Holzgrabe befürchtet Verdrängungswettbewerb

Lieferengpässe – wie und warum nur langfristige Maßnahmen helfen können

Stuttgart - 04.09.2023, 17:50 Uhr

Wird Amoxicillin auch im kommenden Winter wieder knapp? (Symbolfoto: imago images / ABACAPRESS)

Wird Amoxicillin auch im kommenden Winter wieder knapp? (Symbolfoto: imago images / ABACAPRESS)


Wer kann das Problem der Arzneimittelengpässe kurzfristig lösen? Wie es scheint, niemand – zumindest nicht ohne an anderer Stelle neue Probleme zu verursachen. Wie steht es also um die Arzneimittelversorgung im kommenden Herbst und Winter? Wird es wie im letzten Jahr? Drei Expert:innen zeichnen ein eher düsteres Zukunftsszenario.

Bereits im Mai dieses Jahres diskutierten Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Dr. Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums in Heidelberg, und David Francas, Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms, bei einem Presse-Briefing des „Science Media Center“ (SMC) online darüber, wie eine bessere Versorgung mit Arzneimitteln gelingen kann. Dies geschah noch bevor das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) im August in Kraft getreten ist. Das Gesetz war bereits im Vorfeld viel kritisiert worden. Die drei Expert:innen waren sich beispielsweise im Mai einig, dass man das Lieferengpassproblem nicht auf nationaler Ebene lösen kann [1].

Mehr zum Thema

Kinderarzneimittel in der nächsten Infektionssaison

Lauterbach bittet Großhandel um intensivierte Bevorratung

Dringlichkeitsliste für Kinderarzneimittel für Herbst/Winter

Phagro: Vorräte reichen keine zwei Wochen!

Nun ist das nationale Engpassgesetz seit kurzem in Kraft und erneut öffentlicher Kritik ausgesetzt. Denn – da das Gesetz Zeit brauche, um zu wirken – bat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den pharmazeutischen Großhandel Ende August darum, kurzfristig bereits jetzt wichtige Kinderarzneimittel zu bevorraten – um einer Situation wie im vergangenen Winter vorzubeugen. Daraufhin stellte der Großhandelsverband Phagro kurzerhand klar: Wo nichts zu beschaffen ist, kann auch nichts für zwei oder gar vier Wochen bevorratet werden. Schon die aktuelle Situation sei „äußerst prekär“, hieß es [2,3]. 

Das SMC hat jetzt erneut Holzgrabe, Hoppe-Tichy und Francas um eine Einschätzung der aktuellen Situation gebeten. Ist es tatsächlich schon jetzt so schlecht um die Arzneimittelversorgung bestellt?

Hersteller müssen die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostizieren

Francas meint, es sei grundsätzlich positiv zu bewerten, dass mit dem ALBVVG erstmals ein Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen verabschiedet wurde. Absehbar sei aber, „dass die Lösung der Lieferengpassproblematik über das Gesetz hinaus gehende Anstrengungen wie den Einbezug weiterer Arzneimittelgruppen und die engere Kooperation mit den europäischen Partnern benötigen wird“. Die Versorgungslage im Winter 2023 werde nun auch davon abhängig sein, „inwieweit die Hersteller die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostiziert haben und ihre Produktion und Lagerhaltung danach ausrichten konnten“. Zur Erinnerung: Im letzten Winter war eine Ursache der Lieferengpässe auch das erhöhte Infektionsgeschehen nach den Corona-Jahren. Zudem warnt Francas vor „inflationierten“ Bestellungen von Arzneimitteln, die über den benötigen Bedarf hinausgehen.

Auch Hoppe-Tichy hat grundsätzlich lobende Worte für die kurzfristigen Maßnahmen Lauterbachs übrig, beschreibt die Umsetzung der neuen Regeln aber ebenso als schwierig. So stelle die schiere Menge der nun geforderten Vorräte allein räumlich Herausforderungen für die Krankenhausapotheken dar: „Einige Klinikapotheken haben für diese zusätzlichen Lagerflächen schon externe Räume oder gar Gebäude angemietet“, erklärt er. Es brauche deshalb auch ausreichende Vorräte bei den Herstellern und dem Großhandel.

Holzgrabe: Arzneimittelproduktion weltweit bereits am Anschlag

Ist also die Pharmaindustrie (mit ihrer Bedarfsplanung) in der Pflicht? Holzgrabes Ausführungen zufolge ist die Arzneimittelproduktion weltweit bereits am Anschlag. Um die geforderte Lagerhaltung zu erfüllen, sei es somit keine Lösung, anderen Ländern die Ware „vor der Nase wegzuschnappen“. Insbesondere die Forderung Lauterbachs an den Großhandel, größere Lagerhaltung aufzubauen, kann Holzgrabe nicht nachvollziehen: Dieser produziere ja nichts und kaufe im Wesentlichen auch nicht im Ausland ein. „Statt mit den Grundversorgern, den Generikaherstellern, wenigstens mal zu sprechen“, versuche Lauterbach den Markt leerzukaufen. Holzgrabe fürchtet einen „Verdrängungswettbewerb“, denn auch im restlichen Europa benötige man die knappen Arzneimittel.

Wissenschaftliches Projekt EThICS-EU soll Arzneimittelversorgung verbessern

Resilienz für Lieferketten

Eine wissenschaftliche Initiative der Julius-Maximilians-Universität Würzburg untersucht neuerdings unter dem Namen EThICS-EU-Programm (Essential Therapeutics Initiative for Chemicals Sourcing for the European Union) Maßnahmen, welche die Arzneimittelversorgung in Europa langfristig sichern könnten. Holzgrabe ist Teil dieser Initiative und erläutert dazu aktuell: „Zur Gewährung der Versorgungssicherheit müssen langfristig wieder mehr Produktionsstätten aufgebaut werden, und zwar insbesondere in Europa, obgleich eine Produktion in Europa durchaus 20 bis 30 Prozent teurer sein wird, wie wir in unserem EThiCS-Projekt für Amoxicillin berechnet haben.“ Wie schnell sich das lohne, sehe man an einem aktuellen Beispiel: 


„So kaufen wir jetzt bei dem indischen Hersteller Puren/Aurobindo Amoxicillin-Präparate, die für den amerikanischen Markt vorgesehen waren, mit allen Problemen, die damit verbunden sind. […] Aber das Schlimmste ist eigentlich, dass wir Pressemitteilungen zufolge Aurobindo ein Vielfaches von dem zahlen, was ein Medikament aus europäischer Produktion kosten würde. Warum lenken wir dieses Geld nicht in den zügigen Ausbau der europäischen Produktion?“ 

 Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie


Es gebe in der EU zwar bereits Diskussionen zu vielen Lösungsansätzen in diesem Bereich, doch diese stünden erst am Anfang – „schnelleres und besonneneres Handeln wäre notwendig“, so Holzgrabe. 

„Eine langfristige Lösung erfordert eine klare Strategie, die über das Lösen tagesaktueller Probleme hinausgeht. Dafür benötigen wir auch eine engere Verzahnung des Gesundheitswesens mit der Wirtschaftspolitik und den nationalen Sicherheitsstrategien“, meint auch Francas [4].

Literatur

[1] Moll D. Arzneimittel-Engpässe: „Pharmaindustrie nicht so billig davonkommen lassen“. DAZ.online Stand 25.05.2023, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2023/05/25/arzneimittel-engpaesse-pharmaindustrie-nicht-so-billig-davonkommen-lassen

[2] Sucker-Sket K. Lauterbach bittet Großhandel um intensivierte Bevorratung. DAZ.online Stand 24.08.2023, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2023/08/24/lauterbach-bittet-grosshandel-um-intensivierte-bevorratung

[3] Sucker-Sket K. Phagro: Vorräte reichen keine zwei Wochen! DAZ.online Stand 29.08.2023, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2023/08/29/phagro-vorraete-reichen-keine-zwei-wochen

[4] Rapid Reaction des Science Media Center Germany (SMC). Arzneimittelversorgung im Herbst und Winter. Mail vom 04.09.2023.


Deutsche Apotheker Zeitung / dm
redaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen:


2 Kommentare

Der Markt wird es richten, auch wenn für uns evtl. wenig bleibt.

von Axel Schmidt am 04.09.2023 um 19:34 Uhr

Wenn es das BMG wollte, könnte es gegen Entgelt eine nationale Reserve aufbauen. Ansonsten sollte man es den Märkten überlassen, zwischen Angebot und Nachfrage fair auszubalancieren. Ja, im Discounterland Deutschland haben die Politik, ihre Institutionen und insbesondere die Krankenkassen seit Jahren alles daran gesetzt, die Preise der Pharmaindustrie bis zum “geht nicht mehr” zu drücken (u.a. durch Festbeträge, Abschläge, Preismoratorien, Rabattverträge), Das bleibt nicht folgenlos. Klar, dass die generischen Arzneimittel “aus reiner Notwehr” bevorzugt dort abgesetzt werden, wo die pU’s damit noch ein Auskommen finden. Solange hochwertige Arzneimittel in Deutschland ihren Preis nicht mehr erzielen können, geht die Ware zuerst dorthin, wo sie wertgeschätzt wird. Im Kaputtsparen sind wir mittlerweile führend (u.a. Straßen, Brücken, Bahn, Arzneimittel … u.v.a.m), im Verwalten des Mangels bald auch. Die Politik ist weltmeisterlich im Beschreiben der Probleme, nur mit Selbstkritik, der Lösungssuche und -umsetzung tut sie sich unendlich schwer.

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Internationaler Markt

von Holger am 05.09.2023 um 8:42 Uhr

Ich stimme Ihnen grundsätzlich zu. Aber wenn es "nur" die deutsche Preispolitik wäre, könnte man die bei uns knappen AM (zu dann eben höheren Preisen) ja aus dem Ausland beschaffen. Es gibt Produkte, bei denen das funktioniert, was jedoch längst nicht bei allen der Fall ist. Darüber hinaus sehe ich zwei weitere Dimensionen:

1. Die Renditeerwartungen der Investoren in pharmazeutische Unternehmen sind derart maßlos, dass vor allem dort "kaputtgespart" wird. Konzentration auf zumeist EINEN Standort weltweit für systemkritische Prozessschritte erhöht das Ausfallrisiko extrem, senkt aber die Kosten und steigert damit den Gewinn. Auch nur EIN im Suezkanal quer sitzender Frachter blockiert die höchst empfindlichen Transportketten massiv, Transporte sind aber weltweit viel zu billig, weil zum Beispiel die Umweltschäden nicht in die Kosten einfließen. Läger binden nur Kapital und sind betriebswirtschaftlich nicht erwünscht ... HIER wäre ein guter Hebel, um politisch Einfluss zu nehmen!

2. Die deutsche Wirtschaft schrumpft, es gibt aber Länder, in denen es weiterhin Wirtschaftswachstum gibt. Und das sind beispielsweise ausgerechnet Länder mit riesiger Bevölkerung. Wenn nur 5% der Menschen in China oder Indien an Prosperität in Form besserer medizinischer Versorgung profitieren, sind das mehr Menschen, als in D überhaupt leben! Und wenn ich dann berücksichtige, wie langwierig, administrativ aufwändig und unternehmerisch riskant die Investition in Ausweitung von Produktionskapazitäten ist, wundert mich nicht, wenn weltweit die Nachfrage chronisch schneller steigt als das Angebot. Hier sollte man vielleicht über den Abbau einiger administrativer Hürden nachdenken, aber vor allem ist hier unternehmerische Initiative gefordert.

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.