Jochen Brüggemann ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Red Medical Systems GmbH. Das Software-Haus mit Sitz in München entwickelt rein Web-basierte Cloud-Lösungen für Ärzte, Psychotherapeuten und Apotheker, unter anderem einen konnektorenlosen TI-Anschluss. Brüggemann hat an der Technischen Universität Dortmund Informatik studiert und neben der Gründung diverser E-Health-Unternehmen auch verschiedene Manager-Positionen bei der CompuGroup Medical AG inne.
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Interview mit Jochen Brüggemann, Geschäftsführer RED
„Die Ärzte werden mit ihren Druckern abstimmen“
Es hat etwas von einem einsamen Rufer in der Wüste: Während nahezu alle Beteiligten das Hohelied auf E-Rezept und TI anstimmen, wirkt Jochen Brüggemanns Analyse zum Status quo und der ab September geplanten verpflichtenden Einführung der elektronischen Verschreibungen wie ein schriller Weckruf. Für ihn ist die ganze Digitalisierungs-Euphorie bestenfalls realitätsfremder Zweckoptimismus. Angesichts gravierender technischer Mängel sowie fehlender Anreize für Ärzte und Apotheker hält Brüggemann sogar ein komplettes Scheitern der E-Rezept-Einführung für nicht ausgeschlossen.
Nach den holprigen Trippelschritten der letzten Jahre soll das E-Rezept ab 1. September 2022 nun tatsächlich verpflichtend (zumindest für die Apotheken) eingeführt werden. Womit rechnen Sie, Herr Brüggemann – mit einem reibungslosen Rollout, Chaos in den Arztpraxen und Apotheken oder der nächsten Verschiebung?
Brüggemann: Der Status quo beim E-Rezept und der TI ist – allem enthusiastischen Hurra-Geschrei zum Trotz – desaströs. Der Karren steckt sehr tief im Sumpf, und es wird eine Herkules-Aufgabe, ihn dort wieder rauszuholen. Wir brauchen einen neuen Ansatz! Erschwerend kommt hinzu, dass alle bisherigen Prognosen zur Markteinführung Unsinn waren – zum Teil aus Unwissenheit, zum Teil aus Profitgier.
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Zudem stellt sich die Frage, was „verpflichtend“ genau bedeutet. Es war ja immer Konsens, dass – parallel zur Einführung des E-Rezepts – Verordnungen über Muster 16-Vordrucke weiterhin möglich sind. Ansonsten hätten wir bei einem Ausfall der TI ein riesiges Problem. Insofern rechne ich damit, dass die Ärzte auch nach der verpflichtenden Einführung des E-Rezepts munter weiter Muster 16-Rezepte ausstellen werden. Sie werden insofern mit den Füßen – in diesem Fall ihren Druckern – abstimmen.
Kann es wirklich sein, dass wir als Hochtechnologieland daran scheitern, ein Stück rosa Papier über alle Ebenen unseres Gesundheitssystems hinweg durch einen digitalen Workflow zu ersetzen?
Brüggemann: Das ist für mich keine Frage von technologischer Kompetenz. Wir haben einen eingespielten, gut funktionierenden analogen Prozess, in den mehr als 100.000 Teilnehmer eingebunden sind. Wenn Sie einen solchen grundlegend ändern wollen, die beiden Key Player dadurch aber nur Nachteile haben, wird es extrem schwierig: So ist das Interesse der Ärzte an einer derartigen Digitalisierung des Gesundheitswesens (inklusive E-Rezept) gleich Null, weil sie durch den Verlust bzw. die Reduzierung des direkten Arzt-Patienten-Kontakts Geschäft einbüßen. Schließlich ist die Honorierung unmittelbar an den Arztbesuch gekoppelt. Und auch die Apotheker haben kein großes Eigeninteresse – weil sie zu Recht befürchten, dass das E-Rezept nur die Versender groß macht. Das erzeugt starken Widerstand.
Wie könnten motivationsfördernde Anreize für Ärzte und Apotheker konkret aussehen, ohne gleich wieder das (ohnehin leere) Füllhorn über ihnen auszuschütten?
Brüggemann: Es gibt genau drei Formen von Anreizen, die verlässlich funktionieren: 1) Geld, 2) Geld und 3) Geld. Bei der Ausgestaltung gibt es viele Möglichkeiten – wie wäre es z. B., bei E-Rezepten bis auf Weiteres alle Sanktionierungen rund um die Arzneimittel-Budgetierung auszusetzen?
Wenn der TI-Karren tatsächlich so tief im Sumpf steckt, wie von Ihnen eingangs behauptet: Was sind die wesentlichen Gründe für diese desaströse Entwicklung?
Brüggemann: Ich sehe hier vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die technologische Basis, auf der die TI aufbaut, völlig veraltet und viel zu kompliziert: So basieren z. B. alle Dienste der TI auf jeweils unterschiedlichen Kommunikationsstandards – ein Unding. Zum anderen hat der Versuch, alle TI-Dienste zugleich einzuführen und das auch noch mit völlig utopischen Zeitplänen, schon beinahe etwas Surreales: Keiner der sechs TI-Dienste fliegt bislang wirklich, dennoch sollen alle gleichzeitig eingeführt werden – und das in einem Markt mit knapp 100 Krankenkassen und 100 verschiedenen Arztpraxis-Softwarelösungen.
„Der Status quo beim E-Rezept und der TI ist – allem enthusiastischen Hurra-Geschrei zum Trotz – desaströs. Der Karren steckt sehr tief im Sumpf, und es wird eine Herkules-Aufgabe, ihn dort wieder rauszuholen. Wir brauchen einen neuen Ansatz!“
Das ist in etwa so, als wenn ich kurz vor der Eröffnung des BER schnell noch ein zweites und drittes Terminal dazu bauen und zeitgleich auch noch das Stromnetz von 110 auf 220 Volt umstellen muss …
Zweifelsohne berechtigt ist der massive Ärger in der Ärzteschaft über den anstehenden Konnektorentausch für die TI. Wie kann es sein, dass 130.000 Konnektoren ersetzt werden müssen, bevor E-Rezept, ePA & Co. auch nur 10 cm Flughöhe gewonnen haben? Wer ist dafür verantwortlich, dass hier eben mal 500 Millionen Euro „verbrannt“ werden?
Brüggemann: Meistens gibt es nicht den einen Grund, wenn ein Projekt dieser Größenordnung scheitert. Eigentlich hätte die Gematik schon vor fünf Jahren – beim Start der TI – die Version 2.0, die ohne Hardware-Komponenten wie Konnektoren und Kartenterminals auskommt, auf den Weg bringen müssen. Aber damals wollte niemand die Warnungen hören, dass die Konnektoren in wenigen Jahren schon wieder veraltet sein würden.
Ist der Austausch zum jetzigen Zeitpunkt wirklich nötig? Oder hat da einfach die Vertriebsabteilung der entsprechenden Hardware-Hersteller exzellente „Überzeugungsarbeit“ geleistet …?
Brüggemann: Nach Einschätzung des BSI (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik) ist der Austausch notwendig, und die sind diesbezüglich das Maß der Dinge. Fakt ist: Wenn die Sicherheit der TI nicht auf dem allerhöchsten Niveau ist, besteht die Gefahr, das Vertrauen in die Digitalisierung komplett einzubüßen.
Wechseln wir die Perspektive von den „Bestraften“ zu den „Nutznießern“ der Digitalisierung. Wer sind Ihres Erachtens die größten Profiteure einer zügigen, flächendeckenden Einführung des E-Rezepts hierzulande, das ja nicht zufällig häufig als „Game Changer“ beschrieben wird?
Brüggemann: Die Versender sind sicher die größten Profiteure des E-Rezepts, das gilt aber ebenso für deutsche Apotheken mit Versandhandel. Deshalb singen diese auch das Hohelied auf die Digitalisierung. Und natürlich profitieren auch die Anbieter der TI-Technologie von der Umstellung.
„Es wäre schon viel gewonnen, wenn man endlich die surreal enge Taktung aus dem Prozess der E-Rezept-Einführung rausnehmen und einen TI-Service nach dem anderen zum Fliegen bringen würde. Wie jeder weiß, wächst auch Gras nicht schneller, wenn man daran zieht.“
Bei RED würden wir uns viel lieber damit beschäftigen, echte Mehrwerte für unsere Ärzte- und Apotheken-Kunden zu generieren, als uns mit der TI-Einführung zu beschäftigen. Das bindet nur Ressourcen, die wir anderweitig besser einsetzen könnten. Trotzdem gehen wir zugegebenermaßen davon aus, dass auch unser TI-as-a-Service-Angebot nun eine noch größere Aufmerksamkeit erlangen wird.
Was müsste Ihres Erachtens geschehen, Herr Brüggemann, um E-Rezept, eAU & Co. doch noch zum Fliegen zu bringen?
Brüggemann: Als Erstes bräuchte man endlich einen realistischen Zeitplan anstelle utopischer Fantasie-Ziele: Von 0 auf 100 in 0,1 Sekunden – das kann und wird nicht funktionieren. Zweitens sollte man sich auf eine einzelne TI-Anwendung konzentrieren, anstatt alle sechs Dienste gleichzeitig auszurollen. Drittens bräuchte es eine viel umfassendere Testphase für das E-Rezept: Die angepeilten 30.000 Test-E-Rezepte sind angesichts von 700 Millionen Verordnungen p. a. ein Witz. Vor einem flächendeckenden Rollout sollten 10 Millionen E-Rezepte den Prozess durchlaufen und 80 Prozent der Ärzte damit schon Erfahrungen gemacht haben.
Ein solch grundlegender „TI-Reset“ käme einem politischen Offenbarungseid gleich. Das kann man nicht ernsthaft erwarten – oder …?
Brüggemann: Aus rein technischer Sicht wäre Einreißen und Neubauen wahrscheinlich die bessere Option. In der Praxis wird sich diese Frage aber in der Tat nicht stellen, weil sie ein politisches „No-Go“ darstellt. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn man endlich die surreal enge Taktung aus dem Ganzen herausnehmen würde. Dampf rauszunehmen und einen TI-Service nach dem anderen zum Fliegen zu bringen – so lautet das Gebot der Stunde. Wie jeder weiß, wächst auch Gras nicht schneller, wenn man daran zieht. Lassen Sie mich abschließend meine Warnung nochmal wiederholen: Es besteht nach wie vor das Risiko, dass die Einführung von E-Rezept, ePA & Co. komplett scheitert.
Das Interview führte Dr. Hubert Ortner
6 Kommentare
vielen Dank
von Karl Friedrich Müller am 21.06.2022 um 10:12 Uhr
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AW: vielen Dank
von Anita Peter am 21.06.2022 um 10:19 Uhr
AW: vielen Dank
von Karl Friedrich Müller am 21.06.2022 um 11:30 Uhr
E-Rezept-Desaster
von Scarabäus am 21.06.2022 um 9:17 Uhr
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Danke Herr Brüggemann
von Rita Längert am 21.06.2022 um 8:22 Uhr
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Einsamer Rufer ! nein
von ratatosk am 20.06.2022 um 18:40 Uhr
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