Möglicher Link zur Neuroregeneration

Helfen BTKIs gegen die schleichende Progression bei Multipler Sklerose?

Stuttgart - 06.02.2023, 11:00 Uhr

Derzeit forschen unter anderem Merck, Sanofi, Genentech/Roche sowie Novartis an BTKIs bei schubförmiger wie auch progredienter MS. (Foto: New Africa / AdobeStock)

Derzeit forschen unter anderem Merck, Sanofi, Genentech/Roche sowie Novartis an BTKIs bei schubförmiger wie auch progredienter MS. (Foto: New Africa / AdobeStock)


Die stille, schubunabhängige Progression ist hauptsächlich für das Fortschreiten der Multiplen Sklerose (MS) verantwortlich. Bekommen Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren diese schwelende Entzündung im Zentralnervensystem (ZNS) bei MS nun endlich in den Griff? 

Bereits heute erlauben die verfügbaren Immuntherapien auch hochaktive Formen der Multiplen Sklerose (MS) zumeist wirksam zu behandeln. Allerdings versagen alle derzeit zugelassenen Immuntherapien, wenn es um eine effektive Modulation der schubunabhängigen Krankheitsprogression (PIRA: disability progression independent of relapse activity) geht. Charakteristisch zeigt sich die schubunabhängige MS-Progression in der Bildgebung anhand der Expansion bestehender Läsionen, sogenannter „slowly expanding lesions“ (SEL), vor allem im fortgeschrittenen MS-Stadium. 

Selbst Ocrelizumab (Ocrevus®), dem seit Januar 2018 in der EU zugelassenen B-Zell-depletierenden Antikörper (CD20), der als einziges Arzneimittel neben der Behandlung von schubförmigen MS-Formen auch bei primär progredienter MS (PPMS) zugelassen ist – und deswegen die schubunabhängige Progredienz doch adressieren sollte –, zeigt nur einen überschaubaren Effekt auf PIRA. Das zeigt eine 2020 im „JAMA Neurology“ („Contribution of Relapse-Independent Progression vs Relapse-Associated Worsening to Overall Confirmed Disability Accumulation in Typical Relapsing Multiple Sclerosis in a Pooled Analysis of 2 Randomized Clinical Trials“) publizierte gepoolte Analyse der beiden Zulassungsstudien OPERA I und II, in denen Roche Ocrelizumab gegen Interferon (IFN) β-1a an schubförmigen MS-Patienten untersucht hatte: Nach 96 Wochen war bei 29,6 Prozent der Interferonpatienten und 21,1 Prozent der Ocrelizumab-Patienten die Behinderung fortgeschritten. 

Zwar konnte Ocrelizumab die schubassoziierte Verschlechterung (RAW: relapse-associated worsening) deutlich besser – um 55 Prozent – reduzieren als Interferon (2,9 Prozent Verschlechterung unter Ocrelizumab vs. 6,2 Prozent Verschlechterung unter IFN β-1a). Allerdings schnitt Ocrelizumab bei der schubunabhängigen Progression nur etwas besser ab als IFN β-1a: Unter Ocrelizumab kam es bei 18,5 Prozent der Patienten zu einer Verschlechterung, die unabhängig von einem klinisch abgrenzbaren oder morphologisch im MRT (Magnetresonanztomographie) sichtbaren Entzündungsereignis stand – vs. 23,3 Prozent unter IFN β-1a. 

Interessant war eine weitere Erkenntnis: Der Löwenanteil der fortschreitenden Behinderung entfällt auf die schubunabhängige Progression (89,1 Prozent PIRA-Anteil an der Gesamtbehinderung unter Ocrelizumab und 80,6 Prozent PIRA-Anteil an der Gesamtbehinderung unter IFN β-1a). Verantwortlich für diese „stille“ Progression scheinen langsame, sogenannte „smoldering“ oder schwelende Entzündungen zu sein.

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Das Wissen um die stille Progression veränderte das ursprüngliche Konzept der MS-Pathogenese, bei der man von einer Dualität zwischen rein entzündlichen Mechanismen zu Beginn einer MS und späteren progredienten und neurodegenerativen Prozessen ausgegangen war. Ebenfalls wurde angenommen, dass außerhalb von Schüben kaum eine MS-Progression mit neurologischer Behinderung stattfinden würde. Mittlerweile weiß man, dass es sich mehr um ein Kontinuum handelt und man Entzündungsmerkmale in allen Verlaufsformen und Stadien der Multiplen Sklerose findet, nur eben in unterschiedlicher Quantität und Qualität. 

In der Eingangsphase dominieren akute und peripher getriebene Entzündungen. Es herrschen Infiltrate vor, die aus dem Blut ins Gewebe einwandern, und es kommt zu einer, im MRT durch Kontrastmittel-aufnehmende Läsionen sichtbaren, Unterbrechung der Blut-Hirn-Schranke. Allerdings: Auch zu diesem Zeitpunkt schädigt die lokal ausgelöste Neuroinflammation das ZNS (Zentralnervensystem) bereits, nur verdecken Remyelinisierung und Kompensation den entstandenen Schaden noch. In der späteren Phase ist die Blut-Hirn-Schranke wieder intakt oder geschlossen – jedoch sitzt die Entzündung im Gewebe in der Falle. Es kommt zu einem Shift der Entzündung, die sich sodann „schwelend“ von der hochentzündlichen Phase im schubförmigen Bereich unterscheidet und vor allem durch Gedächtnis-B-Zellen, CD8+-Zellen, Makrophagen und Mikroglia charakterisiert ist. Letztere gelten als zentrale Treiber der Neuroinflammation im ZNS. 

Im gesunden ZNS kommt Mikroglia eine wichtige Funktion bei der Remyelinisierung zu. Allerdings: Mikroglia könnten ihren Phänotyp auch in eine proinflammatorisch/neurodegenerative Form wechseln, erklärte Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Münster, beim Sanofi-Symposium „Smouldering Disease: Hiding in Plain Sight“ auf dem ECTRIMS-Kongress (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) Ende Oktober 2022 in Amsterdam. Im Rahmen der MS-Pathogenese sei die Homöostase der beiden Phänotypen zugunsten des aktivierten „gestressten“ proinflammatorischen Phänotyps gestört, erklärte der Neurologe.

Wie adressiert man nun diese schubunabhängige Progression? Könnten BTKIs – Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren – helfen, sind sie vielleicht der „Missing Link“ zur Neuroregeneration? Könnten diese bislang nur unzureichend therapierbare schwelende Entzündungen wirkungsvoll bekämpfen? Professor Aiden Haghikia, Direktor der Neurologischen Klinik der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg, sah bereits beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2021 das Potenzial der BTKIs bei der „smoldering inflammation“ der MS: „Möglicherweise haben wir mit Bruton's Tyrosin Kinase (BTK)-Inhibitoren die Möglichkeit, diese schwelende Entzündung anzugehen und diese in den progredienten Phasen zu unterdrücken“, erklärte der Neurologe damals. 

Die Bruton-Tyrosinkinase fungiert als Schlüssel-Enzym bei der Reifung und Funktion vor allem von B-Zellen, spielt eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung und aktiviert Gene, die zur Produktion proinflammatorischer Zytokine und zytotoxischer Substanzen führen sowie zu einer morphologischen Veränderung der Makrophagen hin zu einer entzündlichen Form. BTK aktivieren auch Mikroglia und damit die Zellen im ZNS, denen man gerade in der späten Phase der MS, bei der „smoldering inflammation“, eine bedeutende Funktion zuschreibt und die für Schäden vornehmlich in der progredienten Phase verantwortlich sein sollen.

Dass das BTKI-Prinzip funktioniert, konnte bereits an einem MS-Modell, der experimentell autoimmunen Enzephalomyelitis, gezeigt werden. Unter BTK-Inhibitoren kam es zu einem deutlich besseren Verlauf der Erkrankung. Auch waren Zellen, die aus der Peripherie ins Zentralnervensystem (ZNS) einwanderten – zum Beispiel TNF-α-produzierende Zellen myeloischen Ursprungs – im ZNS deutlich geringer nachweisbar als in der Kontrolle (C. Bassani et al. ECTRIMS 2021).

Allerdings stellt die Blut-Hirn-Schranke eine Barriere dar – nicht nur für infiltrierende Lymphozyten, sondern auch für therapeutische Ansätze, wie die B-Zell-depletierenden Antikörper. Antikörper können die Blut-Hirn-Schranke nicht in ausreichender Konzentration überwinden und damit auch die Pathogenese im ZNS nicht direkt beeinflussen. Anders die BTKIs: Sie überwinden als „Small Molecules“ die Blut-Hirn-Schranke, hemmen dort die BTK, die für die Aktivierung von B-Zellen und Mikroglia benötigt wird und adressieren damit die Zellen, die man derzeit für die schwelende Entzündung jenseits der inflammatorischen Phase der MS für entscheidend hält. Unterschied zu B-Zell-Antikörpern ist zudem, dass BTKIs bestimmte B-Zell-Populationen nicht „entfernen“ und dezimieren, sondern lediglich ihre Funktion modellieren.

Derzeit forschen unter anderem 

  • Merck mit Evobrutinib
  • Sanofi mit Tolebrutinib und 
  • Genentech/Roche mit Fenebrutinib sowie 
  • Novartis mit Remibrutinib an BTKIs bei schubförmiger wie auch progredienter MS (PPMS und non relapsing-SPMS). 

Phase-3-Studien laufen gegen Placebo, Teriflunomid und den B-Zell-Antikörper Ocrelizumab (Fenebrutinib).


Weitere Quellen

Pressemitteilung Sanofi Deutschland: „Die schleichende Progression der Multiplen Sklerose direkt im Gehirn angehen – Neuer Wirkansatz: Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTK)“ 8.12.2022

DGN-Kongress 2022: Merck: BTKIs – „Missing Link zur Neuroregeneration“, Prof. Aiden Haghikia


Celine Bichay, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


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