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Citraconsäure
Immunsystem: Körpereigene Säure könnte zum Arzneimittel werden
Forscher des Twincore – Zentrum für Experimentelle und Klinische Infektionsforschung in Hannover haben jetzt die körpereigene Substanz Citraconsäure genauer unter die Lupe genommen und dabei vielversprechende Wirkungen gefunden. Unter anderem hemmt sie Influenzaviren im Körper. Die Forscher wollen die Substanz zum Arzneimittel weiterentwickeln.
C5H6O4 – das ist die Summenformel der drei isomeren organischen Säuren Itaconsäure, Metaconsäure und Citraconsäure. Die Dicarbonsäuren entstehen unter anderem bei der Destillation von Citronensäure (C6H8O7), werden bereits alljährlich im Maßstab von mehreren Tausend Tonnen biotechnologisch produziert (Itaconsäure mit rund 80.000 Tonnen pro Jahr) und finden vielfältige Verwendung in den verschiedensten Industriezweigen – von der Lebensmittelherstellung über Pharmaindustrie bis zur Kunststoff- und Lederproduktion.
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Außerdem ist mindestens Itaconsäure ein Nebenprodukt des Citronensäurezyklus im Stoffwechsel der Zellen. Die drei kleinen organischen Säuren haben aber offensichtlich darüber hinaus auch Potenzial, in Zukunft als Wirkstoffe von Arzneimitteln zum Einsatz zu kommen.
Erst im Jahr 2021 fand die Arbeitsgruppe „Biomarker für Infektionskrankheiten“ von PD Dr. Frank Peßler am Institut für Experimentelle Infektionsforschung des Twincore - Zentrum in Hannover die drei Säuren in größerer Menge natürlich vorkommend in Organen des Immunsystems wie Lymphknoten und der Milz.
Twincore ist eine gemeinsam von der Medizinischen Hochschule Hannover und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig betriebene Einrichtung. „Daraufhin haben wir diese Isomere weiter charakterisiert. Dabei waren die Ergebnisse mit Citraconsäure für die Entwicklung von Medikamenten am vielversprechendsten“, sagt Peßler. Erst im Januar 2022 hatten die Forscher für Itaconsäure zeigen können, dass sie entzündungshemmende und antivirale Effekte hat. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachmagazin PLOS Pathogens.
Citraconsäure aktiviert den NRF2-Signalweg und hemmt Virenfreisetzung
Für Citraconsäure konnten sie nun zeigen, dass diese eine noch deutlich stärkere positive Wirkung auf das Immunsystem hat. Die Ergebnisse ihrer Arbeit veröffentlichten die Forscher jetzt im Fachmagazin Nature Metabolism. „Wir haben entdeckt, dass Citraconsäure einen wichtigen Signalweg im Immunsystem aktiviert“, so Peßler. „Der sogenannte NRF2-Pathway steuert antioxidative und entzündungshemmende Prozesse, welche die Zellen vor schädlichen Einflüssen schützen können“, erklärt der Forscher. NRF2 steht dabei für „Nuclear factor erythroid 2-related factor 2“. Das Protein ist ein Transkriptionsfaktor, der insbesondere die Transkription für antioxidativ wirksame Proteine steuert.
Von besonderem Interesse für die Forscher war aber die Tatsache, dass Citraconsäure neben der antioxidativen Wirkung auch die Vermehrung von Viren hemmen kann und antiinflammatorisch wirkt. „Sie hemmt die Signalkaskaden der Typ-1-Interferone und reduziert dadurch proinflammatorische Zytokine und Chemokine“, erläutert Peßler. Gleichzeitig beobachteten die Forscher in menschlichen Zellkulturen, die sie mit Influenzaviren infizierten, dass Citraconsäure die Freisetzung der Viruspartikel aus den Zellen fast vollständig verhindert. Die Forscher hoffen daher, auf Basis von Citraconsäure Arzneimittel gegen schwere Virusinfektionen entwickeln zu können. Allerdings könne dies noch rund fünf bis zehn Jahre dauern. „Eher zehn“, sagt Peßler.
Eine weitere Anwendungsmöglichkeit sehen die Forscher allerdings auch unter Umständen als Krebsmedikament sowie als Anregungsmittel für das Immunsystem. Diese Wirkungen beruhen auf einer Wechselwirkung, die Citraconsäure direkt mit ihrem Isomer, der Itaconsäure und deren Synthesewegen hat.
Citraconsäure hemmt das mitochondriale Enzym ACOD1 (Aconitat Decarboxylase 1), das in Immunzellen exprimiert wird. Dort vermittelt ACOD1 unter anderem die Synthese von Itaconsäure in entzündetem Gewebe. „Citraconsäure verhindert die Produktion von Itaconsäure, indem sie direkt an das aktive Zentrum des Enzyms bindet. Derartige Hemmstoffe waren bislang nicht bekannt“, sagt Dr. Fangfang Chen, Biotechnologin und Erstautorin der jetzt veröffentlichten Ergebnisse. „Zu viel Itaconsäure kann das Immunsystem schwächen. Die Gabe von Citraconsäure könnte daher zu einer Leistungssteigerung des Immunsystems führen. Dies könnte bei einer fortgeschrittenen Sepsis, also Blutvergiftung, helfen, oder bei Menschen, deren Immunsystem schlecht auf Impfungen anspricht“, erklärt sie.
Da Itaconsäure auch das Wachstum bestimmter Tumore fördern könne, könnten ACOD1-Hemmstoffe auf der Basis von Citraconsäure eventuell eine neue Klasse von Krebsmedikamenten bilden, wie Peßler erklärt.
Kooperationspartner gesucht – auch in Sachen Stoffwechselforschung
In jedem Fall habe man für die medizinische Anwendung von Citraconsäure bereits ein Patent beantragt, auch wenn noch viel Arbeit auf dem Weg zur therapeutischen Anwendung anstehe. Nächste Forschungsschritte der Hannoveraner seien so etwa die Identifizierung und Validierung der pharmakologischen Zielstrukturen, der „drug targets“, sagt Peßler. „Danach möchten wir ,intelligent drug design‘ anwenden, um Analoge mit spezifischerer Wirkung und verbesserter Pharmakokinetik und -dynamik zu entwickeln“, sagt er. Dabei arbeite man eng mit Forschern im Bereich der medizinischen Chemie bei den Projektpartnern am HZI in Braunschweig und dessen Tochterinstitut, dem Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung HIPS in Saarbrücken zusammen.
Weitere Kooperationspartner, etwa aus der pharmazeutischen Industrie, gebe es allerdings noch nicht. „Wir sind für Gespräche offen“, sagt Peßler. Wahrscheinlich sei es aber hilfreich, wenn man bereits Daten über die Wirksamkeit in in-vivo-Modellen vorliegen hätte, sagt er. „Diese Daten möchten wir in den kommenden Monaten gewinnen, etwa im Mausmodell der Influenzainfektion.“
Kooperationspartner suchen die Forscher auch noch für die Aufklärung der physiologischen Funktion von Citraconsäure. Dafür suchen die Twincore-Forscher Experten in Sachen Stoffwechsel-Forschung. „Bislang wissen wir einfach viel zu wenig über die physiologische Bedeutung der Citraconsäure, insbesondere beim Menschen. Das Vorkommen in Lymphknoten und Milz basiert ja auf Messungen an Mausorganen“, sagt Peßler.
Physiologische Funktion von Citraconsäure muss noch erforscht werden
„Ein richtiger Hemmschuh ist auch die Tatsache, dass kaum bekannt ist, welche Zielstrukturen außer dem Enzym ACOD1 die Wirkung der Citraconsäure vermitteln“, sagt er. Ein Kandidat sei der NRF2-Signalweg – die Forscher vermuten etwa in ihrer Publikation, dass die antivirale Wirkung auf einer Hemmung eines Exportwegs aus dem Zellkern beruht.
„Insbesondere in letzterem Fall fehlen hier die dringend benötigten experimentellen Validierungen. Abgesehen von diesen zwei Strukturen gibt es sicherlich mehrere, die auch je nach Zelltyp und -zustand variieren dürften. Das heißt, es fehlen uns zurzeit noch grundlegende Informationen über die pharmakologischen Zielstrukturen, sodass es leider noch sehr schwierig wäre, Analoge zu synthetisieren, bei denen die Interaktion mit dem jeweiligen drug-target optimiert ist“, sagt der Forscher.
Der Stellenwert von Citraconsäure im Organismus könne daher aktuell nur näherungsweise abgeschätzt werden, sagt er. „Theoretisch könnte ein Mangel an Citraconsäure zu einer Immundämpfung führen, falls als Konsequenz tatsächlich die Itaconat-Synthese erhöht ist. Man kann aktuell nicht sagen, ob eine derartige Dämpfung des Immunsystems einen klinischen Phänotyp nach sich ziehen würde“, sagt er.
Die Stoffwechselwege, die zu Synthese und Abbau der Citraconsäure führen, seien nicht ausreichend bekannt. „Dies wäre ein wichtiger nächster Schritt im Projekt. Auch wissen wir nicht, in welchen Zelltypen in den Immunorganen die Citraconsäure vorkommt. Man kann jedoch postulieren, dass ein Citraconat-Mangel durch die fehlende ACOD1-Hemmung zu einem Überschuss an Itaconat führen könnte, was zu einer Immundämpfung führen könnte. Zudem könnte das Fehlen der NRF2-Aktivierung zu einer Verschlechterung der Redox-Balance führen“, erklärt er. Dies könnte dann theoretisch zu einem höheren Risiko an degenerativen Erkrankungen führen.
„Man weiß, dass erhöhte Citraconatspiegel etwa bei Kindern mit der seltenen Stoffwechselerkrankung Methylmalonazidurie die Konsequenz einer Störung im Aminosäurestoffwechsel – hier insbesondere Isoleucin – sein können. Aber es ist unklar, ob die Citraconsäure per se eine Rolle in der Organschädigung bei dieser Krankheit spielt oder ob sie eher ein einzelnes Phänomen ist. Chronisch erhöhte Citraconatspiegel könnten auch zu einer Immundämpfung und Entzündungshemmung führen, allerdings müssten die Spiegel schon sehr hoch sein – in unseren zellbasierten Studien haben wir ja eine anti-inflammatorische Wirkung bei Konzentrationen von 10 bis 25 Millimolar (mM) gesehen“, sagt Peßler.
Bis zu entsprechenden Therapeutika wird dementsprechend noch viel Forschung notwendig sein und einige Zeit vergehen. Das Beispiel Citraconsäure zeigt allerdings, dass auch in schon lange bekannten Substanzen noch unbekanntes Potenzial für Arzneimitteln steckt. Für Arbeiten mit Citraconsäure finden sich beispielsweise bereits Artikel in „Justus Liebigs Analen der Chemie“ von 1889 oder in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft von 1881 durch den Chemiker Richard Anschütz.
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