Modellhafte Berechnung der notwendigen Apothekendichte

Wie viele Apotheken braucht Deutschland?

Tübingen - 06.11.2023, 17:50 Uhr

(Foto: Adobe Stock/sharafmaksumov)

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Ist die ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung hierzulande tatsächlich gefährdet, wie häufig behauptet wird? Um das seriös beurteilen zu können, muss zuerst „die Frage hinter dieser Frage“ beantwortet werden: Wie viele Apotheken bräuchten wir überhaupt für eine verlässliche Versorgung? Prof. Dr. Reinhard Herzog hat diese Frage in der aktuellen Ausgabe des AWA – Apotheke & Wirtschaft modellhaft beantwortet. Je nach Anspruch an die Versorgungsdichte kommt man auf deutlich geringere Zahlen als die aktuell 17.500 Apotheken, wobei die damit verbundenen Kosteneinsparungen bescheiden ausfallen würden. 

Grundlage für diesen Artikel ist die Gemeindegliederung des Statistischen Bundesamtes mit Stand Ende 2021, in welcher alle knapp 11.000 Gemeinden einzeln mit Bevölkerung und Flächenausdehnung aufgeführt sind. Ergänzend legen wir unsere Branchendaten für 2022 zugrunde.

Im Modell werden sämtliche Gemeinden einer Einwohnerklasse zugeordnet und jede Ortschaft dann einzeln je nach Modellvorgaben mit Apotheken, ggf. aufgerundet, „versorgt“ (in einem Excel-Programm). Die Durchschnittsumsätze in den einzelnen Einwohnerklassen werden berechnet, um Ungleichgewichte z. B. zwischen Stadt und Land sichtbar zu machen („Einwohner-Modell“). Tabelle 1 zeigt in guter Näherung den Ist-Stand.

Tab. 1: Apotheken-Verteilung 2022, Einwohner-Modell nahe Ist-Zustand

Der niedrigere Gesamtumsatz von 57 Milliarden Euro erklärt sich durch die hier nicht enthaltene Spezialversorgung (v. a. Parenteralia), denn wir betrachten nur den in der Fläche ankommenden, typischen Offizinumsatz. Von Stadt zu Land nehmen zudem die Pro-Kopf-Umsätze deutlich ab. In Ballungszentren rangieren sie über dem Durchschnittswert von rund 700 Euro netto, auf dem Land deutlich darunter. Ursächlich sind die Fachärzte mit hochpreisigen Verordnungen, die sich in den Städten konzentrieren. Es zeigt sich so bereits heute ein Gefälle der Umsätze (und abgeschwächt der Erträge) von Stadt zu Land.

Im Ist-Modell wurde die Grenze der Versorgung mit einer Apotheke bei 2.500 Einwohnern gezogen. Darunter weist das Modell keine Apotheke zu. In Gemeinden unterhalb jener 2.500 Einwohner leben etwa 5,7 Millionen Personen, mit einem angenommenen Apothekenumsatz von etwa 3,2 Milliarden Euro. Dieser Umsatz muss ja irgendwo getätigt werden, er wird deshalb gleichmäßig in die nächstgrößeren fünf Einwohnerklassen verteilt, also in umliegende, größere Gemeinden bis hin zu Kreisstadtebene. Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass das Modell im Großen und Ganzen den Ist-Zustand in 2022 abbilden dürfte.

Versorgungsdichte variieren

Doch was passiert, wenn wir an der „Schraube“ Versorgungsdichte drehen? Tabelle 2 gibt Aufschluss. Zum einen wird die Mindest-Gemeindegröße von 2.500 auf 4.000 Einwohner erhöht. Eine existenzfähige Apotheke ergibt sich daher für Ortschaften von 4.000 bis 7.500 Einwohnern, zwei Apotheken versorgen die Einwohnerklasse von 7.500 bis 12.500 Einwohnern, ab Kreisstadtebene über 25.000 Menschen wird wiederum eine Apotheken-Einwohner-Relation zugrunde gelegt, hier eine etwas höhere um 1 : 5000. Wir schneiden zudem die Einwohnergrenzen der kleineren Gemeinden etwas anders zu, hin zu etwas höheren Personenzahlen. Damit hätte eine Kleinstadt im Bereich von z. B. 12.500 bis 17.500 Bewohnern immer noch drei Apotheken. Die Einwohner der untersten Einwohnerklasse (9,3 Millionen!) werden wieder auf die fünf nächstgrößeren Klassen verteilt. Und das Ergebnis? Es wären nur noch rund 14.800 Betriebsstätten nötig!

 

Tab. 2: Apotheken-Verteilung, Zukunftsprojektionen nach Einwohner-Relation

Verschärfen wir den Kurs rein rechnerisch weiter. Wir erhöhen die Apotheken-Einwohner-Relation gezielt in den Städten kräftig auf 1 : 6.000 bis 1 : 7.500.

In dieser Variante würden tatsächlich nur noch etwa 12.300 Apotheken reichen. Ein breiter Versorgungsnotstand wird dabei immer noch nicht erkennbar.

Um Härtefälle abzufangen, könnte man jedoch eine zusätzliche Reserve von 500 bis 1.000 Apotheken an speziellen Standorten vorsehen, welche tatsächlich sonst in eine nicht mehr akzeptable Unterversorgung rutschen würden. Gegebenenfalls müssten diese gesondert gefördert werden.

Flächenbetrachtung

Neben der reinen Einwohnerrelation spielt jedoch auch die Flächenversorgung eine Rolle; diese wird in einem weiteren Modell betrachtet. Bezogen auf die Siedlungsfläche (und in der Klasse der kleinsten Gemeinden sogar die Gesamtfläche) werden quasi „Planquadrate“ gebildet. Dann wird der maximale Abstand zwischen zwei Apotheken, diese jeweils in der Mitte des Quadrates gelegen, definiert.

Für die Kunden markiert der halbe Maximalabstand typischerweise den weitesten Weg zur nächsten Apotheke, jedenfalls in Luftlinie. Die Ergebnisse für wiederum zwei Varianten, eine moderatere und eine verschärfte, zeigt Abbildung1.

Abb. 1: Modelle einer Apothekenlandschaft nach Flächenzuordnung  

In den größeren Städten werden 1,5 km als akzeptabler Apothekenabstand definiert (maximal 750 m Kundenentfernung zur nächsten Apotheke). Je kleiner die Gemeinde bzw. je ländlicher es wird, umso größer dürfen die Distanzen sein (Linien in Abbildung 1). In der dünnbesiedelten Fläche werden 10 km bzw. 12 km Apothekenabstand als noch akzeptabel angenommen. Wir sehen unter diesen Prämissen ganz ähnliche Apothekenzahlen: 14.800 versus 11.900, mit Durchschnittsumsätzen von dann gut 3,8 Millionen Euro bzw. sogar 4,8 Millionen Euro. Je nach Ansatz der Versorgungsdichte können hier auch Landapotheken auf hohe Umsätze kommen. Zur Abwendung lokaler Härten kann man ebenfalls 500 bis 1.000 Apotheken zusätzlich vorsehen.

Diskussion

Das sind bittere, aber nicht ganz unerwartete Erkenntnisse. Nur: Es sind Modellierungen. Heute regelt das „der Markt“. Apotheken siedeln sich dort an, beziehungsweise halten sich, wo eine wirtschaftliche Perspektive besteht. Entscheiden tun das Unternehmer vor Ort unter Kenntnis der lokalen Besonderheiten. Dies ist insoweit die wirksamste Feinsteuerung.

Die Rahmenbedingungen werden überwiegend durch die gesetzlichen Honorare gesetzt, ergänzt durch ein standortabhängiges Barverkaufs-Potenzial. Die Honorarhöhe bestimmt insoweit die Versorgungsdichte, mit einem beträchtlichen Verzögerungseffekt, da selbst unrentable Apotheken mangels beruflicher Alternativen und vieler vertraglicher Verpflichtungen nicht unmittelbar schließen. Damit sind wir wieder in der Vergütungsdiskussion.

Zukunft Bedarfsplanung?

Die Alternative wäre eine Bedarfsplanung und Niederlassungssteuerung. Beispiele gibt es in der Nachbarschaft, zum Beispiel in Österreich, wo ein Apothekenstandort eine gewisse Einwohnerzahl versorgen soll, und es zudem Abstandsregeln gibt. Mit den Parametern Einwohner, Abstand und versorgte Fläche, gegebenenfalls weiter aufgegliedert je nach Besiedelungsdichte, lässt sich im Grundsatz eine effektive Versorgungssteuerung unter Gewährleistung einer tragfähigen, wirtschaftlichen Basis realisieren.

Hierzulande steht dem die grundgesetzlich garantierte Niederlassungsfreiheit aus dem Jahre 1958 entgegen. Doch gelten die Erwägungen von 1958 heute immer noch? Wäre also ein Systemwechsel möglich und wünschenswert? Wie immer bei Systemwechseln, ist der Übergang das Problem. Heutigen Apotheken müsste man Bestandsschutz gewähren, wohl selbst für den Fall eines Verkaufs in jüngere Hände. Lediglich bei Neugründungen – die es mit weit weniger als 100 pro Jahr kaum noch gibt – könnten die Regeln greifen, beziehungsweise falls sich Versorgungslücken durch Schließungen auftun.

Ersparnis durch weniger Apotheken?

Doch welches Interesse bestünde an weniger Apotheken? Würde das System dadurch signifikant billiger? Sinkt die Zahl um zum Beispiel 20 Prozent, ändert sich am Gesamtabsatz und Gesamtumsatz (fast) nichts. Es teilt sich nur anders auf. Auf der operativen Kostenseite wegfallen würden ganz überwiegend die Raumkosten, zudem einige Fix- und Sachkosten. Ein Teil davon verlagert sich in die übrig bleibenden Apotheken – ob zum Beispiel Zugaben oder Verbrauchsmaterial. Bisweilen wird man als „Gewinner“ auch Kapazitäten (Raum, IT-Systeme u. a.) erweitern müssen.

Beim Personal wird in der heutigen Lage kaum Ersparnis zu realisieren sein, es wird von den übrigen Apotheken meist dankbar aufgesogen. So bleiben vielleicht um die 3 Prozent vom Umsatz der wegfallenden Apotheken oder nur wenig mehr als Ersparnis übrig. Die umliegenden Apotheken übernehmen den Ertrag, sparen sich aber ebenjene wegfallenden Kosten und können insoweit ihren Gewinn etwas steigern. Auf der einen Seite fallen Kosten und durchaus noch Gewinne der Altinhaber weg, die aber gleichzeitig die Einnahmen von anderen waren (z. B. für Vermieter, Berater, Büroartikel-Lieferanten oder Gemeinde/Staat via Gewerbe- und Einkommensteuer). Bei den Gewinner-Apotheken laufen Teile der Kosten und höhere Gewinne dafür wieder auf.

Solche Prozesse des Strukturwandels vollziehen sich langsam. Die Umsätze wegfallender Apotheken verteilen sich zudem oft auf mehrere Apotheken. Somit verschieben sich die Umsätze stetig, aber langsam, und mindern insoweit allenfalls den Honoraranpassungsbedarf. Direkte Kostenersparnisse für die Kostenträger sind jedenfalls unter solchen Bedingungen kaum zu erwarten. Ähnlich wie bei der Honorarverteilungs-Diskussion ist die modellhafte Theorie das eine, die Praxis das andere.

 

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Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, DAZ-Autor
redaktion@daz.online


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Neun Apotheken pro 100.000 Einwohner

3 Kommentare

Ökonomisiere Verlässlichkeit, vermenschliche Ordnungsgemäß!

von TiLaRo am 06.11.2023 um 22:55 Uhr

Wie oft haben wir nun das Nachsehen durch die Ökonomisierung vor Augen geführt bekommen. Dass wir immer noch nicht in der Lage sind eine Gesamtkostenrechnung auch nur ansatzweise zu betrachten ist wirklich ein unverzeihlicher Fehler...ich vermute als Ursache das Fehlen weiblicher Intelligenz in der Ökonomie. Nein...wir sollten die komplexe Gesamtbetrachtung in den Vordergrund stellen.
Was kosten uns die Fallpauschalen...bitte KH-Folgekosten einberechnen. Was kosten uns die Fest-/und Rabattverträge?
Was wird uns der Wegfall von ein paar Tausend billigen Apotheken kosten?
Völlig außer acht auch folgendes:
- Gibt es genügend Räumlichkeiten für "Superapotheken"? Wer investiert, wenn einzig der Friedhofseffekt sicher ist?
- Kostendruck zwingt zur Ökonomisierung...selbst bei den pharmazeutischen "Gutmenschen" wird der Kontakt irgendwann getaktet...dabei ist es meist (fast ausschließlich!) das kurze Gespräch, was zu erstaunlichen Wendungen hin zu einer Problemlösung führt. Das bröckelt gerade
- Was kostet uns/die Gesellschaft der Verlust des persönlichen Kontakts, wenn mich 20 statt 8 Mitarbeiter bedienen? Bitte alles einberechnen...bis hin zu einer Radikalisierung der Gesellschaft!?
- sie sagen an anderer Stelle, KI wird (30-60 Minuten-)PDL besser und effizienter machen...ich sage 5-10 Minuten lockeres Intensivgespräch löst deutlich mehr Probleme. Dazu bedarf es viel Sachverstand, aber auch möglichst wenig Druck durch abgehobene ökonomische Betrachter.

Es gibt kaum einen Niedriglohnbereich, der so ausbeuterisch eine qualitativ hochwertige Leistung (auf sehr vielschichtigen Ebenen...nicht nur der "ordnungsgemäßen,verlässlichen" Versorung) bietet. Ruhe wird bei uns schon aufgrund von Lieferengpässen und verfehlter Digitalisierung ohnehin nicht einkehren. Aber ohne eine finanzielle Stärkung dieser gesellschaftlich wichtigen Struktur, werden die Folgekosten immens.

Ja, ich habe verstanden Herr Herzog. Weniger Apotheken ist möglich...müsste eventuell durch eine Bedarfsplanung geregelt werden...rechtlich schwierig und es würde nicht viel Geld sparen...OK.
Die Frage ist doch, wollen wir Apotheken mit der momentan bröckelnden Expertise oder nicht?!
Wenn ja, dann braucht es schlagartig deutlich mehr Geld...basta.

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Mobilität älterer Menschen

von Martina C am 06.11.2023 um 22:41 Uhr

Diese Betrachtung ist völliger Unsinn. Wir haben eine überalterte Gesellschaft. Die Mobiltät nimmt im Alter drastisch ab. Viele Menschen können kein Auto mehr fahren. 12 km werden dann unüberwindbar.

» Auf diesen Kommentar antworten | 0 Antworten

Gleiche Lebensbedingungen Stadt-Land

von Roland Mückschel am 06.11.2023 um 19:45 Uhr

Wieviel Apotheken braucht es in der Stadt? Viel
Wieviel Apotheken braucht es auf dem Land? Keine

Das ist genau genommen ihre Analyse Herr Herzog.

Oder glauben Sie wir hätten auf dem Land Siebenmeilenstiefen für die 12 Km.

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