- DAZ.online
- News
- Pharmazie
- Ärzten ist das Ausmaß ...
Heimversorgung KOMPAKT
Ärzten ist das Ausmaß der anticholinergen Last meist nicht bewusst
Der Pharmazeutische eKongress der INTERPHARM online 2022 fand zwar schon am Freitag zuvor statt, pharmazeutisch wurde es aber auch nochmal bei der Heimversorgung KOMPAKT: Apothekerin Dr. Stefanie Brune machte deutlich, wie und mit welchen Hilfsmitteln die anticholinerge Last der Arzneimittel von Pflegeheimbewohner:innen ermittelt werden kann – und warum das so wichtig ist. Denn zwar handelt es sich um ein altbekanntes Problem, aber kein unlösbares.
Apothekerin Dr. Stefanie Brune leitet seit 2014 die medizinisch-wissenschaftliche Abteilung der SCHOLZ Datenbank und stellte bei der INTERPHARM online bei der Heimversorgung KOMPAKT das Risiko der anticholinergen Last bei Pflegeheimbewohner:innen in den Mittelpunkt. Denn diese kann je nach Ausmaß zu Mundtrockenheit bis hin zum Delir führen. Schon auf einer ihrer ersten Folien machte Brune deutlich: „Ärzten ist das Ausmaß der anticholinergen Belastung ihrer Patienten meist nicht bewusst“, und das ist nicht ihre persönliche Meinung, sondern ein Zitat aus der S3-Leitlinie Multimedikation (Version 2.00, 05/2021).
Dabei sind anticholinerge Nebenwirkungen freilich keine neue Entdeckung, wie Brune anhand einer Studie aus dem Jahr 1983 verdeutlichte. Und noch heute sollen beispielsweise fast 90 Prozent der Pflegeheimbewohner:innen mit hyperaktiver Blase anticholinerge Substanzen bekommen, wovon fast 30 Prozent eine hohe anticholinerge Last haben. Doch wann ist die Last so hoch, dass sie klinisch relevant wird?
Anticholinerge Hypersensitivität im Alter
Brune machte deutlich, dass alte Patient:innen ein besonders hohes Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen haben – und zwar nicht nur aufgrund einer häufigen Polypharmazie und Multimorbidität, sondern weil eine „anticholinerge Hypersensitivität“ vorliegen kann. Diese ergebe sich aus Veränderungen in der Pharmakodynamik (z. B. altersbedingte cholinerge Degeneration) und Pharmakokinetik (z. B. erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke) alter Menschen.
Speziell warnte sie vor einem Teufelskreis, der entstehen könne, wenn Cholinesterase-Inhibitoren wegen Demenz verordnet werden, bei denen als Nebenwirkung Dranginkontinenz auftreten kann, die dann potenziell mit anticholinergen Spasmolytika behandelt wird – welche wiederum als Nebenwirkungen zu kognitiven Beeinträchtigungen führen könnten. Brune ist der Meinung, dass Demenzpatient:innen gar keine anticholinergen Arzneimittel erhalten sollten und schärfte insbesondere den Sinn für zentrale anticholinerge Effekte. Speziell sensibilisierte sie für das Delir als mögliche Konsequenz. Bis zu 30 Prozent der Ursachen eines Delirs seien auf Arzneimittel zurückzuführen, sodass eine Reduktion der anticholinergen Medikation zur Verbesserung einer Delir-Symptomatik führen kann. Dennoch wies sie ebenso darauf hin, dass auch Symptome wie Mundtrockenheit die Lebensqualität stark beeinträchtigen können.
Mehr zum Thema
Mit Beers, Forta, Priscus und Co. die Therapie für Ältere optimieren
Was Listen leisten können
Wenn der Geist die Spur verlässt
Gefürchtetes Delir
Neben den typischen bekannten Listen für Arzneimittel im Alter verwies Brune auf die Berechnung der anticholinergen Last mithilfe von Punkten – beispielsweise mit dem ACB Calculator, der jedoch nicht auf den deutschen Markt ausgelegt ist. Auch die DAZ 25/2020 hatte sich dem Delir im Rahmen der Arzneimittelsicherheit gewidmet: Dort findet sich eine Liste mit leicht, mittelstark und stark anticholinergen Arzneimitteln. Mögliche Alternativen zu diesen Stoffen sind zudem in einer Liste aufgeführt, die in der März-Ausgabe der Krankenhauspharmazie erschienen ist (Baum/Radtke). Als häufiges Beispiel nannte Brune daraus den Einsatz von Trospiumchlorid bei Dranginkontinenz anstelle von Oxybutynin, Darifenacin oder Solifenacin, weil Trospiumchlorid weniger ZNS-gängig ist.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.