Nobelpreis für Medizin oder Physiologie

Wie Neandertaler und Co. noch heute unsere Gesundheit prägen

Stuttgart - 04.10.2022, 16:45 Uhr

Der neueste Nobelpreisträger in der Medizin, Svante Pääbo, hat nicht nur eine neue Gattung unserer Vorfahren – die Denisova – entdeckt, sondern auch den Weg für eine neue wissenschaftliche Disziplin bereitet. (Foto: IMAGO / TT)

Der neueste Nobelpreisträger in der Medizin, Svante Pääbo, hat nicht nur eine neue Gattung unserer Vorfahren – die Denisova – entdeckt, sondern auch den Weg für eine neue wissenschaftliche Disziplin bereitet. (Foto: IMAGO / TT)


Der Nobelpreis für Medizin geht im Jahr 2022 an den Evolutionsforscher Svante Pääbo. Er gilt als Gründer einer neuen wissenschaftlichen Disziplin – der Paläogenetik. Wie das Wissen über die Gene unserer Vorfahren auch dem Menschen von heute noch nutzen kann, zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel von COVID-19.

Am gestrigen Montag wurde mit der Verkündung der diesjährigen Nobelpreisträger begonnen, der Medizin-Nobelpreis bildet dabei traditionell den Auftakt. Erhalten hat ihn im Jahr 2022 der in Leipzig arbeitende schwedische Evolutionsforscher Svante Pääbo – für seine Forschung zur Evolution des Menschen und zu dessen ausgestorbenen Verwandten. Tatsächlich hatte bereits sein Vater Sune Bergström die Auszeichnung 1982 gemeinsam mit zwei weiteren Wissenschaftlern erhalten, ebenfalls in der Kategorie Medizin – damals jedoch für die Forschung an Prostaglandinen. Die Vergabe des Medizin-Nobelpreises an einen einzelnen Forscher ist eher selten, zuletzt war das 2016, 2010 und 1999 der Fall. Die Forschung von Pääbo gilt jedoch als bahnbrechend, weil er laut Pressemitteilung etwas scheinbar Unmögliches geschafft hat: die Sequenzierung des Neandertaler-Genoms. Zudem hat er eine neue Gattung unserer Vorfahren entdeckt, den Denisova-Menschen. 

Ein Gen für das Überleben in großer Höhe

Wichtig für die Medizin ist seine Forschung, weil wir auch heute noch Gene dieser Vorfahren in uns tragen. Das liegt daran, dass sich etwa die Neandertaler und der Homo sapiens während ihrer jahrtausendelangen Koexistenz miteinander fortgepflanzt haben. Bei den heutigen Menschen europäischer oder asiatischer Abstammung sollen etwa ein bis vier Prozent des Genoms von den Neandertalern stammen. In Südostasien sollen zudem die heutigen Menschen sechs Prozent der Gene des Denisova-Menschen in sich tragen. Für die Gesundheit heutiger Menschen bedeutet das zum Beispiel: Das Gen EPAS1 des Denisova-Menschen bringt einen Vorteil für das Überleben in großer Höhe mit sich. Es soll bei den heutigen Tibetern weit verbreitet sein. 

Das Gen spielte übrigens bereits 2019 beim Nobelpreis für Medizin eine Rolle, als es um die Erforschung des zellulären Sauerstoffsystems ging.

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Doch ganz unabhängig von der Funktion einzelner Gene hat Pääbo mit seiner Arbeit eine völlig neue wissenschaftliche Disziplin begründet: Die Paläogenetik – die Erforschung dessen, was uns als Menschen von unseren Vorfahren unterscheidet und damit einzigartig macht. Dafür wird er im Dezember den Nobelpreis für Medizin überreicht bekommen. 

Gene und unser Immunsystem

Ein weiterer Anknüpfungspunkt der Paläogenetik an die Medizin sind die Gene für drei Toll-like-Rezeptoren – TLR 6, TLR 1 und TLR 10. Sie sind ein weiteres Beispiel für den Genaustausch zwischen unseren Vorfahren und ihre konkreten Auswirkungen auf unsere heutige Gesundheit. Denn Toll-like-Rezeptoren sind an allergischen Reaktionen beteiligt und daran, dass Krankheitserreger in unserem Körper erkannt werden. Wie das in der Praxis aussehen kann: Etwa jeder zehnte Mensch ist immun gegen eine Infektion mit dem Magenbakterium Helicobacter pylori, wobei eine Punktmutation im TLR-1-Gen (Toll-like receptor 1) für die angeborene Immunität verantwortlich sein soll. Und auch bei der Impfstoffentwicklung spielen Toll-like-Rezeptoren eine wichtige Rolle.

Toll-like-Rezeptoren

„Auf der Oberfläche von beispielsweise Makrophagen oder dendritischen Zellen und in der Membran von Endolysosomen befinden sich Rezeptoren, die spezifische pathogenassoziierte Muster (pathogen-associated molecular patterns; PAMP) erkennen und binden. Im Menschen sind zehn verschiedene Toll-like-Rezeptoren (TLR) bekannt, die durch bestimmte Moleküle aktiviert werden. Beispielsweise sitzt TLR4 in der Cytoplasmamembran von dendritischen Zellen und wird von Lipopolysacchariden gramnegativer Bakterien aktiviert. Demgegenüber sind TLR7, TLR8 und TLR9 in der endolysosomalen Membran lokalisiert und erkennen virale oder bakterielle RNA bzw. bakterielle DNA.“ 

[Quelle: DAZ 1/2022]

Bei Impfstoffen denkt man in der heutigen Zeit sofort an COVID-19 – und tatsächlich hat Pääbo auch auf diesem Feld geforscht: „Eine genomische Region, die mit dem Schutz gegen schweres COVID-19 assoziiert ist, wurde von Neandertalern vererbt“, heißt eine Veröffentlichung von ihm in „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ von 2021. Wie dem „wissenschaftlichen Hintergrund“ zur Verkündung des Nobelpreises zu entnehmen ist, geht es dabei konkret um Gene für die Oligoadenylat-Synthetase (OAS). Die OAS gehört zu den wichtigsten Interferon-induzierbaren Proteinen der Zelle, die bei einem Virusbefall synthetisiert werden – sie reagiert auf die Anwesenheit von doppelsträngiger RNA. 

Solche und andere Beispiele für den Genaustausch zwischen unseren Vorfahren sollen interessante Forschungsansätze für die Zukunft aufzeigen, um herauszufinden, wie spezifische Genvarianten biologische Prozesse auf der molekularen Ebene beeinflussen. 

Pääbo hatte sich bereits früh in seiner wissenschaftlichen Karriere mit der Möglichkeit beschäftigt, DNA von Neandertalern zu untersuchen. Das Problem: DNA ist ein recht instabiles Molekül und zerfällt im Laufe der Zeit in immer kleinere Bruchstücke. Zudem erschweren Verunreinigungen die Analyse. Dennoch gelang es dem Ausnahme-Forscher, Erbgut des Neandertalers aus alten Knochenfragmenten zu isolieren und zu analysieren. 2010 stellte er eine erste Version des Neandertaler-Genoms vor. Ähnliches gilt für den Denisova-Menschen: Ein winziges, 40.000 Jahre altes Fingerknochenfragment war 2008 in der Denisova-Höhle in Sibirien gefunden worden. Untersuchungen der daraus gewonnen DNA zeigten, dass sich diese von der des Menschen und von der des Neandertalers unterschied – damit hatte Pääbo eine bisher unbekannte Frühmenschen-Form entdeckt.

Pääbo studierte Ägyptologie und Medizin

Svante Pääbo ist seit Jahrzehnten in Deutschland tätig und spricht fließend Deutsch: Von 1990 an hatte er an der Universität München geforscht, seit 1997 arbeitet er am neu gegründeten Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die Faszination für vergangene Zeiten begann bei dem 1955 geborenen Forscher bereits in der Jugend: Damals habe ihn seine Mutter – die er am vergangenen Montag als seinen größten Einfluss bezeichnete – auf eine Ägyptenreise mitgenommen, erzählte er vor Jahren in einem Interview. Folgerichtig begann er 1975 an der Universität Uppsala in Schweden zunächst unter anderem ein Ägyptologie-Studium, realisierte dann aber, dass seine Vorstellung davon „viel zu romantisch“ gewesen sei: „Es war viel, viel langweiliger, als ich dachte.“ Um Ausgrabungen etwa sei es gar nicht gegangen. Pääbo wechselte zum Fach Medizin. Erkenntnisse aus dem Feld der Genetik verband er mit seinem Wissen um Bestände in ägyptologischen Museen.

Neben seiner eigentlichen Forschungsarbeit habe er in seiner Zeit als Doktorand nachts oder am Wochenende Versuche zu den Fragen gemacht, die ihn umtrieben – heimlich, aus Angst vor dem Doktorvater, wie er einst berichtete. Noch als Doktorand wies er nach, dass das Erbmolekül DNA in altägyptischen Mumien überdauern kann. 

Pääbo hat in seiner Karriere zahlreiche weitere Preise gewonnen, etwa den Breakthrough Prize in Life Science, den Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft und den Japan-Preis. Pääbo hat auch eine Arbeitsgruppe in Japan.

Die Preisträger des Medizin-Nobelpreises der vergangenen Jahre

2021: David Julius (USA) und der im Libanon geborene Forscher Ardem Patapoutian für ihre Entdeckung von Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper.

2020: Harvey J. Alter (USA), Michael Houghton (Großbritannien) und Charles M. Rice (USA) für die Entdeckung des Hepatitis-C-Virus. 

2019: William Kaelin (USA), Peter Ratcliffe (Großbritannien) und Gregg Semenza (USA). Sie hatten herausgefunden, wie Zellen den Sauerstoffgehalt wahrnehmen und sich daran anpassen.

2018: Der US-Amerikaner James Allison und der Japaner Tasuku Honjo für die Entwicklung von Immuntherapien gegen Krebs.

2017: Die US-Forscher Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young für die Erforschung der inneren Uhr.

2016: Der Japaner Yoshinori Ohsumi, der das lebenswichtige Recycling-System in Körperzellen entschlüsselt hat.

2015: Die Chinesin Youyou Tu, die den Malaria-Wirkstoffs Artemisinin entdeckt hat. Sie teilte sich den Preis mit dem gebürtigen Iren William C. Campbell und dem Japaner Satoshi Omura, die an der Bekämpfung weiterer Parasiten gearbeitet hatten.

2014: Das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser sowie John O'Keefe (USA/Großbritannien) für die Entdeckung eines Navis im Hirn: Sie fanden grundlegende Strukturen unseres Orientierungssinns.

2013: Thomas Südhof (gebürtig in Deutschland) sowie James Rothman (USA) und Randy Schekman (USA) für die Entdeckung von wesentlichen Transportmechanismen in Zellen.

2012: Der Brite John Gurdon und der Japaner Shinya Yamanaka für die Rückprogrammierung erwachsener Körperzellen in den embryonalen Zustand.

2011: Bruce Beutler (USA) und Jules Hoffmann (Frankreich) für Arbeiten zur Alarmierung des angeborenen Abwehrsystems. Ralph Steinman aus Kanada entdeckte Zellen, die das erworbene Immunsystem aktivieren. Er war kurz vor der Verkündung gestorben und bekam den Preis posthum.


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1 Kommentar

Manchmal braucht man nichts mehr hinzufügen

von Dr. House am 04.10.2022 um 17:22 Uhr

Ich finde die Überschrift schon so herrlich zweideutig - die kann man eigentlich so stehen lassen (Nicht zuletzt wegen der gerade wieder aufflammenden Homöopathiedebatte) Und ja, ich weiß, dank moderner Medizin leben wir länger und besser. Trotzdem muss bald möglichst in der westlichen sogenannten Zivilisation eine Debatte über Gesundheit und Wohlstand geführt werden - schon allein weil langfristig unsere jetzige Vorstellung vom Einen nicht zumAanderen und umgekehrt führt.

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