Analgesie

Schmerzstillen auf neuen Wegen – neue Kandidaten aus dem Computer

Düsseldorf - 01.11.2022, 09:15 Uhr

Forschende der FAU – im Bild ist Doktorand und Co-Erstautor Philipp Seemann zu sehen – haben Substanzen gefunden, die sehr gut gegen Schmerzen helfen, jedoch weder abhängig machen noch sedieren. (s / Foto: FAU / Stefan Löber)

Forschende der FAU – im Bild ist Doktorand und Co-Erstautor Philipp Seemann zu sehen – haben Substanzen gefunden, die sehr gut gegen Schmerzen helfen, jedoch weder abhängig machen noch sedieren. (s / Foto: FAU / Stefan Löber)


Forscher der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität of California in San Francisco neue Wirkstoffkandidaten gefunden, die Schmerzen über den Adrenalin-Rezeptor statt über den Opioid-Rezeptor stillen. Dazu untersuchten sie virtuell über 300 Millionen Verbindungen.

Opioide sind seit langer Zeit bekannte und erfolgreiche Schmerz- und Betäubungsmittel – aber auch wegen ihrer abhängig machenden und psychotropen Wirkung ein gesellschaftliches Problem. Nicht zuletzt die anhaltende Opioid-Krise in den Vereinigten Staaten von Amerika führt deutlich vor Augen, wie notwendig alternative Analgetika sind, die eine ähnlich starke Wirkung haben.

Ein Forschungsteam der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) hat sich gemeinsam mit Wissenschaftlern aus den USA, China und Kanada diesen Forschungsschwerpunkt gesetzt. Im Jahr 2016 veröffentlichte das Team im Fachmagazin Nature Arbeiten zu PZM21, einem Analgetikum, das zwar über den Opioid-Rezeptor wirkt, aber weniger Nebenwirkungen haben – etwa weniger abhängig machen sollte. Nach neueren Forschungen hat sich dieser Ansatz allerdings wohl nicht als erfolgreich herausgestellt – das Team um Peter Gmeiner, Professor für Pharmazeutische Chemie an der FAU, hat daher neue Wege beschritten, Analgetika zu finden, die unabhängig vom Opioid-Rezeptor sind.

Konzentration auf die molekularen Strukturen der Rezeptoren

Jetzt haben die Wissenschaftler Ergebnisse im Fachmagazin Science veröffentlicht, in denen sie Wirkstoffe beschreiben, die über den α2A-adrenergenen Rezeptor wirken. Um die neuen Wirkstoffe zu finden, wählten die Wissenschaftler einen ähnlichen Ansatz wie den, der sie zu PZM21 geführt hatte – ausgehend vom gewünschten Ziel suchten sie mit einem bioinformatischen Ansatz am Computer nach passenden Liganden. „Wir konzentrieren uns besonders auf die molekularen Strukturen der Rezeptoren, an die die pharmazeutischen Substanzen andocken“, erklärt Gmeiner. „Nur wenn wir diese auf atomarer Ebene verstehen, können wir effektive und sichere Wirkstoffe entwickeln.“

Für die 2016 veröffentlichte Arbeit scannten die Wissenschaftler damals über 3 Millionen Wirkstoffe aus öffentlich zugänglichen Wirkstoff-Datenbanken. Jetzt suchten sie in einer virtuellen Bibliothek von mehr als 300 Millionen verschiedenen, leicht zugänglichen Molekülen nach Verbindungen, die physikalisch zum Rezeptor passen, chemisch jedoch nicht mit bereits bekannten, dort wirkenden Medikamenten verwandt sind. Denn unter anderem mit Brimonidin (gegen erhöhten Augeninnendruck), Clonidin (gegen Bluthochdruck) oder Dexmedetomidin stehen bereits einige wenige Therapeutika zur Verfügung, die diesen alternativen Weg der Schmerzstillung benutzen. „Dexmedetomidin ist schmerzlindernd, wirkt jedoch auch stark sedierend, weshalb es auf Intensivbehandlungen im Krankenhaus beschränkt und für breitere Patientengruppen nicht geeignet ist“, beschreibt Gmeiner den entscheidenden Nachteil der bekannten Wirkstoffe.

Nach der ersten Filterung: 50 Moleküle aus über 300 Millionen übrig 

50 Moleküle blieben schließlich zunächst übrig, die die Forscher weiter testeten. „Unser virtuelles Screening mit den anschließenden Tests der bestbewerteten Wirkstoffkandidaten führte uns zu vier potenten α2A-adrenergen Agonisten. Ausgehend von diesen vier Verbindungen werden nun Leitstruktur-Optimierungen durchgeführt. Bei der Auswahl spielen die Rezeptoraffinitäts- und -selektivitäts-Profile ebenso eine Rolle wie pharmakokinetische Parameter“, erklärt der Wissenschaftler.

Dabei machen sich die Forscher zunutze, dass beim Binden verschiedener Liganden an den Rezeptor unterschiedliche sogenannte G-Proteine (guanosintriphosphatbindende Proteine, Guanosintriphosphat GTP ist ein Botenstoff in der Signaltransduktion von Zellen) aktiviert werden –  α2A ist damit ein sogenannter G-Protein-gekoppelter Rezeptor.

Ferner spielen sogenannte β-Arrestine dabei eine Rolle, die die Funktion der Rezeptoren und der G-Proteine regulieren. Bei der Auswahl der möglichen Wirkstoffkandidaten war es den Forschenden wichtig, dass nur ein eher enges Spektrum an G-Proteinen und β-Arrestinen aktiviert wird.

Wirkspektrum der Kandidaten ist spezifischer als bei Dexmedetomidin

„Unsere bisherigen Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die analgetische Aktivität in erster Linie über den α2A-Subtyp des adrenergen Rezeptors zustande kommt. Differenzierte funktionelle Studien mit Biosensoren, die die Aktivierung verschiedener G-Proteine oder die Rekrutierung von β-Arrestinen detektieren, zeigen, dass eine funktionelle Selektivität für Gi-, Go- und Gz-artige G-Proteine typisch für unsere Wirkstoffe ist. Das unterscheidet diese von den zugelassenen Arzneistoffen Dexmedetomidin oder Brimonidin, die ein breiteres Spektrum von G-Proteinen aktivieren und zur Rekrutierung von β-Arrestinen führen“, erklärt Gmeiner. Gi, Go und Gz beschreiben dabei verschiedene Subtypen von G-Proteinen nach ihrer Wirkung. Gi sind beispielsweise inhibitorische G-Proteine.

Unter den gefundenen Substanzen seien insbesondere die Wirkstoffe „PS75“ und „‘9087“ vielversprechend, schreiben die Forscher in ihrer Veröffentlichung. Ihre im Computer gefundenen Moleküle synthetisierten die Wissenschaftler anschließend und testeten sie im Tierversuch. Dabei erreichten sie hohe Konzentrationen im Gehirn der Tiere und konnten das Schmerzempfinden deutlich senken. Dazu nutzten die Forscher Verhaltenstests an Mäusen. Ferner zeigte keiner der Wirkstoffe eine sedierende, also einschläfernde Wirkung.

Keine Sedierung im Tierversuch beobachtet, aber andere unerwünschte Wirkungen möglich

„Verschiedene Tests haben bestätigt, dass die Bindung an den Rezeptor ursächlich für die erfolgreiche Analgesie war“, erklärt Gmeiner. „Erfreulich ist besonders, dass keine der neuen Verbindungen eine Sedierung verursachte, selbst bei wesentlich höheren Dosen, als zur Schmerzlinderung erforderlich gewesen wären.“

Außer Sedierung könnten die Wirkstoffe am α2A-Rezeptor allerdings noch weitere unerwünschte Wirkungen zeigen:  „Typisch für die Aktivierung von α2A-Rezeptoren sind Hypotension, Sedierung, Analgesie und Plättchenaggregation“, sagt Gmeiner. „Neben der Sedierung gilt es, auch die Hypotension und die Plättchenaggregation in späteren Studien im Auge zu behalten. Die Untersuchung der Potenz unserer neuen Chemotypen in Tiermodellen, die für unterschiedliche Schmerzformen prädiktiv sind, wird uns zeigen, wie sich die Schmerz-Wirkungsprofile von Opioiden und unseren neuen Chemotypen unterscheiden“, sagt er.

Forscher suchen nach weiteren alternativen Wegen der Schmerzstillung

Von einem anwendbaren, zugelassenen Therapeutikum sei man allerdings noch weit entfernt. „Die Entwicklung neuer Wirkstoffe bis hin zur Zulassung ist ein langwieriger Prozess, bei dem im Anschluss an intensive präklinische Studien verschiedene klinische Phasen durchlaufen werden müssen. Die damit verbundene Forschungs- und Entwicklungstätigkeit dauert im Erfolgsfall mindestens zehn Jahre“, sagt der Professor.

Man rede hier noch von Grundlagenforschung. Allerdings sieht er die Ergebnisse als „einen Meilenstein bei der Entwicklung nicht-opioider Schmerztherapeutika“, da man analgetische und sedierende Wirkung habe trennen können und die neu identifizierten Agonisten vergleichsweise leicht hergestellt und oral verabreicht werden könnten.

Für die Zukunft plant Gmeiner, mit ähnlichen Methoden Agonisten für andere mögliche Wirkziele der Analgesie zu finden. „Neben dem untersuchten α2A-adrenergen Rezeptor und den Opioid-Rezeptoren sind verschiedene weitere G-Protein gekoppelte Rezeptoren in nozizeptive und anti-nozizeptive Prozesse (die Wahrnehmung und ‚Nicht-Wahrnehmung‘ von Schmerzen) involviert. Solche hoffnungsvollen Target-Kandidaten werden wir in zukünftigen Forschungsprojekten in den Fokus nehmen“, sagt der Forscher.


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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