Auch Ursula Funke, Präsidentin der Landesapothekerkammer Hessen, warnt: „Zwar haben wir derzeit in Deutschland ganz massive Lieferengpässe bei Arzneimitteln, aber ein Tausch in der Nachbarschaft, wie er vom Präsidenten der Bundesärztekammer empfohlen wird, ist aus heilberuflicher Sicht verantwortungslos und kann für den einzelnen Patienten gefährlich enden. Lassen Sie die Finger davon!“ Ein Arzneimittel, das für die Freundin hervorragend geeignet sei, könne einem selbst unter Umständen schaden, betont Funke. Daher würden Arzneimittel individuell vom Arzt verordnet oder in der Apotheke im Beratungsgespräch ausgesucht und empfohlen. Funke weist überdies darauf hin, dass die Wirksamkeit nicht sachgerecht gelagerter Arzneimittel bereits vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums beeinträchtigt werden könne.
AVWL-Chef Rochell: Offenbarungseid des Gesundheitssystems
Für Thomas Rochell, Vorstandsvorsitzender des Apothekerverbands Westfalen-Lippe (AVWL), ist der Vorschlag des obersten Vertreters der Ärzteschaft „der Offenbarungseid des deutschen Gesundheitssystems“. Er mahnt ebenfalls: „Je nach Vorerkrankung kann die Einnahme eines Mittels gesundheitliche Risiken haben. Auch können problematische Wechselwirkungen mit anderen Substanzen auftreten. Ohne eine vernünftige Beratung dürfen Arzneimittel daher nicht eingenommen werden.“
Nicht auszudenken sei, wenn auf solchen Flohmärkten sogar Antibiotika getauscht würden. Abgesehen vom Risiko, dass lebensgefährliche Resistenzen entstehen könnten, bestehe gerade bei Penicillinen ein hohes Allergiepotenzial. Er verweist auch darauf, dass Säfte nach Anbruch nur verkürzt haltbar seien. Danach könnten sich gefährliche Keime entwickeln – und niemand könne wissen, wann der ursprüngliche Besitzer die Flasche geöffnet habe.
Kein Verständnis für verständnislose GKV-Chefin
Rochell ging zudem auf eine Äußerung der Vorsitzenden des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer, ein. Diese hatte am vergangenen Freitag darauf hingewiesen, dass im Spätsommer kurzfristig Maßnahmen vereinbart worden seien, um die Versorgung mit Fiebersäften sicherzustellen, wenn diese nicht verfügbar sind: „Apotheken können Fiebersäfte im Rahmen einer Rezeptur selbst anfertigen und bekommen das bezahlt.“ Dem fügte sie hinzu: „Kein Verständnis haben wir, wenn in dieser angespannten Lage für diese ureigene Aufgabe der Apotheken nach zusätzlichem Geld gerufen wird.“
Letztere Aussage ist für Rochell schlichte eine „Zumutung“. Er betont: „Wir würden sehr, sehr gern unserer ureigenen Aufgabe nachkommen: die Patienten bestmöglich zu versorgen und zu beraten. Stattdessen müssen wir zusammen mit den Patienten ausbaden, was die gesetzlichen Krankenversicherungen in den vergangenen Jahren durch ihre Rabattverträge angerichtet haben.“ Denn diese Rabattverträge und der hohe Kostendruck seien die Ursache für die Lieferengpässe.
GKV: Pharmaunternehmen kommen ihren Verpflichtungen nicht nach
Das wiederum sieht die GKV bekanntlich anders: „Der Vorwurf, die Krankenkassen seien schuld an Lieferengpässen, ist eine fadenscheinige Ausrede, wenn pharmazeutische Unternehmen eingegangenen Lieferverpflichtungen nicht nachkommen. Wenn ein Unternehmen einen Vertrag abschließt, später seinen vertraglich vereinbarten Verpflichtungen nicht nachkommt und dann mit dem Finger auf die Krankenkassen zeigt, dann ist das eine Verdrehung der Tatsachen“, sagte Pfeiffer ebenfalls vergangene Woche.
Fakt ist: Die Lage ist für viele Patientinnen und Patienten, insbesondere die jüngsten und deren Eltern, sowie die Apotheken kurz vor Weihnachten so angespannt wie wohl noch nie zuvor. Die Erwartungen an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der diese Woche einen Gesetzentwurf zur Vermeidung von Engpässen vorlegen will, sind hoch.
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.