Metabolic Engineering

Naturstoffe: Forscher entschlüsseln die Biosynthese von Strychnin

Düsseldorf - 20.07.2022, 10:45 Uhr

Jenaer Forschern ist es gelungen, den gesamten Biosyntheseweg in Strychnos nux-vomica L. (Gewöhnliche Brechnuss) zu entschlüsseln. Dabei entdeckten sie zufällig die spontane Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin. (Bild: channarongsds / AdobeStock)

Jenaer Forschern ist es gelungen, den gesamten Biosyntheseweg in Strychnos nux-vomica L. (Gewöhnliche Brechnuss) zu entschlüsseln. Dabei entdeckten sie zufällig die spontane Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin. (Bild: channarongsds / AdobeStock)


Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena konnten jetzt den gesamten Biosyntheseweg des Naturstoffs Strychnin in der Gewöhnlichen Brechnuss entschlüsseln. Das könnte für eine ganze Reihe von pharmazeutisch interessanten Naturstoffen neue Produktions-Ansätze mittels „Metabolic Engineering“ eröffnen.

Strychnin ist ein recht bekanntes hochgiftiges Alkaloid aus der Gewöhnlichen Brechnuss (Strychnos nux-vomica L.). 30 bis 120 Milligramm oral aufgenommen sind für Menschen tödlich, subkutan oder intravenös reichen bereits 15 Milligramm (Der LD50 bei Mäusen liegt bei 2 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht). Allerdings ist die Zahl der mit Strychnin ermordeten Menschen in Kriminalromanen höher als im echten Leben – noch in einer Verdünnung von 1 zu 130.000 schmeckt Strychnin bitter.

„Glücklicherweise“ liegen die Verdünnungen in der Homöopathie noch viel höher – in dieser, nicht auf wissenschaftlicher Evidenz basierenden, Heilkunde sind Strychnin oder Brechnuss-Präparate recht beliebt für viele verschiedene Anwendungen, ebenso in der ayurvedischen Medizin.

In der evidenzbasierten Pharmazie hat Strychnin eher weniger Bedeutung – steht allerdings wegen seiner in geringsten Dosierungen anregenden Wirkung auf der Dopingliste. Dennoch sind die jetzt im Fachmagazin Nature veröffentlichten Ergebnisse um Erstautor Dr. Benke Hong aus der Forschungsgruppe von Professor Dr. Sarah O’Connor, der Direktorin der Abteilung für Naturstoffsynthese am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena, von Bedeutung für die Pharmazie. 

„Strychnin gehört zu einer großen Gruppe von Naturstoffen, den sogenannten Monoterpen-Indolalkaloiden. Obwohl die chemischen Strukturen der Monoterpen-Indolalkaloide sehr unterschiedlich sind, sind die ersten Schritte der Biosynthese sehr ähnlich. Wenn wir also etwas über die Biosynthese von Strychnin lernen, erfahren wir auch, wie andere Monoterpen-Indolalkaloide wie das Malariamittel Chinin und das Krebsmittel Vincristin hergestellt werden“, erklärt O’Connor die Übertragbarkeit ihrer Forschungsergebnisse.

Biosyntheseweg Schritt für Schritt ermittelt und validiert

Den Jenaer Forschern ist es nun nämlich gelungen, den gesamten Biosyntheseweg in der Pflanze zu entschlüsseln. Obwohl Strychnin bereits lange bekannt ist und seine komplexe Molekülstruktur bereits in den 1940er-Jahren aufgeklärt wurde, war der Weg der natürlichen Synthese bislang nicht bekannt. Dafür gibt es aber eine ganze Reihe mehr oder weniger komplexer Verfahren zur Totalsynthese – mit wirtschaftlicher Bedeutung; Strychnin findet Anwendung etwa als Gift für Nagetiere wie Ratten.

„Unsere Schlüsselfrage war, wie wir die Gene finden können, die für die Biosynthese von Strychnin in der Brechnuss verantwortlich sind. In einem ersten Schritt haben wir die Expression der Gene – das Transkriptom – von zwei Arten der gleichen Gattung Strychnos verglichen, von denen aber nur der Brechnussbaum Strychnin produziert. Wir wählten auf dieser Grundlage Kandidaten-Gene für jeden Schritt auf der Grundlage der vorgeschlagenen chemischen Umwandlung aus, von der wir nicht wussten, ob sie korrekt war oder nicht“, erklärt Hong den Forschungsansatz.

In der Vergangenheit hatten die Max-Planck-Forscher in der Heilpflanze Catharanthus roseus, dem Madagaskar-Immergrün, das wie die Brechnuss zur Ordnung der Enzianartigen (Gentianales) gehört, bereits den Syntheseweg bis zum Zwischenprodukt Geissoschizin aufklären können. Dessen homologe Gene fanden die Forscher auch in der Brechnuss. Als Nächstes gingen die Forscher einen Weg, den sie „chemische Logik“ nannten: „Man könnte sagen, dass die Chemie die Entdeckung der Gene in unserer Studie geleitet hat. Auf der Grundlage der chemischen Strukturen und Mechanismen ergab sich für jeden Schritt im Stoffwechselweg ein Vorschlag für die chemische Umwandlung. Unsere Spekulationen über die biosynthetischen Enzymfamilien mit katalytischen Funktionen basierten wiederum auf der chemischen Reaktion der einzelnen Schritte“, sagt O’Connor.

Um den Nachweis zu erbringen, dass die identifizierten Gene tatsächlich die Proteine für die vorgeschlagenen Biosyntheschritte liefern, brachten die Forscher diese Gene in Tabakpflanzen (Nicotiana benthamiana) ein, gaben die notwendigen Vorläufersubstanzen hinzu und untersuchten, ob das postulierte Produkt gebildet wurde. Dabei testen sie mit einem hohen Durchsatz mehrere Gene gleichzeitig.

Beim letzten Schritt half der Zufall

Damit konnten die Wissenschaftler den gesamten Weg aufklären – lediglich der letzte Schritt, bei dem Prestrychnin zu Strychnin umgewandelt wird, ließ sich so lange nicht aufklären. Dabei habe dann der Zufall geholfen, berichten die Forscher. „Die spontane Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin ist eine zufällige Entdeckung. Sie erfordert mehrere Zwischenschritte, und wir dachten zunächst, dass dieser Prozess von einem oder mehreren Enzymen katalysiert werden muss. In der Tat haben wir viele Enzyme untersucht, aber keines von ihnen war reaktiv. Überraschenderweise stellte ich eines Tages fest, dass eine Prestrychnin-Probe, die bei Raumtemperatur auf dem Labortisch gelagert wurde, sich im Laufe der Zeit langsam in Strychnin umgewandelt hatte“, berichtet Hong.

„Diese nicht-enzymatische Umwandlung ist auf die inhärente chemische Reaktivität des N-Malonyl-Wieland-Gumlich-Aldehyds zurückzuführen. Faszinierend ist, dass der Diabolin-Biosyntheseweg in einer anderen Pflanze der Gattung Strychnos über ein Enzym verfügt, das eine Acetylgruppe auf den Stickstoff des Wieland-Gumlich-Aldehyds überträgt. Der Strychnin-Biosyntheseweg in Strychnos nux vomica hat fast genau das gleiche Enzym, außer dass es eine Mutation in diesem Enzym gibt, die dazu führt, dass es eine Malonylgruppe statt einer Acetylgruppe überträgt. Die Malonylgruppe ist reaktiver als die Acetylgruppe und kann sich spontan zu Strychnin umlagern“, erklärt O’Connor dieses Phänomen.

Das erwähnte Diabolin ist dabei ein dem Strychnin ähnlicher Stoff, der zur Gruppe der sogenannten Strychnos-Alkaloide gehört. Damit ließ sich auch dessen Biosynthese aufklären sowie die des ebenfalls in diese Gruppe gehörenden Brucins. Damit sei es auch möglich, auch andere verwandte Wirkstoffe auf dem Weg des „Metabolic Engineerings“ zu produzieren. „Unser Labor hat mit Hilfe der biosynthetischen Enzyme Analoga oder Derivate von anderen Naturprodukten hergestellt. Dazu füttern wir die Enzyme mit einem ‚unnatürlichen‘ Ausgangsmaterial wie etwa fluoriertes Tryptamin anstelle von Tryptamin. Für Strychnin haben wir dies noch nicht getan, aber wir werden es tun“, erklärt O’Connor.

Vorteile gegenüber Totalsynthese oder Gewinnung aus Pflanzen

Letztlich ließen sich auf diese Art mit der Kenntnis aller beteiligten Gene auf verschiedenen Wegen biotechnologisch Wirkstoffe herstellen – etwa in gentechnisch modifizierten Pflanzen oder auch in geeigneten Mikroorganismen. Gegenüber Totalsynthese oder der Wirkstoffgewinnung aus den Ursprungspflanzen habe Metabolic Engineering Vorteile: „Die Totalsynthese ist ein sehr leistungsfähiger Ansatz, aber bei großen, komplexen Molekülen wie Strychnin oft nicht wirtschaftlich. Die Isolierung aus Pflanzen ist zwar oft erfolgreich, hat aber den Nachteil, dass die Produktion des Produkts oft von den Umweltbedingungen abhängt und dass der natürliche Pflanzenproduzent manchmal nur sehr schwer zu züchten ist“, sagt O’Connor.

Als nächstes wolle man versuchen, die Biosynthesewege für weitere Naturstoffe zu entschlüsseln, sagt die Professorin. „Wir sind immer auf der Suche nach Pflanzen, die interessante Moleküle mit medizinischer Anwendung bilden. Wir arbeiten an Madagaskar-Periwinkle, aus dem Vincristin – ein Mittel gegen Krebs – gewonnen wird. Und wir arbeiten an Iboga, aus dem Ibogain gewonnen wird, das interessante Eigenschaften zur Suchtbekämpfung hat und vieles mehr“, sagt die Forscherin.


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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