Rückblick von DAZ-Chefredakteurin Julia Borsch

Meine Themen des Jahres – Corona-Impfstoffe, Paxlovid und ein neuer OTC-Hustenblocker

29.12.2022, 07:00 Uhr

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. (Fotoquellen: Michael Gsettenbauer, NTB/Imago; Quimbo, Voy_ager,Quickshooting, Racle Fotodesign/ Adobestock)

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. (Fotoquellen: Michael Gsettenbauer, NTB/Imago; Quimbo, Voy_ager,Quickshooting, Racle Fotodesign/ Adobestock)


Welche Themen haben die Apotheker:innen 2022 besonders beschäftigt? Vier DAZ-Redakteurinnen und -Redakteure haben sich darüber Gedanken gemacht und präsentieren Ihnen ihre ganz persönlichen Themen des Jahres. Heute ist DAZ-Chefredakteurin Julia Borsch an der Reihe. Es geht unter anderem um Corona-Impfstoffe, Levodropropizin und die Rückkehr zu apothekerlichen Kernaufgaben.

1. Corona-Impfstoffe – die nächste Generation

Die Impfstoffe gegen COVID-19 waren auch im Jahr 2022 ein großes Thema. Da waren auf der einen Seite die an die Omikron-Variante angepassten mRNA-Impfstoffe. Untersuchungen hatten gezeigt, dass die bisherigen Impfstoffe gegen den Wildtyp vor der Omikron-Variante nicht so gut schützen wie vor Delta. Drei Monate nach der dritten Immunisierung waren nur noch ein Viertel der gegen Omikron wirksamen neutralisierenden Antikörper vorhanden. Und so begannen die Hersteller adaptierte Vakzine zu entwickeln, zunächst gegen BA.1 und später auch gegen BA.4/5. Mittlerweile werden zur Auffrischung mit mRNA-Vakzinen auch nur noch diese empfohlen. Dazu kam die Erweiterung der Zulassung der Wildtyp-Varianten von Comirnaty und Spikevax für die Allerkleinsten. Für Säuglinge und Kleinkinder mit erhöhtem Risiko wird die Impfung nun empfohlen.

Außerdem war 2022 das Jahr der alternativen Impfstoffe, also der Impfstoffe, die nicht auf der mRNA-Technologie basieren, gaben doch viele Menschen Vorbehalte gegenüber diesem neuen Prinzip als Grund an, sich nicht impfen zu lassen. Gleich mit drei Präparaten wartete die forschende Pharmaindustrie in Europa auf:

In Kanada wurde darüber hinaus eine „pflanzliche Alternative“ zu den bekannten COVID-19-Impfstoffen zugelassen: Covifenz enthält als Impfantigen rekombinant hergestelltes SARS-CoV-2-Spike-Glycoprotein, für dessen Erzeugung Zellen der Pflanze Nicotiana benthamiana genutzt werden.

Die Hoffnung, dass die neuen Impfstoffe der ins Stocken geratenen Impfkampagne nochmals einen Schub verleihen könnten, erfüllte sich jedoch nicht. Offenbar war die angebliche Skepsis gegenüber der „experimentellen“ mRNA-Technologie nur ein vorgeschobener Grund, sich nicht impfen zu lassen. Die Emotionalität und Unsachlichkeit, mit der die Debatte über die Coronaimpfung vereinzelt geführt wurde, ließ auf jeden Fall auch im Jahr 2022 nicht nach.

2. Paxlovid: Vom Hoffnungsträger zum Ladenhüter

Neben der Impfung gegen COVID-19 wird seit Anbeginn der Pandemie daran gearbeitet, einen Weg zu finden, Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, vor schweren Verläufen zu schützen. Einer der Hoffnungsträger: Paxlovid. Die Kombination aus dem oralen 3CL-Protease-Inhibitor Nirmatrelvir und dem Booster-Wirkstoff Ritonavir, der den Abbau von Nirmatrelvir verlangsamt, konnte in den klinischen Studien bei infizierten Personen – mit hohem Risiko für schwere Krankheitsverläufe – Klinikeinweisungen und Todesfälle signifikant stärker verhindern als Placebo. Wenn es innerhalb der ersten fünf Tage nach Symptombeginn eingesetzt wurde, bezifferten Wissenschaftler die Risikoreduktion auf bis zu 90 Prozent. Das Konkurrenzpräparat Lagevrio konnte mit nur 30 Prozent nicht mithalten. Die Bundesregierung hatte beim Paxlovid-Hersteller Pfizer zu Beginn des Jahres eine Million Einheiten gekauft.

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Paxlovid hat allerdings auch einen entscheidenden Nachteil: Ritonavir hemmt nicht nur den Abbau von Nirmatrelvir, sondern auch den von anderen Arzneistoffen, die durch CYP3A-Enzyme metabolisiert werden, sodass Plasmakonzentrationen im toxischen Bereich entstehen können. Da Patienten mit einem hohen Risiko für schwere Verläufe meist auch viele andere Arzneimittel einnehmen, hat dieses hohe Interaktionspotenzial klinische Relevanz und könnte letztlich mit ein Grund gewesen sein, warum das Mittel von den Ärzten nur zögerlich verordnet wurde. 

Später kamen dann auch noch Berichte über ein sogenanntes Rebound-Phänomen dazu, bei dem es innerhalb von zwei bis acht Tagen nach der fünftägigen Behandlung zum erneuten Auftreten von milden COVID-19-Symptomen oder erneutem positivem Test kam. Paxlovid avancierte zum Ladenhüter, den Packungen drohte der Verfall. Hersteller Pfizer lieferte zum Glück noch rechtzeitig die Ergebnisse seiner Stabilitätsstudien an die EMA, sodass die Laufzeit von 12 auf 18 Monate verlängert werden konnte

Nachdem man den Praxen das Dispensierrecht sowie eine Extra-Vergütung eingeräumt hatte, gingen die Bestellzahlen dann tatsächlich nach oben – bei gleichbleibendem Interaktionspotenzial. So richtig breit wurde Paxlovid jedoch nie eingesetzt. Zumindest einem Teil der Packungen, die von der Bundesregierung angeschafft wurden, könnte dann doch noch die Vernichtung drohen. Die verlängerte Laufzeit hätte somit lediglich einen Aufschub gebracht. Allerdings wies die Emergency Taskforce der EMA kürzlich darauf hin, dass die gegen COVID-19 zugelassenen monoklonalen Antikörper gegen aktuell und künftig zirkulierende SARS-CoV-2-Varianten vermutlich nicht mehr viel ausrichten können – vor allem, wenn die Omikron-Stämme BQ.1 und BQ.1.1 bald vorherrschen werden. Umso wichtiger sei es jetzt, für gefährdete Gruppen den Zugang unter anderem zu Paxlovid (Nirmatrelvir / Ritonavir) sicherzustellen. Zudem bestätigte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen im Oktober den Nutzen von Paxlovid  – vor allem für Ungeimpfte. Vielleicht geht also doch noch was. 

3. Ein Mittel, das Alzheimer stoppt? Vergiss es!

An der Suche nach einem Alzheimer-Mittel, das nicht nur wie die aktuell verfügbaren Wirkstoffe das Fortschreiten etwas verlangsamen, sondern die Erkrankung wirklich stoppen bzw. heilen kann, verzweifelt die Pharmaindustrie seit Jahrzehnten. Viele Hersteller haben das Handtuch geworfen und sich aus der Alzheimerforschung ganz zurückgezogen, um ihre Forschungsgelder in erfolgversprechendere Projekte zu stecken. In die Reihe der vielen Rückschläge auf diesem Gebiet fügte sich 2022 auch der Antikörper Aducanumab ein, der an die Beta-Amyloid-Ablagerungen bindet und so deren Abbau bewirken soll. Er war trotz umstrittener Wirksamkeitsnachweise 2021 im Frühjahr in den USA zugelassen worden. In Europa kam es im Dezember 2021 hingegen nicht einmal zu einer Zulassungs­empfehlung durch den Ausschuss für Humanarzneimittel CHMP der Europäischen Arzneimittel-Agentur.

Nachdem der US-Versicherer Medicare Anfang des Jahres verkündet hatte, die Kostenerstattung für den Antikörper stark einzuschränken, gab Biogen etwas später bekannt, die Vermarktung des Alzheimer-Mittels nahezu komplett einzustellen und nur noch minimale Ressourcen bereitzustellen, unter anderem für die Fortsetzung der EMBARK-Studie zur Dosierung und die Phase-IV-Post-Marketing-­Studie. In Europa hatte Biogen den Zulassungsantrag trotz erneutem Begutachtungsprozess zurückgezogen.

Ein weiterer Antikörper, der in Studien zum Frühstadium der Alzheimer-Erkrankung auch nicht überzeugen konnte, ist Gantenerumab. Wie der Hersteller Roche mitteilte, wurde der primäre Endpunkt, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen, in den beiden Phase-III-Studien GRADUATE I und II nicht erreicht. 

Ende des Jahres gab es dann doch noch einen Lichtblick: mit einem weiteren Antikörper namens Lecanemab. Er gehört zwar wie zwei der bisher untersuchten und eher enttäuschenden monoklonalen Antikörper Aducanumab und Ganterenumab zu den Anti-Amyloid-Antikörpern. Allerdings unterscheiden sich die konkreten Zielstrukturen, was wohl zu besseren Ergebnissen bei Lecanemab geführt hat. Lecanemab konnte im Vergleich zu Placebo den Abbau kognitiver Funktionen um 27 Prozent verringern. Das bedeutet, dass der Krankheitsverlauf durch den Antikörper verzögert werden konnte. Eine Wiederherstellung von verlorenen Funktionen kann damit aber nicht erreicht werden. Getestet wurde der Antikörper nur mit Patienten im Frühstadium der Erkrankung. Diese Patientengruppe kann von Lecanemab profitieren. Für Patienten mit fortgeschrittener Alzheimer-Erkrankung gilt dies nicht.

Immerhin sprach die Deutsche Gesellschaft für Neuro­logie in einer Pressemitteilung vom 30. November 2022, in der sie Stellung zu den Studienergebnissen zu Lecanemab nahm, von einem möglichen Meilenstein in der Alzheimer-Therapie. Sie verweist aber eben auch auf die Tatsache, dass der Antikörper nur im Frühstadium wirkt und nichts rückgängig machen kann. Somit ist auch 2022 nicht das Jahr, in dem der Durchbruch in der Alzheimer-Therapie gelungen ist.

4. Ein neuer Hustenblocker in der Selbstmedikation

Hustenblocker sind ein schönes Beispiel dafür, wie evidenzbasierte Therapie und Lebensrealität auseinanderdriften. Während sich in den offiziellen Therapieempfehlungen unisono gegen den Einsatz der Antitussiva ausgesprochen wird, unter anderem weil sie in Studien gegenüber Placebo keine Überlegenheit zeigen konnten, kennt doch jeder Hustengeplagte den dringenden Wunsch, nach mehreren schlaflosen Nächten irgendwas zu tun. Da auch für verschreibungspflichtige Antitussiva die Kosten vom Patienten getragen werden müssen – dem Verordnungsausschluss für Therapeutika für banale Erkrankungen sei Dank –, liegt ein Therapieversuch in der Selbstmedikation nahe. Seit dem Sommer steht mit Levodropropizin in den Apotheken nun neben Dextromethorphan und Pentoxyverin eine weitere Option auch ohne Arztbesuch zur Verfügung. 

Bereits im Juli 2021 hatte der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht beim BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) empfohlen, den antitussiven Wirkstoff auch der Selbstmedikation zugänglich zu machen. Die Levodropropizin-haltigen Arzneimittel Quimbo Sirup und Quimbo Tropfen waren bis dato nur auf Rezept zu haben. Nach Zustimmung des Bundesrats im Februar 2022 trat am 1. März die geänderte Arzneimittelverschreibungsverordnung in Kraft. Im Sommer brachte Pädia dann Quimbo in OTC-Aufmachung auf den Markt.

In der Selbstmedikation eignet sich Quimbo ab einem Alter von zwei Jahren. Anwendungsgebiet ist die symptomatische Therapie von Reizhusten. Dabei sollte Levodropropizin nicht länger als sieben Tage angewendet werden. Levodropropizin zählt zu den nicht opioiden Antitussiva, deren hustenhemmende Wirkung hauptsächlich peripher im Tracheobronchialbaum geschieht. Durch die fehlende zentrale Wirkung vermeidet Quimbo dem Hersteller zufolge „die typischen Nebenwirkungen zentral wirksamer Antitussiva wie Atemdepression oder Suchtgefährdung“ und eigne sich daher besonders für Kinder. Für Letztere wären Antitussiva sogar erstattungsfähig. Nur: Kinderärzte empfehlen deren Einsatz heutzutage grundsätzlich nicht.

Ob OTC-Levodropropizin die symptomatische Therapie des Reizhustens nun wirklich verbessert, bleibt abzuwarten. Vielleicht kommt der eine oder andere trotzdem zu dem Schluss, dass bei richtig fiesem Husten die OTC-Optionen nicht reichen und eigentlich nur Codein hilft. Und dann bleibt trotz Quimbo-Switch weiterhin nur der Gang in die Arztpraxis und die Hoffnung, dass das verordnete Mittel lieferbar ist. Denn auch hier gibt es Probleme. 

5. Back to the roots

Die Zeiten, in denen Arzneimittel hauptsächlich in der Apotheke hergestellt wurden, sind lange vorbei. Industriell hergestellte Arzneimittel haben die Eigenherstellung weitgehend abgelöst. Sie sind kostengünstiger und haben, wenn nicht gerade verunreinigte Wirkstoffe aus Indien verwendet wurden, mindestens den gleichen Qualitätsstandard. Somit spielt die Rezeptur im Vergleich zu den abgegebenen Fertigarzneimitteln eine untergeordnete Rolle und beschränkt sich zumeist auf Dermatika, Cannabis-Abfüllungen und Kinderdosierungen, die auf dem Markt nicht verfügbar sind.

Doch dann kamen die Lieferengpässe. Essenzielle Arzneimittel sind derzeit nicht verfügbar, vor allem solche für Kinder: Es fehlen zum Beispiel schon seit dem Sommer Fiebersäfte und -zäpfchen sowie aktuell Amoxicillin-Trockensäfte. Die Apotheken sollen mit Rezepturen oder Defekturen die Lücke füllen, viele tun das bereits. Bei einigen tauchen plötzlich Fragen auf, mit denen sie sich im Apothekenalltag bislang nur selten konfrontiert sahen, zum Beispiel die korrekte Dosierung von Geschmackskorrigentien und die Stabilität von Suspensionen.

Die Apotheken, die es personell stemmen können, sollten diese Rezepturen auch herstellen! Denn Arzneimittelherstellung ist ureigene Apothekeraufgabe und eine Chance zu zeigen, dass die Apotheke vor Ort unersetzlich ist, insbesondere wenn es brennt. Auch Eltern wissen das oft zu schätzen. Aber auf der anderen Seite dürfen Rezepturen und Defekturen kein Zuschussgeschäft sein, das können sich Apotheken schon lange nicht mehr leisten. Zudem braucht es schlanke Bürokratie und das Wichtigste ist: Es muss klar sein, dass man nicht nur in schlechten Zeiten nach den Apotheken rufen kann, sondern auch mal an sie denken muss, wenn es was zu verteilen gibt (dynamisiertes Honorar und so). Denn sonst können sie irgendwann nicht mehr den Retter spielen, bei vielen ist das jetzt schon der Fall. Hier muss die Politik liefern, die Apotheken erfüllen ihren Part bereits bzw. haben es schon getan.


Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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