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Können die Kosten im Gesundheitssystem reduziert werden, wenn die Zahl der Kassen sinken würde? Diesen Weg ist man im Nachbarland Österreich bereits vor einigen Jahren gegangen. Mit einer drastischen Umstrukturierung des Sozialversicherungssystems wurde die Zahl der Kassen stark reduziert – mit bislang gemischten Ergebnissen.
Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK Verena Bentele hat die Diskussion im vergangenen Jahr wieder neu entfacht: „Wir haben in Deutschland 96 Krankenkassen. Da stellt sich schon die Frage, ob das so viele sein müssen“, sagte die Präsidentin von Deutschlands größtem Sozialverband. Ihr Beitrag sollte darauf hinweisen, dass im finanziell angespannten gesetzlichen Gesundheitssystem Kosten gesenkt werden könnten, wenn die Zahl der Kassen reduziert würde. Angesichts eines Milliarden-Defizits sollten auch die Krankenkassen einen Sparbeitrag leisten, sagte Bentele damals den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
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Die Debatte ist nicht neu und kommt mit schöner Regelmäßigkeit hoch. Wir haben zu viele Kassen, sagen einige. Das System ist zu ineffizient, sagen andere. Auch der Privatärztliche Bundesverband forderte bereits eine Reduzierung der Krankenkassen. Und im Herbst 2022 sagte Ralf Hermes, Vorstand der IKK Innovationskasse in Lübeck: „Es ist schwer zu sagen, wie viele Kassen überlebensfähig sind, aber ich schätze, die Hälfte reicht aus.“ Dabei ist die Richtung schon seit Längerem klar: Gab es 1970 in Deutschland noch 1.815 Krankenkassen, hatte sich deren Zahl 1990 bereits auf 1.147 reduziert. 2000 waren es dann noch 420, aktuell sind es die erwähnten 96.
Österreich: Große Reform 2018
Unsere Nachbarn in Österreich sind bei der Frage nach der Anzahl der Krankenkassen und der Struktur des Systems einen großen Schritt weiter. Dort hatte im Dezember 2018 der Nationalrat das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz beschlossen. Dieser größten Reform seit Jahrzehnten war eine vom Sozialministerium beauftragte Studie zur Effizienz im Sozialversicherungs- und Gesundheitsbereich vorangegangen. Ihr Ziel: Effizienzpotenziale identifizieren und die Leistungen weiter verbessern, um eine moderne und bürgernahe Sozialversicherung zu schaffen.
Effizienzstudie: Primärversorgung mit Potenzial
Die Effizienzstudie, durchgeführt von der renommierten London School of Economics (LSE) sowie Gesundheitsexperten in Österreich, brachte einerseits zutage, dass die gesundheitliche und soziale Versorgung in der Alpenrepublik im Grunde gut funktioniert. Der ungedeckte medizinische Bedarf galt als einer der niedrigsten in Europa. Zudem hätten die politischen Entscheidungsträger die Primärversorgung und die öffentliche Gesundheit als Schlüsselbereich erkannt.
Andererseits stellten die LSE-Experten aber auch fest, dass Österreichs Primärversorgung und öffentliche Gesundheit im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich verbessert werden könnten. Dies zeigte sich zum Beispiel an niedrigen Impfraten, einer unterdurchschnittlichen Lebenserwartung sowie einer hohen Zahl an stationären Einweisungen. Derartige Ergebnisse hätten die Notwendigkeit weiterer Investitionen in die medizinische Grundversorgung und die öffentliche Gesundheit unterstrichen.
Ein betriebswirtschaftliches Gutachten zeigte zudem, dass es ein erhebliches Effizienz- und Effektivitätssteigerungspotenzial gab, das durch eine Reform der Organisation der Sozialversicherung realisiert werden könnte. Dabei wurde deutlich, dass das österreichische System der sozialen Krankenversicherung aufgrund der mehrstufigen Governance-Struktur ziemlich komplex war.
Zugleich wurde auf die Fragmentierung des Systems hingewiesen, die sich in der Finanzierung widerspiegelte. Während insbesondere die ambulante Versorgung von der sozialen Krankenversicherung finanziert wurde, fiel die stationäre Versorgung in die gemeinsame Zuständigkeit von Bund und Ländern. Ein solches System, so die LSE, fördere Ineffizienzen und führe zu höheren Gesamtkosten. Letztlich, so die Experten, könne das Problem der dualen Finanzierung nur durch eine umfassende Reform oder mit gemeinsamen Budgets für alle Bereiche der Gesundheitsversorgung gelöst werden.
Ungerechtigkeiten bei den Leistungen
Eine weitere zentrale Frage, die die Studienautoren diskutierten, betraf die Zahl der sozialen Krankenversicherungsträger. Dabei sei in Österreich weniger die Anzahl ein Effizienzhemmnis gewesen als die Art der Leistungen und die Zuweisung von finanziellen Mitteln. Nur ein kleiner Teil der Mittel der Krankenversicherungsträger sei „risikoadjustiert“ gewesen, was zu Ungerechtigkeiten geführt habe. Trotz meist einheitlicher Beitragssätze sei es damit zu Unterschieden bei den Leistungen gekommen.
Welche Option darf es sein?
Die London School of Economics präsentierte in ihrer Untersuchung eine Reihe von politischen Optionen zur Reformierung des Krankenversicherungssystems. Dabei wurden vier Modelle vorgeschlagen, um die Effizienz und Gerechtigkeit zu verbessern.
Die ersten drei Modelle beinhalteten strukturelle Veränderungen des Sozialversicherungssystems durch eine Zusammenlegung von Trägern. Kurzfristig, so die Autoren, könnte eine Zusammenlegung zu Kostensteigerungen führen, da der Strukturwandel und die Umsetzung mit zusätzlichem Aufwand verbunden seien. Mittel- bis langfristig könnten diese Modelle jedoch zu Effizienzgewinnen führen, zum Beispiel durch Größen-, Skalen- und Verbundvorteile sowie einen besseren Wissenstransfer. Das vierte Modell hatte zum Ziel, durch bessere Risikoanpassung und Koordinierung die Effizienz und Gerechtigkeit zu steigern.
Konkret sahen die Vorschläge wie folgt aus:
Modell 1 (Teilverschmelzung): Ein nationaler Unfallversicherungsträger, ein nationaler Pensionsversicherungsträger, ein Träger der Krankenversicherung der Unselbstständigen und ein Träger der Krankenversicherung der Selbstständigen.
Modell 2 (begrenzter Zusammenschluss): Ein nationaler Pensionsversicherungsträger, ein selbstständiger Krankenversicherungsträger, ein Krankenversicherungsträger für Angestellte (ohne Beamte), ein Unfallversicherungsträger (ohne Beamte) und ein gemeinsamer Unfall- und Krankenversicherer für Beamte.
Modell 3 (Zusammenlegung von Kranken- und Unfallversicherung): Ein nationaler Pensionsversicherungsträger, ein Kranken- und Unfallversicherungsträger, aufgeteilt auf die neun österreichischen Bundesländer.
Modell 4 (Versicherungskoordinierung): Dieses Modell zielte darauf ab, das Sozialversicherungssystem durch einen besseren Risikoausgleich zwischen den Krankenversicherungsträgern sowie eine bessere Koordinierung der Träger durch gemeinsame Facharztstellen zu optimieren.
Aus neun mach eins
Die Struktur, die die österreichische Politik schließlich beschloss und zum 1. Januar 2020 umsetzte, hatte zum Ziel, langfristig die Verwaltungskosten zu senken. Die Einsparungen, hieß es, könnten im Milliardenbereich liegen. Herzstück der Umstrukturierung war die Zusammenlegung der neun Gebietskrankenkassen zu einer Gesundheitskasse, der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Alle angestellt Beschäftigten wurden damit in dieser Kasse zusammengefasst. Damit wechselten für viele Versicherte die bis dahin zuständigen Versicherungsträger wie Gebietskrankenkassen oder Betriebskrankenkassen.
Zudem wurden die fünf Sozialversicherungsträger im Dachverband der Sozialversicherungsträger zusammengefasst: die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB), die Sozialversicherung der Selbstständigen (SVS), die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) sowie die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA).
Darüber hinaus wurden folgende weitere Maßnahmen umgesetzt:
- Die bisherige Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft (SVA) und die Sozialversicherungsanstalt der Bauern (SVB) wurden in der neuen Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (SVS) zusammengefasst.
- Die bisherige Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA), die Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau (VAEB) und die Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe wurden zur Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) zusammengeführt.
- Darüber hinaus wurde die Versicherungsanstalt des österreichischen Notariates in eine eigenständige berufsständische Versorgungseinrichtung übergeführt.
In Österreich können sich die Versicherten heute ihren Krankenversicherungsträger nicht selbst auswählen, dieser ist vielmehr vom jeweiligen Dienstgeber und dessen Standort abhängig. Da die Krankenkassen nicht frei gewählt werden, ist nach Meinung von Marktkennern auch kein Anreiz gegeben, dass diese miteinander in Konkurrenz treten. Die Kassen sind vielmehr dazu angehalten, Leistungen und Prämien einander anzupassen. Anders in Deutschland, wo diese Wettbewerbsunterschiede wichtige Entscheidungsfaktoren für die Versicherten sein können.
Fast 100 % in gesetzlicher Krankenversicherung
Nach Angaben des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist heute nahezu die gesamte österreichische Wohnbevölkerung (99,9%) von der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst. Dabei handelt es sich um eine Pflichtversicherung für Personen mit legalem Einkommen und schließt neben den Versicherten auch deren Angehörige ein (Abb. 1). Von der gesetzlichen Pflichtversicherung befreit sind Grenzgänger, welche in Österreich wohnen, den Arbeitsplatz aber in der Schweiz, Deutschland oder Liechtenstein haben.
Während die Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung für unselbstständig Erwerbstätige sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber trifft, müssen Selbstständige und Selbstversicherte den Beitrag vollständig selbst tragen. Die Leistungen, die für alle Versicherten gleich sind, werden überwiegend ohne weitere Zuzahlungen der Versicherten erbracht. Lediglich für einige Versichertengruppen von der Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen und der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau sind den Angaben zufolge Kostenbeteiligungen vorgesehen.
Die Leistungen (Abb. 2) der gesetzlichen Krankenkassen umfassen unter anderem die Bezahlung von Medikamenten, exklusive einer Rezeptgebühr von 5,70 Euro pro Rezept. Zudem werden Zahnbehandlungen, zehn psychotherapeutische Sitzungen sowie stationäre Aufenthalte in Mehrbettzimmern übernommen.
Mehr Leistungen durch Zusatzversicherung
Wer mehr will, kann eine private Zusatzversicherung abschließen. Neben der Sonderklasse-Versicherung, die im Falle eines Krankenhausaufenthaltes mehr Komfort garantiert wie ein Zweibett-Zimmer mit Dusche, WC, TV und Telefon, bieten viele Versicherer auch Policen an, die Zusatzkosten bei Zahnarztbesuchen oder Kosten für Kuren und alternative Heilmethoden übernehmen.
Der wichtigste Vorteil der Zusatzversicherung liegt jedoch in einer größeren Freiheit bei der Wahl von Ärzten. Außerdem ist es damit möglich, sich eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Laut jüngeren Statistiken gibt es in Österreich rund 2,7 Millionen Menschen, die eine private Krankenversicherung abgeschlossen haben. Diese Zahl entspricht etwa einem Drittel der österreichischen Bevölkerung.
Ergebnisse stellen bislang nicht zufrieden
Die Ergebnisse der Reform fallen mit einigem zeitlichen Abstand allerdings weitaus weniger positiv aus als von den Initiatoren gewünscht. So schrieb die angesehene Tageszeitung „Der Standard“ im Juli 2022, dass die Gesundheitskasse im Wesentlichen gute Arbeit im Sinne der Patienten leiste. Zudem erkennt der Autor an, dass die zurückliegenden zweieinhalb Jahre pandemiebedingt nicht so planbar und absehbar gewesen seien wie gedacht.
Finanziell bleibe die Reform jedoch eine „Milliardenenttäuschung“: Versprochen worden seien „gigantische Verwaltungseinsparungen“ und „eine Patientenmilliarde“. Nur sei von dieser Milliarde bislang nichts zu sehen gewesen – der Rechnungshof habe sie seit der Reform 2019 nicht finden können. Im Gegenteil: Die Österreichische Gesundheitskasse sei inzwischen teurer, als es die einzelnen Kassen in Summe waren. Der Rechnungshof errechnete 2022 einen Mehraufwand von 214 Millionen Euro.
Immerhin, so „Der Standard“, könnten die versprochenen Einsparungen noch kommen. Eine gut aufgesetzte Reform sei eben nicht zum Nulltarif zu haben. Erst müsse massiv in die Systemumstellung investiert werden, dann gebe es eine Zeit lang Doppelgleisigkeiten – und erst wenn das neu aufgesetzte System fehlerfrei laufe, könnten Rationalisierungsgewinne erzielt werden. Das dauere eben.
Kein System ist perfekt
Milder fällt der Blick der London School of Economics-Experten auf die Reform aus. Alle Bemühungen um ein effektiveres Gesundheitssystem sollten im Falle Österreichs auf dem bis dahin Erreichten aufbauen. Dazu gehöre eine hohe Zufriedenheit der Bevölkerung aufgrund des einfachen Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen sowie die umfassende medizinische Versorgung. Im Übrigen kommen die LSE-Experten zu dem Schluss: Kein Gesundheitssystem ist perfekt. Das gilt auch für das deutsche Krankenversicherungssystem, wo die Diskussion um die Anzahl der Krankenkassen weiterhin immer wieder aufflammen dürfte.
Dieser Artikel ist ursprünglich am 6.9.2023 erschienen und wurde aktualisiert.
3 Kommentare
Reform falsch gedacht!
von Thomas Brongkoll am 06.09.2023 um 11:55 Uhr
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Krankenkassen-Reform in Deutschland
von Roland Mückschel am 06.09.2023 um 10:52 Uhr
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