Brauche ich die wirklich alle?

Vom Umgang mit der Polymedikation

Meran - 30.05.2022, 09:15 Uhr

Prof. Dr. Ulrich Jahede stellte sich nach seinem Vortrag auf dem Pharmacon Meran den Fragen aus dem Publikum. (c / Foto: DAZ)

Prof. Dr. Ulrich Jahede stellte sich nach seinem Vortrag auf dem Pharmacon Meran den Fragen aus dem Publikum. (c / Foto: DAZ)


Ist Polymedikation bei älteren Patienten unverantwortlich oder unvermeidbar? Diese Frage stellte Prof. Dr. Ulrich Jahede von der klinischen Pharmazie aus Bonn auf dem Pharmacon in Meran. Er zeigte zahlreiche Ansätze zum verantwortlichen Umgang mit Polymedikation und mahnte, dass neben einer Überversorgung auch auf eine mögliche Unterversorgung geachtet werden sollte.

Zur Frage, was genau unter Polymedikation zu verstehen sei, hat Jahede beim Recherchieren 143 Definitionen gefunden. Aus der Sicht der WHO wird Polymedikation als die routinemäßige Einnahme von mehr als fünf Medikamenten durch einen Patienten definiert. Gar nicht selten sei es, dass mehr als elf Arzneimittel eingenommen werden, und nicht nur der Patient frage sich da so manches Mal, ob die auch alle zusammenpassen und ob es einem ohne diese vielen Arzneimittel nicht vielleicht besser ginge?

Klar ist, dass Polymedikation nicht per se unverantwortlich ist, sie kann aber riskant sein. Eine Polymedikation gilt als angemessen, wenn Indikation und Wirksamkeit jedes Arzneimittels gut dokumentiert und ein patientenrelevanter Nutzen erkennbar ist. Als unangemessen gilt eine Polymedikation, wenn Arzneimittel ohne Evidenz für Wirksamkeit oder mit unklarer Indikation eingesetzt werden, die Arzneimittel ein hohes Risiko für unerwünschte Wirkungen oder riskante Interaktionen haben sowie Verordnungskaskaden entstehen.

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Unangemessene Polymedikation sei vermeidbar, betonte Jaehde. Wichtig sei es, bereits im Vorfeld mit den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen zu besprechen, wie ein Kontakt zwischen Arzt und Apotheker im Idealfall ablaufen soll. Beispielhaft nannte er die Kommunikationspyramide, in der unterschieden wird zwischen einem Notfall, wenn ein direkter Kontakt erforderlich ist, und einer Information über mögliche Probleme, die nicht dringlich sind, z.B. mit Fax und einer späteren Rücksprache. Daneben regte Jaehde einen regelmäßigen Austausch der Professionen an. So könnte man sich ein oder zweimal im Jahr z.B. im Rahmen von Qualitätszirkeln treffen. Solch ein strukturiertes Vorgehen kann helfen, eine potenziell inadäquate Medikation zu erkennen und ein Zuviel an Arzneimitteln zu vermeiden.

Gezieltes Absetzen und wieder Ansetzen von Arzneimitteln

Mithilfe einer strukturierten Analyse der aktuellen Gesamtmedikation eines Patienten kann es gelingen, vorsichtig und gezielt Medikamente abzusetzen. Dieses sogenannte Deprescribing ist ein systematischer Prozess, mit dem Arzneimittel, deren potenzieller Schaden größer als der Nutzen für einen Patienten ist, identifiziert und abgesetzt werden können. Dies müsse im Kontext der individuellen Behandlungsziele, Funktionalität, Lebenserwartung, Werte und Präferenzen des einzelnen Patienten geschehen, betonte Jaehde. Das darf nur unter engmaschiger Symptomkontrolle geschehen und ist ein aufwändiger Prozess. 

Beim Ausschleichen der Dosis ist unbedingt auf eine ausreichende Symptomkontrolle zu achten. Gelingt das nicht, muss ein Arzneimittel auch wieder angesetzt werden. Und es konnte z. B. in einer Studie in den Niederlanden gezeigt werden, dass gerade Patienten mit Polymedikation oft unterversorgt sind: So fehlten bei einer Schmerztherapie mit Opioiden Laxanzien, bei der Behandlung der Osteoporose Bisphosphonate oder Risikopatienten erhielten bei der Einnahme von NSAR begleitend keine Protonenpumpenhemmer.


Dr. Carolina Kusnick (ck), Apothekerin 
redaktion@deutsche-apotheker-zeitung.de


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