Apothekerschaft schockiert

„Arzneimittel gehören in Apotheken, nicht auf den Flohmarkt“

Berlin - 19.12.2022, 14:30 Uhr

BAK-Präsident Thomas Benkert (b/Foto: ABDA)

BAK-Präsident Thomas Benkert (b/Foto: ABDA)


Der Vorschlag des Bundesärztekammer-Präsidenten, sich über Nachbarschafts-Flohmärkte mit Arzneimitteln auszuhelfen, hat eine Welle der Empörung in der Apothekerschaft ausgelöst. Nicht nur der Präsident der Bundesapothekerkammer, Thomas Benkert, zeigt sich schockiert. Auch in Baden-Württemberg und Westfalen-Lippe will man die Aussagen von Klaus Reinhardt nicht unkommentiert lassen.

Die Äußerungen des Präsidenten der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, im „Tagesspiegel“ sorgen für großen Unmut in der Apothekerschaft. Reinhardt hatte angesichts fehlender Arzneimittel zu Solidarität aufgerufen. Wer gesund sei, müsse vorrätige Arznei an Kranke abgeben. Er sprach von „so was wie Flohmärkte für Medikamente in der Nachbarschaft“ – und dass dafür auch Arzneimittel infrage kämen, deren Haltbarkeitsdatum bereits einige Monate abgelaufen sei.

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Der Präsident der Bundesapothekerkammer, Thomas Benkert, erklärte daraufhin, er sei schockiert, dass der Präsident der Bundesärztekammer Derartiges öffentlich vorschlage. „Arzneimittel gehören in Apotheken, nicht auf den Flohmarkt – schon gar keine abgelaufenen Arzneimittel“, betont Benkert. Verfallene Arzneimittel könnten die Gesundheit der Patientinnen und Patienten massiv gefährden. Auch stellten sich in einem solchen Fall haftungsrechtliche Fragen. Und nicht zuletzt stehe die Gesetzeslage dem klar entgegen. 

Die aktuelle Situation, so Benkert, eigne sich nicht für Populismus. Reinhardts Vorschlag gehe völlig an der Realität vorbei. „Die Apotheken stehen aktuell unter enormem Druck, das Fehlen von lebenswichtigen Arzneimitteln zu managen. Es wäre wünschenswert, wenn sich auch Repräsentanten der Ärzteschaft verantwortungsvoll an Lösungsansätzen beteiligen würden.“

LAK und LAV Baden-Württemberg: verfehlt und verantwortungslos

Auch der Präsident der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg (LAK), Martin Braun, hält Reinhardts Vorschläge für vollkommen verfehlt. „Arzneimittel werden aus gutem Grund von Ärzten verschrieben und von Apotheken an die Patienten abgegeben. Arzneimittelsicherheit und Patientenwohl gehen vor – unkontrollierbare Distributionswege, die Arzneimittelfälscher auf den Plan rufen, stehen dem diametral entgegen.“ Wenn sich Menschen nun auch noch versehentlich falsche oder bereits verfallene Arzneimittel auf einem Arzneimittel-Flohmarkt besorgen, müsse man mit noch mehr Krankenhauseinweisungen rechnen, da es im Ernstfall zu schweren Intoxikationen kommen könne. 

Braun betont aber auch, dass Apotheken vor Ort im Austausch mit den Ärzten in der Regel Alternativen fänden. Die Sonderregeln bei der Arzneimittelversorgung während der Coronapandemie sieht er als Blaupause für eine patientenorientierte Lösung: „In der akuten Phase der Pandemie war es schon einmal möglich, die strengen bürokratischen Auflagen, die bei der Arzneimittelversorgung gelten, zu lockern. Dieses beherzte Handeln muss auch angesichts der derzeitigen Probleme möglich sein.“

Zambo: „Fahrlässig, verantwortungslos und heilberuflich nicht zu vertreten“

Tatjana Zambo, Präsidentin des Landesapothekerverbands Baden-Württemberg, will Reinhardts Aussagen ebenfalls so nicht stehen lassen: „Ein solcher Vorschlag ist fahrlässig, verantwortungslos und heilberuflich nicht zu vertreten“, betont sie in einer Pressemitteilung des Verbands. Selbstverständlich sei die Situation der Lieferengpässe bei einem gleichzeitig hohen Krankenstand besorgniserregend, räumt sie ein. „Dass man allerdings auf so eine absurde Idee kommt, dass die Menschen nun die in den Haushalten gelagerte Medikamente ohne jedweden fachlichen Rat munter fröhlich miteinander tauschen sollen, grenzt schon fast an Absurdität. Das gilt umso mehr, wenn dieser Vorschlag von einem Arzt kommt und noch dazu von einer durch sein Amt so herausgestellten Persönlichkeit.“ 

Mit der Idee, bereits abgelaufene Medikamente einzubeziehen, trete der BÄK-Präsident „die wichtige Errungenschaft der Arzneimittelsicherheit und gleichzeitig das Patientenwohl mit Füßen“, so Zambo weiter. Ihr sei auch kein Fall bekannt, bei dem in Arztpraxen abgelaufene Medikamente im Sprechstundenbedarf eingesetzt würden. Zambo fordert die Bundesärztekammer und die weiteren ärztlichen Standesvertretungen auf, sich unverzüglich von diesen Vorschlägen zu distanzieren.

Ein Sprecher der Bundesärztekammer erklärte auf Nachfrage der DAZ, ob man die Aussagen Reinhardts relativieren wolle, dass Präsident Klaus Reinhardt pointiert auf die derzeit angespannte Versorgungslage mit Arzneimitteln habe aufmerksam machen wollen. „Vor dem Hintergrund der aktuellen Infektionswelle und der daraus mitverursachten Arzneimittelknappheit sollten sich Menschen im Familien- und Freundeskreis mit nicht verschreibungspflichtigen, originalverpackten Arzneimitteln aushelfen. Selbstverständlich ist damit kein ‚Flohmarkt‘ im wörtlichen Sinne gemeint, sondern ein Akt der Solidarität der Gesunden mit ihren erkrankten Mitmenschen. Solche Formen der Nachbarschaftshilfe sollten in schwierigen Zeiten eine Selbstverständlichkeit sein.“

Auch Ursula Funke, Präsidentin der Landesapothekerkammer Hessen, warnt: „Zwar haben wir derzeit in Deutschland ganz massive Lieferengpässe bei Arzneimitteln, aber ein Tausch in der Nachbarschaft, wie er vom Präsidenten der Bundesärztekammer empfohlen wird, ist aus heilberuflicher Sicht verantwortungslos und kann für den einzelnen Patienten gefährlich enden. Lassen Sie die Finger davon!“ Ein Arzneimittel, das für die Freundin hervorragend geeignet sei, könne einem selbst unter Umständen schaden, betont Funke. Daher würden Arzneimittel individuell vom Arzt verordnet oder in der Apotheke im Beratungsgespräch ausgesucht und empfohlen. Funke weist überdies darauf hin, dass die Wirksamkeit nicht sachgerecht gelagerter Arzneimittel bereits vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums beeinträchtigt werden könne.

AVWL-Chef Rochell: Offenbarungseid des Gesundheitssystems

Für Thomas Rochell, Vorstandsvorsitzender des Apothekerverbands Westfalen-Lippe (AVWL), ist der Vorschlag des obersten Vertreters der Ärzteschaft „der Offenbarungseid des deutschen Gesundheitssystems“. Er mahnt ebenfalls: „Je nach Vorerkrankung kann die Einnahme eines Mittels gesundheitliche Risiken haben. Auch können problematische Wechselwirkungen mit anderen Substanzen auftreten. Ohne eine vernünftige Beratung dürfen Arzneimittel daher nicht eingenommen werden.“ 

Nicht auszudenken sei, wenn auf solchen Flohmärkten sogar Antibiotika getauscht würden. Abgesehen vom Risiko, dass lebensgefährliche Resistenzen entstehen könnten, bestehe gerade bei Penicillinen ein hohes Allergiepotenzial. Er verweist auch darauf, dass Säfte nach Anbruch nur verkürzt haltbar seien. Danach könnten sich gefährliche Keime entwickeln – und niemand könne wissen, wann der ursprüngliche Besitzer die Flasche geöffnet habe.

Kein Verständnis für verständnislose GKV-Chefin

Rochell ging zudem auf eine Äußerung der Vorsitzenden des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer, ein. Diese hatte am vergangenen Freitag darauf hingewiesen, dass im Spätsommer kurzfristig Maßnahmen vereinbart worden seien, um die Versorgung mit Fiebersäften sicherzustellen, wenn diese nicht verfügbar sind: „Apotheken können Fiebersäfte im Rahmen einer Rezeptur selbst anfertigen und bekommen das bezahlt.“ Dem fügte sie hinzu: „Kein Verständnis haben wir, wenn in dieser angespannten Lage für diese ureigene Aufgabe der Apotheken nach zusätzlichem Geld gerufen wird.“ 

Letztere Aussage ist für Rochell schlichte eine „Zumutung“. Er betont: „Wir würden sehr, sehr gern unserer ureigenen Aufgabe nachkommen: die Patienten bestmöglich zu versorgen und zu beraten. Stattdessen müssen wir zusammen mit den Patienten ausbaden, was die gesetzlichen Krankenversicherungen in den vergangenen Jahren durch ihre Rabattverträge angerichtet haben.“ Denn diese Rabattverträge und der hohe Kostendruck seien die Ursache für die Lieferengpässe.

GKV: Pharmaunternehmen kommen ihren Verpflichtungen nicht nach

Das wiederum sieht die GKV bekanntlich anders: „Der Vorwurf, die Krankenkassen seien schuld an Lieferengpässen, ist eine fadenscheinige Ausrede, wenn pharmazeutische Unternehmen eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht nachkommen. Wenn ein Unternehmen einen Vertrag abschließt, später seinen vertraglich vereinbarten Verpflichtungen nicht nachkommt und dann mit dem Finger auf die Krankenkassen zeigt, dann ist das eine Verdrehung der Tatsachen“, sagte Pfeiffer ebenfalls vergangene Woche.

Fakt ist: Die Lage ist für viele Patientinnen und Patienten, insbesondere die jüngsten und deren Eltern, sowie die Apotheken kurz vor Weihnachten so angespannt wie wohl noch nie zuvor. Die Erwartungen an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der diese Woche einen Gesetzentwurf zur Vermeidung von Engpässen vorlegen will, sind hoch.


Kirsten Sucker-Sket (ks), Redakteurin Hauptstadtbüro
ksucker@daz.online


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