Gastkommentar

Gendermedizin ist keine Frauenmedizin

Zürich - 08.03.2023, 15:45 Uhr

Obwohl viele Unterschiede bekannt sind, werden Arzneimittel oft nur an jungen männlichen Tieren entwickelt. (Foto: Goran / AdobeStock)

Obwohl viele Unterschiede bekannt sind, werden Arzneimittel oft nur an jungen männlichen Tieren entwickelt. (Foto: Goran / AdobeStock)


Männlein und Weiblein unterscheiden sich nicht nur in ihrem äußeren Erscheinungsbild, sondern auch in der Verstoffwechs­lung von Arzneistoffen. Dass das alles andere als trivial ist, erklärte Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek in ihrem Kommentar. 

Frauen und Männer werden unterschiedlich krank – eigentlich wissen das alle aus Erfahrung, aber dennoch wird es immer wieder übersehen. An Rheuma, Depression, Schilddrüsenerkrankungen und Osteoporose leiden vor allem Frauen [1]. 90% der Patienten mit Broken-heart-Syndrom sind Frauen [2]. Auch beim Herzinfarkt gibt es deutliche Unterschiede: Männer sind früher betroffen, aber Frauen werden schlechter versorgt. Ihre Symptome gelten als atypisch, sie kommen oft zu spät in die Notaufnahme, weil sie selbst und ihre Umgebung nicht glauben, dass sie einen Herzinfarkt haben. Zudem werden sie seltener invasiv behandelt oder operiert und häufiger schlechter medikamentös behandelt [3].

Dieser Kommentar ist zuerst erschienen in DAZ 39/2021. 

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Auch die Anwendung von Arzneimitteln ist nicht trivial. So wurde die Wirksamkeit der meisten Wirkstoffe in überwiegend männlichen Kohorten nachgewiesen und die optimale Dosis nur für Männer entwickelt. Manche Wirkstoffe gegen Herzrhythmusstörungen lösen solche bei Frauen eher aus. Weiter können Nebenwirkungen unterschiedlich häufig auftreten: Hier sind vor allem Arzneistoffe gegen Bluthochdruck oder Herzschwäche oder in der Krebsbehandlung zu nennen, die oft vom weiblichen Geschlecht schlechter vertragen werden. Auch gängige Schlafmittel wirken bei Frauen länger und stärker und führen zu Unfällen am nächsten Morgen [4]. Ferner lösen COVID-19-Impfstoffe vor allem bei Frauen allergische Reaktionen aus [5].

Die Gründe für diese unterschiedlichen Arzneimittelwirkungen sind vielfältig. Neben Wechselwirkungen mit Geschlechtshormonen werden Arzneimittel bei Frauen und Männern unterschiedlich aufgenommen, umgebaut und ausgeschieden. Weiter unterscheiden sich die Organe von Frauen und Männern in ihrer Feinbauweise und Funktion ihrer Zellen [4, 6].

Problem bei den Studien

Obwohl viele Unterschiede bekannt sind, werden Arzneimittel oft nur an jungen männlichen Tieren entwickelt. Die Frage, ob die gefundenen Substanzen auch bei weiblichen Tieren oder Frauen wirksam sind, interessiert oft wenig bis gar nicht. Wir haben in einer eigenen Studie ein gentechnisches Arzneimittel an 400 Mäusen geprüft – es verbesserte das Überleben bei den männlichen Tieren hervorragend, bei den weiblichen hingegen überhaupt nicht [7]. Probleme, die nur bei weiblichen Tieren entstehen, oder Interaktionen mit dem Zyklus werden in den Studien mit ausschließlich männlichen Tieren gar nicht entdeckt. Und: Mit diesem Vorgehen kann man Substanzen, die vor allem bei weiblichen Tieren oder Frauen wirksam wären, gar nicht finden. 

Klinische Studien wurden lange vorzugsweise an Männern durchgeführt. Seit Kurzem sollen neue Wirkstoffe gleichermaßen an Männern und Frauen getestet werden. Zusätzliche Tests für die knapp 100.000 bereits zugelassenen Arzneimittel gibt es aber nicht. Ein weiteres Problem: Häufig werden die „Soll“-Richtlinien übersehen oder nicht respektiert. So wurden neue Wirkstoffe für Herzinfarkt an 80% männlichen Kohorten getestet und nicht darauf hingewiesen, dass die Substanzen in der kleinen Frauengruppe unwirksam waren. Studien aus Europa und Asien weisen darauf hin, dass wichtige Herzinsuffizienzmedikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich dosiert werden müssen [8]. Aktuelle praxisbezogene Analysen bestätigen diese Ergebnisse. Sie müssen nur noch beachtet werden.

Damit Frauen und Männer gleich gut versorgt werden, brauchen wir Sex- und Gender-sensible Medizin. Sie will die biologischen (Sex) und die soziokulturellen (Gender) Unterschiede zwischen Männern und Frauen und diversen Menschen verstehen, sie in die Behandlung einbeziehen und so Ungleichheiten in der Versorgung reduzieren. Gleichzeitig ist Gendermedizin keine Frauenmedizin, denn auch Männer profitieren, wenn ihre Eigenheiten besser beachtet werden [9].


Literatur

[1] Steck NM et al. Gendermedizin: Patientinnen unterscheiden sich von Patienten. Schweizerische Ärztezeitung 2020;101:169-171

[2] Oertelt-Prigione S and Regitz-Zagrosek V. Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine. 2011:201

[3] Mauvais-Jarvis F et al. Sex and gender: modifiers of health, disease, and medicine. Lancet. 2020;396:565-582

[4] Regitz-Zagrosek V. [Sex and gender differences in pharmacotherapy]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2014;57:1067-73

[5] Palmer-Ross A, Ovseiko PV, Heidari S. Inadequate reporting of COVID-19 clinical studies: a renewed rationale for the Sex and Gender Equity in Research (SAGER) guidelines. BMJ Glob Health. 2021;6

[6] Mauvais-Jarvis F et al. Sex- and Gender-Based Pharmacological Response to Drugs. Pharmacol Rev 2021;73:730-762

[7] Unsold Bet al. Melusin protects from cardiac rupture and improves functional remodelling after myocardial infarction. Cardiovasc Res 2014;101:97-107

[8] Gebhard C and Regitz-Zagrosek V. Colchicine in Patients with Chronic Coronary Disease. N Engl J Med 2021;384:776-777

[9] Regitz-Zagrosek V. Gesundheit, Krankheit und das Geschlecht. Aus Politik und Zeitgeschichte : Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. 2018;68:19-24


Prof. Dr. Vera Regitz-Zagrosek, Charité Berlin, Universität Zürich
redaktion@daz.online


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4 Kommentare

@Martin Siegmund

von Prof. Dr. med. Harald H.H.W. Schmidt am 09.03.2023 um 10:41 Uhr

Was für eine arrogante, oberflächliche und falsche Aussage. Noch nicht einmal des Googles sind Sie fähig. Es ist eine Binsenweisheit, dass Jungen zu gefährlicherem Verhalten neigen und Männer die gefährlicheren Berufe ausüben ohne das hier der Ruf nach einer Quote erschallt. Das allein - zeigen alle Querschnitts- und longitudinal Studien - erklärt aber nicht die Unterschiede, was zum Beispiel höhere Herz-Kreislaufmortalität, höhere Depressions- und Selbstmordinzidenz betrifft. Diskutiert werden immunologische und hormonelle Faktoren, aber intensiv geforscht ist dieses Thema eben nicht. Auch fließen dreimal mehr Forschungsmittel in Brustkrebs als in Prosttatekrebs. Ein weitere wichtiger Faktor ist, dass viele Frauen allein schon wegen der Verschreibung der Pille zumindest einen kleinen medizinischen Check-up bekommen. Kurzum, nicht nur dass Sie den weißen Elefanten in der Forschung nicht sehen, Sie schauen auch noch aktiv weg.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: @Martin Siegmund

von Martin Siegmund am 09.03.2023 um 10:57 Uhr

Haha, bitte was? Darf ich Sie mal auf den Boden der Tatsachen zurückholen?
In Ihrem ursprünglichen Kommentar sprechen Sie der Gendermedizin jeden Belang ab und sprechen von Gedanken (sic!) zu "Nuancen".
Komplexe Sachverhalte, wie beispielsweise die unterschiedliche Lebenserwartung der Geschlechter, hier in der Kommentarspalte lösen zu wollen ist aber genauso fehl am Platz, wie Ihre Insinuation, dass es den Frauen besser ergeht, da dort das Geld hingeschmissen wird.

Wahnsinn. Da scheine ich bei Ihnen einen wunden Punkt getroffen zu haben.

Der wichtigste Aspekt fehlt

von Prof. Dr. med. Harald H.H.W. Schmidt am 08.03.2023 um 21:58 Uhr

Gender-Medizin ist oft blind für den weißen Elefanten im Raum: "Männer leben 5 Jahre weniger als Frauen". Bevor sich ein Gebiet also Gedanken über Nuancen macht, gäbe es eigentlich nur ein Haupt-Thema, das zu beforschen wäre: Lebenserwartung aller Geschlechter angleichen.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Der wichtigste Aspekt fehlt

von Martin Siegmund am 09.03.2023 um 9:30 Uhr

Das von Ihnen angesproche "Haupt-Thema" ist seit langer Zeit erforscht: Grund ist der ungesündere und risikoreichere Lebenswandel.
Die Antwort zu ergoogeln hätte im Übrigen nicht mehr Zeit gekostet, als Ihr Kommentar zu verfassen.

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