Nichtraucher-Helden und Selfapy-Online-Kurs

Binge-Eating und Tabakabhängigkeit – zwei DiGA dauerhaft erstattungsfähig

Stuttgart - 15.08.2023, 16:00 Uhr

Sieben Tage rauchfrei! Mit DiGA gelang das mehr Studienteilnehmenden als ohne. (Foto: andriano_cz / Adobe Stock)

Sieben Tage rauchfrei! Mit DiGA gelang das mehr Studienteilnehmenden als ohne. (Foto: andriano_cz / Adobe Stock)


Die Anbieter der App Nichtraucher-Helden und des Selfapy-Online-Kurses bei Binge-Eating-Störungen haben den Nutzennachweis für ihre Produkte erbringen können und somit die endgültige Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis geschafft. Was dürfen Betroffene von Binge-Eating-Störung bzw. Tabakabhängigkeit von den Apps erwarten?

Im Verzeichnis der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) hat es Änderungen gegeben: Vier Apps konnten jüngst ihren Nutzen belegen und wuden so dauerhaft in das Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen. Zwei Apps zur Anwendung bei Adipositas bzw. chronischen Schmerzen haben wir Ihnen bereits vorgestellt, heute folgt das Porträt der beiden verbleibenden DiGA. 

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Mit Nichtraucher-Helden gegen Tabakabhängigkeit 

Seit Juli 2021 stellt die App Nichtraucher-Helden für Personen mit diagnostizierter Tabakabhängigkeit eine mögliche Option im DiGA-Verzeichnis dar. Bislang wurde die Anwendung mangels Nutzennachweis jedoch nur vorübergehend von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Mit dem Vorliegen neuer Studiendaten hat sich das nun geändert: Ende Juni schaffte die Anwendung den Aufstieg in die Reihen der dauerhaften DiGA. 

Die vorgelegte randomisierte, kontrollierte Studie schloss insgesamt 661 Probanden ab 18 Jahren ein. Alle Teilnehmenden erhielten zu Studienbeginn eine circa dreiminütige Kurzberatung zum Rauchstopp, die Interventionsgruppe wendete zusätzlich die Nichtraucher-Helden-App an. Nach dem Rauchstopp wurden zu mehreren Zeitpunkten (24 Stunden, 4 Wochen, 12 Wochen und 26 Wochen) Untersuchungen durchgeführt und dabei Daten zu Raucherentwöhnungsrate, Lebensqualität, Husten und Atemnot erhoben. Als wichtigster Parameter (primärer Endpunkt) wurde die selbstberichtete 7-Tage-Abstinenz nach 26 Wochen analysiert.

Wie sich zeigte, gaben in der Interventionsgruppe deutlich mehr Tabakabhängige an, mit dem Rauchen aufgehört zu haben, als in der Kontrollgruppe. Dieses Ergebnis ließ sich auch biochemisch bestätigen: Wurden die selbstberichteten Abstinenzen mittels Cotinin-Test verifiziert, ergab sich ebenso ein statistisch signifikanter Unterschied.

Was sagt der Cotinin-Test aus?

Beim Abbau von Nikotin entsteht im Körper – neben zahlreichen weiteren Stoffen – Cotinin. Der Stoff besitzt eine Halbwertszeit von etwa 20 Stunden und kann in Urin bzw. Blutserum nachgewiesen werden. Mithilfe von Cotinin kann ein vorangegangener Tabakkonsum bis zu drei Tage später noch festgestellt werden [1,2]. 

Für die Punkte Lebensqualität, Atemnot und Hustensymptomatik konnte hingegen kein statistisch signifikantes und/oder klinisch relevantes Ergebnis erzielt werden.

App auf Basis der kognitiven Verhaltenstherapie

Wie viele DiGA basiert auch „Nichtraucher-Helden“ auf den Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie. Durch Coaching-Videos, Podcasts und Übungen sollen die Motivation gestärkt, Entzugssymptome gelindert und das Befinden verbessert werden.

Wie funktioniert die kognitive Verhaltenstherapie?

Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist eine etablierte und wissenschaftlich gut untersuchte Form der Psychotherapie. Sie folgt der Annahme, dass jedes Verhalten erlernt, aufrechterhalten und auch wieder verlernt werden kann, wobei unter Verhalten auch innere Vorgänge wie Gefühle und Gedanken einzuordnen sind. 

Anhand eines Fragebogens (Fagerström-Test) wird zu Beginn die Schwere der Tabakabhängigkeit festgestellt. Anschließend werden die Anwendenden in acht Modulen auf den selbst terminierten Rauchstopp vorbereitet. Nach dem Rauchstopp unterstützt die App mit täglichen Impulsen und hilft u. a. mit Fitnessvideos und Rezepten dabei, einer Gewichtszunahme vorzubeugen.

In den einzelnen Modulen erhalten die Anwendenden unter anderem Input zu Vor- und Nachteilen des Rauchstopps sowie den Zusammenhängen der psychologischen und physiologischen Abhängigkeit. Außerdem werden in Übungen die persönlichen Raucherrituale identifiziert und dazu passende Bewältigungsstrategien entwickelt. Weitere Bestandteile der App sind ein Tagebuch, ein Forum zum Austausch mit Gleichgesinnten und Ablenkungsmöglichkeiten für akutes Rauchverlangen in Form von Spielen, Atemübungen und Videos.

Um die Motivation aufrechtzuerhalten, wird das durch den Rauchverzicht eingesparte Geld in der App laufend visualisiert und mit selbstgewählten Wünschen (die mit dem gesparten Geld erfüllt werden können) in Verbindung gebracht. Zudem stellt die App die persönlichen, zu Beginn des Programms festgelegten Gründe für den Rauchstopp immer wieder heraus und veranschaulicht die erzielten gesundheitlichen Verbesserungen.

Bei psychischen Vorerkrankungen ist die Anwendung nur eingeschränkt geeignet. So bestehen u. a. Kontraindikationen bei psychotischer Störung, bipolarer affektiver Störung, depressiven Episoden und Angststörungen. Auch bei akuter Depressivität oder Suizidalität wird die Anwendung nicht empfohlen.

Selfapy-Online-Kurs bei Binge-Eating-Störung

Seit Kurzem darf sich auch Selfapys Online-Kurs bei Binge-Eating-Störungen über die dauerhafte Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis freuen. Die App bzw. Web-Anwendung konnte offenbar zügig den Nutzennachweis nachreichen, denn erst seit Anfang des Jahres wird die Anwendung vorläufig im Verzeichnis gelistet

Die Binge-Eating-Störung

 Im Falle von Binge-Eating leiden die Betroffenen an regelmäßig wiederkehrenden Essanfällen. Anders als bei der Bulimie (Ess-Brechsucht) ergreifen sie jedoch keine Gegenmaßnahmen. Die Binge-Eating-Störung ist meist mit Übergewicht oder Fettleibigkeit verbunden. Männer und Frauen sind ungefähr gleich häufig betroffen. /wf

Der Online-Kurs stellt ein Selbsthilfe-Programm für unkritische Phasen dar, welches sowohl während der Wartezeit auf einen Therapieplatz als auch alleinstehend genutzt werden kann. In beiden Fällen zielt das Programm darauf ab, die Symptome der Binge-Eating-Störung zu verbessern. Zu diesem Zweck setzt auch Selfapy auf die Methoden und Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie.

In mehreren Lektionen werden Hintergrundinformationen zu Essstörungen in Video-, Audio- und Textformat vermittelt. Zudem wird der Umgang mit negativen Gedanken und Gefühlen erlernt und das Essverhalten sowie das Selbstwertgefühl thematisiert. Ebenfalls werden Entspannungstechniken sowie Techniken zur Problemlösung und Rückfallprävention vorgestellt. Um die theoretischen Inhalte in den Alltag zu übertragen, beinhaltet der Kurs darüber hinaus zahlreiche „Hausaufgaben“. Pro Woche wird die Durchführung einer Lektion empfohlen, was einer Bearbeitungszeit von circa 60 Minuten entspricht.

Anzahl an Binge-Eating-Episoden signifikant reduziert

In einer zweiarmigen randomisiert-kontrollierten Studie mit insgesamt 154 Teilnehmenden wurden die Auswirkungen des Programms auf die Binge-Eating-Störung untersucht [3]. Während die Kontrollgruppe im Studienzeitraum (12 Wochen) Zugang zur Standardversorgung erhielt, konnte die Interventionsgruppe zusätzlich die DiGA nutzen. Im Verlauf fanden an drei Tagen (zu Beginn, nach 6 bzw. 12 Wochen) diagnostische Messungen statt.  

Als primärer Endpunkt wurde die Anzahl der Binge-Eating-Episoden mithilfe eines speziellen Fragebogens (Eating Disorder Examination Questionnaire, EDE-Q) gemessen. Des Weiteren wurden u. a. der Schweregrad der psychosozialen Beeinträchtigung, die Arbeitsfähigkeit und das Wohlbefinden betrachtet.

Die Auswertung der Studiendaten ergab, dass die Nutzung der DiGA im Vergleich zur Standardversorgung einen messbaren Vorteil bietet: Die Anzahl an Binge-Eating-Episoden reduzierte sich signifikant. Während sich die Symptome in der Interventionsgruppe um 60,99 % reduzierten, nahmen diese in der Kontrollgruppe nur um 8,06 % ab. Die Abstinenzrate betrug in der Anwendungsgruppe 20,00 %, in der Vergleichsgruppe hingegen 4,48 %. Auch die psychosoziale Beeinträchtigung sowie das Wohlbefinden verbesserten sich. In Bezug auf die Arbeitsfähigkeit ergab sich jedoch kein Effekt.

Kontraindikationen beachten

In der Beschreibung zur Studie ist zu lesen, dass lediglich fünf männliche Teilnehmer darin eingeschlossen wurden. Mithilfe von Literaturdaten konnte Selfapy das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) offenbar dennoch davon überzeugen, dass keine wesentlichen Unterschiede in der Wirksamkeit zu erwarten sind, sodass die Anwendung unabhängig vom Geschlecht erstattungsfähig ist.

Während das männliche Geschlecht somit kein Ausschlusskriterium darstellt, sind Alter, BMI sowie Vorerkrankungen für die Eignung entscheidend. Als Kontraindikationen gelten diverse Abhängigkeits- bzw. Entzugssyndrome u. a. ausgelöst durch Alkohol, Tabak oder Koffein. Außerdem fallen zahlreiche psychische Erkrankungen darunter, wie Schizophrenie, wahnhafte Störungen oder schwere depressive Episoden. Darüber hinaus ist die Anwendung nicht geeignet bei akuter Suizidalität, niedrigem Body-Mass-Index (BMI < 18,5) sowie bei unter 18-Jährigen [4].

Quellen

[1] Medizin Zentrum Dortmund, www.medizin-zentrum-dortmund.de/de/laboratoriumsmedizin/untersuchungsprogramm/untersuchung/1505/

[2] Praxis Welling, praxis-welling.de/leistungen/labordiagnostik/nikotinnachweis-cotinin/ ;

[3] „Effectiveness of a Web-Based Self-Help Intervention for Binge-Eating Disorder: A Randomized Controlled Trial“ NCT04876183 

[4] DiGA-Verzeichnis, BfArm Stand 10.08.2023


Nadine Sprecher, Apothekerin, Redakteurin PTAheute.de
redaktion@daz.online


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