rezept abgegeben oder angewendet wird. Zwischenzeitlich aber Maßnahmen im Rahmen der Ersten Hilfe ergreifen.
In den Augen der Notdienstretter-Autoren gibt es aber eine einzige Situation, in der im Notfall die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels ohne Rezept und somit ein Verstoß gegen § 48 AMG in Betracht gezogen werden kann: Wenn ein Kunde in einer Notfallsituation ein konkretes Mittel verlangt, von dem er weiß, dass es ihm hilft. In diesem Fall könne der Apotheker im Rahmen der erforderlichen und zumutbaren Hilfeleistung ein solches Arzneimittel abgeben, so die Auffassung der Autoren. Als Beispiele werden z. B. ein Asthmaspray bei einem akuten Asthmaanfall oder ein Adrenalin-Pen im Falle anaphylaktischer Reaktion genannt. Die Kosten müssen übrigens theoretisch von der Patientin/dem Patienten getragen werden. Daher ist es ratsam, sich die Kontaktdaten zu notieren.
Checkliste Abgabe ohne Rezept
- Wie weit ist der nächste ärztliche Notdienst entfernt?
- Was für ein Arzneimittel fehlt dem Kunden?
- Sind ernsthafte kurzfristige Komplikationen zu befürchten, wenn der Patient das Arzneimittel nicht direkt erhält, sondern erst den ärztlichen Notdienst aufsuchen muss?
- Kann ggf. der Arzt des Patienten erreicht werden?
- Kann ggf. über eine Fernbehandlung mit ärztlicher Anweisung dem Patienten geholfen werden?
→ Abgabe ohne Rezept nur, wenn kurzfristig eine massive Gesundheitsbeeinträchtigung des Patienten droht.
Quelle: Notdienstretter