Casein ähnelt Myelin

Sollten manche MS-Patienten besser auf Milch verzichten?

Stuttgart - 11.03.2022, 09:15 Uhr

Bereits seit 1986 existiert die Hypothese, dass ein hoher Milchkonsum in der Kindheit, gefolgt von einem abrupten Rückgang im Jugendalter, das Auftreten von MS bei jungen Erwachsenen begünstigen könnte. (Foto: Rawpixel.com / AdobeStock)

Bereits seit 1986 existiert die Hypothese, dass ein hoher Milchkonsum in der Kindheit, gefolgt von einem abrupten Rückgang im Jugendalter, das Auftreten von MS bei jungen Erwachsenen begünstigen könnte. (Foto: Rawpixel.com / AdobeStock)


Casein ähnelt einer Struktur des Myelins (Myelin-assoziiertes Glykoprotein, MAG), und Antikörper gegen Casein aus Kuhmilch passen auch auf MAG und lösen eine Immunreaktion aus. Sollten Menschen mit MS folglich Milch, Joghurt und Quark aus ihrer Ernährung streichen?

Aufbau eines geschädigten Neurons (Grafik: blueringmedia / AdobeStock)

Multiple Sklerose (MS), eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS), äußert sich klinisch äußerst heterogen, weswegen man MS auch die Erkrankung der 1.000 Gesichter nennt. Klar ist, dass Nervenfasern im ZNS demyelinisieren – ihre, sie um umhüllende Isolierschicht (Myelinscheide) verlieren – und dadurch ihre Funktionsfähigkeit einbüßen, was mit zunehmender Behinderung der Erkrankten einhergeht. Zur Erinnerung: Myelin ist eine fettähnliche Substanz, die die Reizweiterleitung über die Nervenfasern massiv beschleunigt und Kurzschlüsse verhindert.

Mikrobiom, Sonne und Ernährung

Die Krankheitsentstehung ist komplex und bislang nicht vollständig verstanden, doch spielt nach heutigem Stand der Erkenntnisse das Zusammenspiel von sowohl genetischen wie auch Umweltfaktoren – unzureichende Sonneneinstrahlung, Rauchen, Ernährung und Virusinfektionen (Epstein-Barr-Virus) – eine Rolle. Sie stören die immunologische Selbsttoleranz gegenüber Bestandteilen des Myelins und bedingen, ob eine MS überhaupt ausgelöst wird und wie sie verläuft. Auch scheint das Darmmikrobiom eine MS-Erkrankung zu beeinflussen: Bestimmte Bakterienfamilien finden sich mengenmäßig weniger im Darm bei Menschen mit MS und die von ihnen produzierten kurzkettigen Fettsäuren, wie Propionsäure, sind bei MS-Erkrankten ebenfalls vermindert. Hingegen vermag eine Substitution von solch kurzkettigen Fettsäuren als Nahrungsergänzung, die Schubrate bei Multipler Sklerose zu verringern.

Welche Rolle spielt Milch? 

Bei den Ernährungsfaktoren kommt die Sprache auch immer wieder auf Milch: Bereits 1986 veröffentlichten Wissenschaftler eine Arbeit („Milk consumption and multiple sclerosis — An etiological hypothesis“), in der sie die Hypothese aufstellten, dass ein hoher Milchkonsum in der Kindheit, gefolgt von einem abrupten Rückgang im Jugendalter, das Auftreten von MS bei jungen Erwachsenen begünstigen könnte. Weiter ging es 1992 mit einer Studie („Correlation between milk and dairy product consumption and multiple sclerosis prevalence: a worldwide study“, veröffentlicht in „Neuroepidemiology“), die den Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Milchprodukten in 27 Ländern weltweit und dem Auftreten von MS untersuchte: Die Wissenschaftler fanden einen Zusammenhang zwischen flüssiger Kuhmilch und der Inzidenz von MS, etwas geringer ausgeprägt für Butter und Sahne, jedoch keinen für Käse: „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass flüssige Kuhmilch einen oder mehrere Faktoren enthalten könnte, die in der verarbeiteten Milch nicht mehr vorhanden sind und das klinische Erscheinungsbild der MS beeinflussen“, schlussfolgerten die Studienautoren damals. 

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Hinweise gibt es zudem, dass bestimmte Strukturen des Myelins (Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein, MOG) und ein Protein aus der Milch (Butyrophilin, BTN) sich ähneln („Butyrophilin, a Milk Protein, Modulates the Encephalitogenic T Cell Response to Myelin Oligodendrocyte Glycoprotein in Experimental Autoimmune Encephalomyelitis“, veröffentlicht 2000 im Fachjournal „The Journal of Immunology“) – und Antikörper gegen das Milchprotein auch auf Myelin passen (Kreuzreaktion im Mausmodell, veröffentlicht 2004 im „Journal of Immunology“ „Antibody Cross-Reactivity between Myelin Oligodendrocyte Glycoprotein and the Milk Protein Butyrophilin in Multiple Sclerosis“). Kann es also sein, dass bestimmte Inhaltsstoffe der Milch eine Immunreaktion gegen Myelin auslösen – zumindest bei manchen Menschen?



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online
redaktion@daz.online


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