Aktueller Cochrane-Review

Insulin ist weniger temperaturempfindlich als angenommen

Freiburg - 09.11.2023, 10:45 Uhr

Insuline sind bis zum Anbruch bei Temperaturen von 2 bis 8 °C aufzubewahren. Was, wenn diese Bedingungen nicht eingehalten werden können? (Foto: Tamer/AdobeStock)

Insuline sind bis zum Anbruch bei Temperaturen von 2 bis 8 °C aufzubewahren. Was, wenn diese Bedingungen nicht eingehalten werden können? (Foto: Tamer/AdobeStock)


Bekannt ist: Insuline sind im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C zu lagern und sollten nach erstmaligem Gebrauch nicht bei Temperaturen über 30 °C aufbewahrt werden. Neu hingegen ist die Erkenntnis aus einem aktuellen Cochrane-Review. Demnach kann Insulin monatelang bei Raumtemperatur aufbewahrt werden, ohne an Wirksamkeit zu verlieren.

Cochrane-Autorinnen und -Autoren untersuchten die Stabilität und Aktivität von Insulin bei unterschiedlichen Lagerbedingungen. Dazu werteten sie insgesamt 17 Studien (22 Publikationen) sowie zusätzliche Informationen von pharmazeutischen Herstellern aus.

In einer Pilotstudie wurde die Wirksamkeit von Insulin untersucht, das sechs Wochen lang in einem unglasierten Tonkrug bei Temperaturen zwischen 25 °C und 27 °C gelagert wurde. Bei acht gesunden Probanden war nach der Injektion von im Tonkrug gelagertem Insulin die durchschnittliche Senkung des Blutzuckerspiegels ähnlich wie mit der Injektion von im Kühlschrank gelagertem Insulin (sehr niedrige Vertrauenswürdigkeit der Evidenz).

Was steckt hinter der Lagerung im Tonkrug?

In Regionen, in denen es keine strombetriebene Kühlmöglichkeit gibt, könnte man bei der Aufbewahrung von temperaturempfindlichen Arzneimitteln das Prinzip der Verdunstungskühlung nutzen: ein kleinerer Tonkrug wird in einem größeren platziert, der Zwischenraum mit nassem Sand gefüllt und das Gefäß mit einem feuchten Tuch oder Deckel verschlossen. Aufgrund der Porosität von gebranntem Ton kann das Wasser durch den Tonkrug diffundieren und an der Außenseite verdunsten. Dadurch wird dem Inneren Energie entzogen und die Temperatur gesenkt.

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Zu folgenden Ergebnissen gelangten die Autorinnen und Autoren durch Auswertung von In-vitro-Studien:

  • Drei Studien mit vorgefüllten Insulin-Spritzen, die die Insulin-Aktivität bei Temperaturen von 4 °C bis 23 °C für bis zu 28 Tage untersuchten, zeigten keinen klinisch relevanten Verlust der Insulin-Aktivität.
  • Neun Studien untersuchten ungeöffnete Ampullen und Patronen. In den Studien, die Lagerbedingungen zwischen 28,9 °C und 37 °C für bis zu vier Monate untersuchten, wurde für humanes kurz und mittellang wirkendes Insulin (short-acting human insulin [SAI], intermediate-acting insulin [IAI]) sowie Misch­insulin (MI) kein klinisch relevanter Verlust der Insulin-Aktivität festgestellt. Nur zwei Studien mit Lager­bedingungen von 37 °C berichteten über einen bis zu 18%igen Verlust der Insulin-Aktivität über den untersuchten Zeitraum von einer Woche bis 28 Tage.
  • In vier Studien wurden geöffnete Ampullen und Patronen bei Temperaturen von bis zu 37 °C für bis zu zwölf Wochen untersucht und kein klinisch relevanter Rückgang der Insulin-Aktivität beobachtet. In zwei Studien wurden Lagerbedingungen bei schwankenden Temperaturen von 25 °C bis 37 °C für bis zu zwölf Wochen analysiert. Dabei wurde kein Verlust der Aktivität für humanes, kurz und mittellang wirkendes Insulin sowie Mischinsulin festgestellt.
  • Insgesamt vier Studien, zwei mit Ampullen (eine davon mit geöffneten Ampullen) und zwei mit vor­gefüllten Spritzen, untersuchten die Sterilität und stellten keine mikro­bielle Kontamination fest.

Daten von pharmazeutischen Herstellern

Vier Hersteller (Bioton, Eli Lilly and Company, Novo Nordisk, Sanofi) stellten bisher unveröffentlichte Daten zur Thermostabilität von Humaninsulin zur Verfügung, hauptsächlich für ungeöffnete Ampullen und Patronen. 
Die von Sanofi bereitgestellten Daten konnten nicht einbezogen werden, da das Unternehmen den Stopp der Herstellung von Insuman® Rapid, Basal und Comb 25 angekündigt hatte.
Bioton lieferte Daten zu kurz wirkendem Insulin nach einem, drei und sechs Monaten bei einer Lagerung bei 25 °C: Alle untersuchten Parameter lagen innerhalb der Referenzwerte, und im Vergleich zum Ausgangswert betrug der Verlust der Insulin-Aktivität jeweils 1,1 %, 1,0 % und 1,7 %.
Eli Lilly and Company stellte zusammengefasste Daten zur Verfügung: Bei Temperaturen unter 25 °C oder 30 °C konnten kurz und mittellang wirkende Insuline sowie Mischinsuline vor der Verwendung für bis zu 25 Tage bzw. zwölf Tage gelagert werden, danach war eine Verwendung nach Anbruch durch den Patienten für bis zu 28 Tage möglich.
Novo Nordisk lieferte umfangreiche Daten: Im Vergleich zum Ausgangswert betrug der Verlust der Aktivität von kurz wirkendem Insulin nach drei und sechs Monaten bei 25 °C 1,8 % bzw. 3,2 % bis 3,5 %. Der Verlust der Aktivität von mittellang wirkendem Insulin betrug 1,2 % bis 1,9 % bzw. 2,0 % bis 2,3 %. Im Vergleich zur Ausgangssituation betrug der Verlust der Aktivität von kurz wirkendem Insulin nach ein, zwei und drei Monaten bei 37 °C 2,2 % bis 2,8 %, 5,7 % und 8,3 % bis 8,6 %. Der Verlust der Aktivität von mittellang wirkendem Insulin betrug 1,4 % bis 1,8 %, 3,0 % bis 3,8 % und 4,7 % bis 5,3 %. Es wurde keine relevante Zunahme von Insulin-Abbauprodukten festgestellt. Bei Temperaturen von bis zu sechs Monaten bei 25 °C und bis zu zwei Monaten bei 37 °C entsprachen die Präparate in Bezug auf Proteine mit hohem Molekulargewicht den Spezifikationen. Das Aussehen, sichtbare Partikel oder Makroskopie, Partikelgehalt, pH-Wert, die Zink-, Metacresol- und Phenol-Gehalte entsprachen den Spezifikationen. 
Es liegen keine Daten für besonders niedrige Umgebungstemperaturen und Insulin-Pumpen vor.

Dr. rer. nat. Birgit Schindler
Fachapothekerin
für Arzneimittelinformation,
Cochrane Deutschland Stiftung

Ein Gastkommentar

Insulin steht seit 1977 auf der Liste der unverzichtbaren Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ein aktuell neu veröffentlichter Cochrane-Review untersuchte, ob es möglich ist, Humaninsulin über den vom Hersteller empfohlenen Temperaturen zu lagern, und ob man geöffnete Insulin-Ampullen, -Pens und -Patronen länger verwenden kann als empfohlen. 
Weltweit leben Millionen von Menschen mit Diabetes mellitus in Gegenden, in denen es keinen oder nur unzureichenden Zugang zu Gesundheitseinrichtungen oder Kühlmöglichkeiten gibt. So sind in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen für viele Menschen Strom und Kühlmöglich­keiten Luxusgüter. An Orten, die von Katastrophen, extremen Hitzeperioden aufgrund der Klima­krise oder Kriegen betroffen sind, wird die Versorgung noch komplizierter. 
Ein Team von Cochrane-Autorinnen und -Autoren unter der Leitung von Bernd Richter vom Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf fand bei den Recherchen nur eine kleine klinische Studie, aber mehrere Laborstudien. Dass nur eine kleine klinische Studie gefunden wurde, erklären die Autorinnen und Autoren damit, dass es wahrscheinlich schwierig ist, Menschen zu finden, die bereit sind, nicht vorschriftsmäßig gelagertes Insulin zu verwenden. 
In der klinischen Pilotstudie wurde Insulin untersucht, das sechs Wochen lang in einem Kühlschrank oder in einem unglasierten Tontopf gelagert wurde, dessen Kühlfunktion auf dem Verdunstungsprinzip basiert und der die Temperatur auf 25 bis 27 °C senkte. Sie umfasste acht gesunde Freiwillige. Bei diesen Probanden zeigte das im Tontopf gelagerte Insulin eine ähnlich blutzuckersenkende Wirkung wie das Insulin aus dem Kühlschrank. 
Unveröffentlichte Daten zu Temperatur und Lagerbedingungen von drei pharmazeutischen Herstellern (Bioton, Eli Lilly und Novo Nordisk) legen nur geringe Wirkungsverluste nahe, die als klinisch nicht relevant eingeschätzt werden, wenn ungeöffnete Ampullen oder Patronen mit kurz wirkendem und mittellang wirkendem Humaninsulinen bei bis zu 25 °C für bis zu sechs Monate oder zwei Monate lang bei bis zu 37 °C gelagert wurden. Die Cochrane-Autorinnen und -Autoren fordern daher, dass die Hersteller von Humaninsulin den Zulassungsbehörden Daten zur Wärmestabilität zur Verfügung stellen, um die Empfehlungen zur Lagerung von Human­insulin zu aktualisieren. 
Auch eine bis zu dreimonatige Lagerung bei Temperaturen, die den Tages- und Nachtschwankungen in tropischen Ländern ähneln, führte nicht zu einem klinisch relevanten Verlust der Wirkung von kurz und mittellang wirkenden Insulinen sowie Mischinsulinen, wie Daten aus einer Studie zeigen. 

Nach bestem Wissen lässt sich also derzeit sagen:

  • Ungeöffnete Insulin-Ampullen und -Patronen verlieren vermutlich kaum an Wirksamkeit, wenn sie über mehrere Monate bei hohen Temperaturen gelagert werden (bei Temperaturen von bis zu 25 °C maximal sechs Monate lang und bei Temperaturen von bis zu 37 °C maximal zwei Monate lang).
  • Fehlt eine strombetriebene Kühlmöglichkeit, gibt es einfache Alternativen, ohne die Stabilität des Wirkstoffs zu gefährden, z. B. indem man das Insulin in mit Wasser oder nassem Sand gefüllten und so gekühlten Tontöpfen aufbewahrt (Daten aus einer klinischen Pilotstudie über den Zeitraum von sechs Wochen).

Cochrane Deutschland Stiftung


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