Umweltstandards in AOK-Rabattverträgen

Pilotprojekt zeigt: Viele Antibiotika-Hersteller befeuern Resistenzen

Berlin - 10.11.2023, 16:40 Uhr

Die AOKen gehen bei Antibiotika-Rabattverträgen neue Wege: Forscher nehmen an indischen Produktionsstätten Wasserproben, um die Umweltbelastung zu prüfen. (Quelle: IWW Rheinisch-Westfälisches Institut für Wasserforschung)

Die AOKen gehen bei Antibiotika-Rabattverträgen neue Wege: Forscher nehmen an indischen Produktionsstätten Wasserproben, um die Umweltbelastung zu prüfen. (Quelle: IWW Rheinisch-Westfälisches Institut für Wasserforschung)


Im Rahmen von Antibiotika-Ausschreibungen lässt die AOK seit zwei Jahren kontrollieren, welche Wirkstoffmengen sich in den Abwässern und der Umwelt finden. Herstellern, die sauber arbeiten, steht ein Bonus zu. Aus dem Projekt entstand eine Pilotstudie, die die AOK Baden-Württemberg am heutigen Freitag vorstellte. Die Autoren der Studie fordern politisches Handeln auf EU-Ebene, um Antibiotikaresistenzen und Engpässen vorzubeugen.

Die Arzneimittelherstellung: Patienten müssen sich heute Sorgen machen, dass sie nicht ausreicht, und Antibiotika nicht lieferbar sind. Ein anderes Problem gerät dabei häufig aus dem Fokus: Gelangen bei der Herstellung Antibiotika in die Umwelt, befeuern sie Antibiotikaresistenzen. Im schlimmsten Fall ist dann ein Antibiotikum unwirksam, auch wenn es lieferbar ist. Selbst dann, wenn sich ein Großteil der Herstellung auf der anderen Seite der Welt abspielt.

„Es gibt Studien, die zeigen, dass über 70 Prozent der Asienreisenden Resistenzen während ihrer Reise entwickeln“, sagte Dr. Tim aus der Beek am 10. November in Berlin bei einer Pressekonferenz, zu der die AOK Baden-Württemberg geladen hatte. „Ich denke jetzt mal nicht darüber nach, wie oft ich in Asien war.“

Aus der Beek arbeitet beim IWW Rheinisch-Westfälischen Institut für Wasserforschung und war in den letzten zwei Jahren ständig in Asien, und zwar im Auftrag der AOK-Gemeinschaft. Denn diese verankerte 2020 unter der Federführung der AOK Baden-Württemberg den Umweltschutz optional in Rabattverträgen, unter anderem bei sechs antibiotischen Wirkstoffen. Im Rahmen der Verträge sollen Hersteller einen Bonus erhalten, wenn sie bei der Produktion keine problematischen Mengen Antibiotika in der Umwelt hinterlassen.

Tim aus der Beek und sein Team am IWW Rheinisch-Westfälischen Institut für Wasserforschung kontrollierten Gewässer vor Ort. Zehn Produktionsstätten überprüften sie, acht davon hatten ihren Sitz in Indien und je eine in Italien und Spanien. Das Wasserforschungsinstitut wertete Satellitenbilder aus, prüfte die Wasseraufbereitung, Abflussrohre und Regenüberläufe. Sie nahmen Proben an verdächtigen Orten und in nahegelegenen Seen und Bächen.

Überschritten die Konzentrationen der Wirkstoffe die maximalen Grenzwerte, bei denen keine Auswirkungen auf die Umwelt zu erwarten sind, sanken die Chancen der Hersteller für den Bonus der AOK. Die Grenzwerte hatte zuvor das Umweltbundesamt berechnet.

Schwellenwerte um ein Vielfaches überschritten

Erste Ergebnisse veröffentlichte aus der Beek jetzt gemeinsam mit der AOK Baden-Württemberg und dem Umweltbundesamt. „Etwas mehr als die Hälfte [der Produzenten] schafft es nicht, die Grenzwerte einzuhalten“, berichtete er.

Teilweise waren die Überschreitungen deutlich, etwa beim Wirkstoff Ciprofloxacin. Die ermittelten rund 10 µg pro Liter überschritten den Schwellenwert um 11.000 Prozent. „Das sind riesige Konzentrationen, die man fast schon in Tablettenform fassen kann.“ Derart hohe Werte habe aus der Beek auch in den vielen Jahren, die er auf dem Gebiet arbeitet, noch nie gemessen.

„Man kann davon ausgehen, dass mehr Antibiotikaresistenzen entstehen, wenn der Wert überschritten wird.“ Das Problem liege nicht allein in Indien, sagte Tim aus der Beek. Auch in der nahegelegenen Kläranlage eines europäischen Herstellers fanden sie neun verschiedene antibiotische Wirkstoffe.

Immerhin waren die Abwasserkonzentrationen bei der zweiten Messung bei zwei Produktionsstätten deutlich gesunken. Ein Hersteller hatte seine Abwasseraufbereitung erneuert.

Kürzere Lieferketten bevorzugt? Vier Hersteller klagten

Als die AOK 2020 erstmals die gesonderten Kriterien ausschrieb, sollte zudem auch eine kürzere Lieferkette belohnt werden. Doch vier pharmazeutische Unternehmen klagten gegen diese Praxis. Denn nach dem derzeitigen EU-Vergaberecht müssen öffentliche Auftraggeber wie Krankenkassen Angebote nach festgelegten Kriterien bewerten.

Zum größten Teil entscheiden technische Merkmale und der Preis. Das Oberlandesgericht Düsseldorf gab der Klage der Hersteller zum Teil statt. Die kürzere Lieferkette durfte nach EU-Recht nicht belohnt werden, die Umweltkriterien aber schon.

AOK fordert Reform der Vergabepraxis 

Gericht stoppt AOK-Antibiotika-Ausschreibung 

Trotz der Klage sagte Bork Bretthauer, Hauptgeschäftsführer von Pro Generika, im letzten Jahr gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt: „Wir als Verband der Generikaunternehmen in Deutschland finden es richtig, dass die AOK erstmals von ihrer Praxis abweicht, bei Ausschreibungen nur den günstigsten Preis als einziges Zuschlagskriterium anzusetzen“. Arzneimittelausschreibungen seien rechtlich komplex und in der Branche sei es übliche Praxis, rechtlich gegen Umgestaltungen vorzugehen.

Änderungen im Arzneimittel- und Vergaberecht gefordert

Bei der Pressekonferenz in Berlin forderte daher Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, politisches Handeln – vor allem auf Europaebene. Könnten Krankenkassen bei Arzneimittelverträgen andere Kriterien als den Preis stärker berücksichtigen, könnte das auch Engpässen vorbeugen. „Wir brauchen die Möglichkeit als öffentlicher Auftraggeber, das Thema Versorgungssicherheit im Vergaberecht auch wirksam umzusetzen.“

Zudem forderte Bauernfeind verbindliche Umweltkriterien im EU-Arzneimittelrecht und einheitliche Kontrollsysteme für die laufende Produktion. „Wir werden uns auch dafür einsetzen, dass auf der europäischen Ebene Umweltkriterien in die Arzneimittelproduktion, aber auch in die gesamte Versorgungskette von Arzneimitteln Eingang findet“, sagte der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg. Die EU sei ein viel größerer Markt für die weltweite Produktion. „Wir hätten dort einen Hebel, um zu Veränderungen auf der ganzen Welt zu kommen.“

Vorschlag für die Überarbeitung des EU-Arzneimittelrechts

Rezeptpflicht – eine Waffe im Kampf gegen Resistenzen und für die Umwelt?

Das Pilotprojekt der AOK ist für den globalen Arzneimittelmarkt nicht repräsentativ. „Wir haben vielleicht nur die Spitze des Eisbergs gesehen“, sagte Bauernfeind. Aber immerhin scheint es bei einzelnen Herstellern ein Umdenken bewirkt zu haben. Etwa aus ökonomischen Gründen, wie er sagte: „Ich glaube, dass dem ein oder anderen Produzenten nicht so richtig bewusst war, dass das Einleiten von Abwässern in die Umwelt dazu führt, dass er mittelfristig das Produkt nicht mehr verkaufen kann, weil es nicht mehr wirkt.“ Im Sommer führte die AOK-Gemeinschaft das Projekt bei 21 Produktionsstätten fort, diesmal auch mit Herstellern in China.


Apotheker Marius Penzel
redaktion@daz.online


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