Alternative zum Mausmodell

Schmetterlingsraupen für die Erforschung von Darmerkrankungen

Düsseldorf - 22.12.2022, 09:15 Uhr

Eine Raupe des Tabakschwärmers, Manduca sexta. Dank ihrer Größe sind sie für die Erforschung entzündlicher Darmerkrankungen geeignet. (s / Foto: Ernie Cooper / AdobeStock) 

Eine Raupe des Tabakschwärmers, Manduca sexta. Dank ihrer Größe sind sie für die Erforschung entzündlicher Darmerkrankungen geeignet. (s / Foto: Ernie Cooper / AdobeStock) 


Die Schmetterlingsraupe könnte in bestimmten Fällen eine Alternative zum Mausmodell werden. Die Larven des Tabakschwärmers könnten als Modellorganismus für menschliche Erkrankungen genutzt werden, da unter anderem rund 75 Prozent der Gene, die für Erkrankungen bei Menschen sorgen, auch bei den Insekten vorhanden sind, berichtet jetzt ein Team der Justus-Liebig-Universität Gießen in einem Fachartikel.

Wenn bis zu sieben Zentimeter lange grüne Raupen mit hellen Streifen über ein Tabakfeld herfallen und auch vor Tomaten, Auberginen und Paprika nicht haltmachen, ist das wahrscheinlich eine mittlere Katastrophe für Landwirte, die diese Pflanzen anbauen – und sicherlich auch ein geradezu erschreckender Anblick. Dieses für Schmetterlingslarven doch recht enorme Ausmaß, mit einem entsprechenden Maß an Verfressenheit und Schadenspotenzial, haben die Raupen des Tabakschwärmers, eines durchaus als Schädling geltenden Nachtfalters, der in weiten Teilen Nord- und Südamerikas verbreitet ist.

Die enorme Größe seiner Raupen macht Manduca sexta aber auch für die Wissenschaft interessant – nicht nur für Insektenkundler. So gelten Falter und Raupen bereits seit langem als Modellorganismus und gutes Anschauungs- und Forschungsobjekt in der Neurobiologie. Einfach zu züchten und mit gut präparierbaren Organen ausgestattet, lässt sich an ihnen gut zum Nervensystem forschen.

Ein Team um den Biologen Dr. Anton Windfelder vom Institutsteil Bioressourcen des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME in Gießen und der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) hat die Forschungsmöglichkeiten mit den Schwärmerraupen jetzt deutlich erweitert. Im Fachjournal Nature Communications veröffentlichte es nun seine Arbeit, in der es beschreibt, wie sich Manduca sexta als Plattform-Tiermodell für die Erforschung von Wirt-Mikroben-Interaktionen und Immunreaktionen des Magen-Darm-Systems nutzen lässt.

Schneller, kostengünstiger und ethischer

Dabei sehen die Forscher die großen, leicht züchtbaren Raupen als möglichen Ersatz für Tierversuche mit Mäusen und Ratten. Die Larven des Tabakschwärmers könnten als Modellorganismus für menschliche Erkrankungen genutzt werden, da unter anderem rund 75 Prozent der Gene, die für Erkrankungen bei Menschen sorgen, auch bei den Insekten vorhanden sind – und weil die Forschung an den Raupen schneller, kostengünstiger und weniger ethisch problematisch sei als die an Säugetieren, heißt es von den Forschern.

Beispiel chronisch-entzündliche Darmerkrankungen

In ihrer Arbeit untersuchten Windfelder und sein Team beispielhaft chronisch-entzündliche Darmerkrankungen an den Tieren. Die angeborene Immunantwort des Darms sowie die Struktur des Darmepithels seien zwischen Säugetieren und Insekten stark konserviert, erklären die Forscher. „Im Unterschied zu anderen Insekten wie etwa der Taufliege Drosophila sind die Raupen des Tabakschwärmers jedoch groß genug für die medizinische Bildgebung“, erklärt Windfelder einen Vorteil gerade der Manduca-Larven. „Entzündungen des Magen-Darmtrakts gehören zu den häufigsten Erkrankungen weltweit und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie beispielsweise Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa sind global auf dem Vormarsch“, sagt er über die mögliche Relevanz des Modells in der Forschung.

Auf einen weiteren deutlichen Vorteil machen die Forscher bereits im Titel ihrer Veröffentlichung aufmerksam. „High-throughput screening of caterpillars as a platform to study host–microbe interactions and enteric immunity“, haben sie das Paper getitelt – ein Hinweis darauf, dass sich viele Organismen in kurzer Zeit untersuchen lassen. In der Computertomografie könnten bis zu 100 Tiere in wenigen Sekunden untersucht werden, wobei anders als bei traditionellen molekularbiologischen oder histologischen Methoden die Tiere Narkose und Bildgebung sehr gut überstehen – und danach weiter leben und weiter untersucht werden können.

Neues Bildgebungsmodell für das Raupen-Tiermodell etabliert

Um die Vorgänge in den Darmtrakten der Tiere gut darstellen zu können, entwickelten die Fraunhofer-Forscher gemeinsam mit Partnern unter anderem der Uni Düsseldorf, aus Ludwigshafen und aus New York eine ganz neue Bildgebungsplattform. „Wir nutzen bildgebende Verfahren aus der Radiologie und Nuklearmedizin und können mittels Computertomografie (CT), Magnetresonanztomografie (MRT) und Positronen-Emissions-Tomografie (PET) eine Entzündung im Darm der Tiere zielgenau diagnostizieren“, sagt die Medizin-Professorin Gabriele Krombach, Direktorin der Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie des Universitätsklinikums Gießen, die am Projekt beteiligt war.

Analog zum Menschen diagnostizierten die Forscher die Darmentzündungen, die sie auf verschiedenen Wegen chemisch und mit Bakterien induzierten, mit Kontrastmitteln und speziellen Markern wie F-Desoxy-Glukose. Die Forscher konnten auch zeigen, dass Medikamente wie Cortison auch bei den Larven des Tabakschwärmers eine deutliche Reduzierung der Entzündung bewirken.

Diese so entwickelte Hochdurchsatz-Plattform könne für die In-vivo-Erprobung neuer Kontrastmittel und Tracer in der Radiologie und Nuklearmedizin zur Detektion von Entzündungen, für die Charakterisierung der gastrointestinalen Pathogenität von Mikroorganismen und für die Erprobung neuer antimikrobieller oder entzündungshemmender Medikamente genutzt werden, erklärt Windfelder.

Raupen-Modell als sinnvolle Ergänzung zu Zellkultur, Säuger-Modell und klinischer Studie

„Die von uns entwickelte Imaging-Plattform ist in der frühen präklinischen Forschung ein ‚game changer‘“, sagt Windfelder. Bisher habe es den Dreiklang aus Ex-vivo-Zellkultur, Experimenten mit Säugetieren wie Mäusen und dann schließlich klinische Studien mit Patienten gegeben, sagt er. „Das größte Problem bei diesem Ablauf ist, dass er extrem zeitaufwendig und teuer ist. Erkenntnisse, die man in der Ex-vivo-Zellkultur gewonnen hat, lassen sich oft nicht im murinen In-vivo-Modell reproduzieren. Dies bedeutet, dass oft Jahre der präklinischen Forschung mit teils enormen finanziellen Mittel keine Erkenntnisse liefern, die in der Klinik ankommen. Deshalb möchten wir aus dem etablierten Dreiklang einen Vierklang machen“, sagt der Biologe.

Wenn man mit einer quantitativen Hochdurchsatz-Bildgebungsplattform die Erkenntnisse aus Zellkultur-Experimenten überprüfen würde, könne man die Flut an vielversprechenden Wirkstoffen signifikant eingrenzen, sagt er. „So kann gewährleistet werden, dass nur Wirkstoffe das murine (murin = Mäuse oder Ratten betreffend) Modell erreichen, die auch wirklich einen In-vivo-Effekt haben. Das von uns in Kollaboration mit Frank Müller von der Radiologie Ludwigshafen und Professor Ulrich Flögel vom Institut für Molekulare Kardiologie der Uni Düsseldorf entwickelte System ist einfach und kostengünstig, da es global schon vorhandene Infrastruktur wie MRT-/CT- und PET-Scanner nutzt.“

Die Kosten der Haltung der Tabakschwärmerlarven sei um mehrere Größenordnungen geringer als die von traditionellen Kleinsäugern wie Ratten und Mäusen. „Zusätzlich ist unsere Methode im Einklang mit dem 3R-Prinzip (Replace, Reduce, Refine). Gemäß dem 3R-Prinzip versucht man aus ethischen Gründen Experimente an Wirbeltieren so weit wie möglich zu vermeiden, zu reduzieren oder durch (Wirbellose-) Alternativen zu ersetzen“, erläutert der Forscher.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten über Darmerkrankungen hinaus denkbar

Über Darmerkrankungen hinaus gebe auch weitere Anwendungsmöglichkeiten für das Raupen-Tiermodell, sagt die Insektenimmunologin Professor Tina Trenczek vom Zoologischen Institut der Justus-Liebig-Universität, die federführend an der Studie beteiligt war. „Vor allem bei Prozessen, bei welchen Moleküle beziehungsweise molekulare Netzwerke beteiligt sind, die im Laufe der Evolution relativ konserviert blieben, das heißt, nur gering verändert wurden. Vorstellen kann ich mir dies bei Adhäsionsvorgängen entzündlicher Prozesse unter anderem beim Eicosanoid-Stoffwechsel oder auch bei Koagulationsprozessen, da hier offensichtlich einige Moleküle relativ stark konserviert sind, wie etwa der Clotting Faktor XIIIa der Säuger und Transglutaminasen bei Insekten oder der Von-Willebrand-Faktor bei Säugern und Hemolectin bei Insekten“, sagt die Wissenschaftlerin.

„Wir zeigen in unserer Publikation, dass man eine Darmentzündung als Phänotyp mittels MRT, CT und PET quantifizieren kann. Die naheliegendste Anwendung sind Entzündungen in anderen Organen oder Geweben wie zum Beispiel dem Fettkörper analog der Leber, des Tracheensystems analog der Lunge oder des zentralen Nervensystems. Letztlich können alle Erkrankungen in unserem Modell studiert werden, die eine nekrotische und/oder entzündliche Läsion verursachen. Hierunter fallen zum Beispiel auch viele virale, bakterielle oder parasitäre Infektionen. Dies ist besonders für die pharmazeutische Forschung interessant: Das Modell kann genutzt werden, um viele anti-inflammatorische Wirkstoffkandidaten in kurzer Zeit und mit wenig Aufwand in vivo zu screenen“, sagt sie.

Natürlich gebe es auch Grenzen. „Die Grenzen des Raupen-Tiermodells liegen in den grundsätzlichen Unterschieden der Zell- und Organsysteme von Insekten und Säugern. Während das angeborene Immunsystem und Entzündungsvorgänge bei beiden Organismengruppen in vielen Aspekten wie Molekülen und Prozessen vergleichbar sind, können Rückschlüsse über das Wirbeltier-typische B- und T-zellbasierte adaptive Immunsystem von den Ergebnissen aus Untersuchungen mit Insekten nicht gezogen werden, schlicht weil sie dieses Abwehrsystem nicht besitzen. Ebenso können Aussagen über Atmungsvorgänge in der Lunge der Säuger nicht am Raupenmodell untersucht werden, da sie über ein anderes Atmungssystem – über ‚Röhren‘ – verfügen. Es ist jedoch vorstellbar, dass beispielsweise zelluläre Entzündungsphänomene am Lungenepithel modellhaft an inneren Epithelien der Insekten, vor allem pharmakologische Wechselwirkung, analysiert werden können, sofern der Nachweis der entsprechenden daran beteiligten Moleküle erfolgt ist.“

Kein vollständiger Ersatz für Maus-Versuche, aber sinnvolle Ergänzung

Noch gebe es Luft, einige Prozesse noch zu optimieren. „Es wäre gut, wenn die gesamte Auswertung vollständig automatisiert werden würde. Die Auswertung der CT-, MRT- und PET-Daten ist momentan noch sehr arbeitsaufwendig. Wir denken aber bereits über Automation nach. Die simple Anatomie des Darms der Tabakschwärmerlarven eignet sich bestens für solche Anwendungen“, sagt Windfelder. Als Nächstes arbeite man an mehreren spannenden Projekten, bei den man das Raupenmodell nutze, etwa um neue MRT-Kontrastmittel zu testen. „Über Details kann ich leider erst sprechen, wenn die Daten veröffentlicht sind“, sagt der Forscher.

Natürlich könnten Insekten Mäuse und Ratten nicht vollständig ersetzen, sagt der ebenfalls beteilige Zoologe Professor Andreas Vilcinskas, Leiter des Fraunhofer IME und des Instituts für Insektenbiotechnologie an der JLU. „Erkenntnisse aus der Zellkultur lassen sich oft nicht im lebenden Tier reproduzieren. Genau hier könnten Versuche mit Insekten wie dem Tabakschwärmer weiterhelfen, um vielversprechende neue Wirkstoffe und Therapien auszuwählen, die dann in traditionellen Modellen weiter evaluiert werden.“


Volker Budinger, Diplom-Biologe, freier Journalist
redaktion@daz.online


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